Année politique Suisse 2002 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Berufliche Vorsorge
Mit der in Expertenkreisen nicht ganz unerwarteten, aber – da weder mit der Eidg. BVG-Kommission noch mit den Sozialpartnern abgesprochen – doch als überstürzt empfundenen Ankündigung, wegen der anhaltend schlechten Börsenlage den
Mindestzinssatz auf den BVG-Guthaben noch im laufenden Jahr von 4% auf voraussichtlich 3%
senken zu wollen, entfachte der Bundesrat am 3. Juli einen Sturm der Entrüstung. Die Empörung wurde noch heftiger als bekannt wurde, dass der Entscheid nach einer direkten Intervention der Rentenanstalt bei den Bundesräten Villiger und Metzler erfolgt war, während das für die autonomen Pensionskassen zuständige EDI dafür plädiert hatte, einen allfälligen Entscheid erst vorzunehmen, wenn die vom BSV in Erhebung begriffenen Zahlen und Daten über die Vermögens-, Ertrags- und Reservenlage aller Pensionskassen und Sammelstiftungen bekannt und die Experten der Eidg. BVG-Kommission konsultiert seien. Im Parlament verlangten die SGK beider Kammern und die WAK des Nationalrates vom Bundesrat die Bereitstellung der für einen Entscheid unerlässlichen Grundlagen sowie die Konsultation der BVG-Kommission und des Parlaments. Die Fraktionen der SP und der GP forderten die umgehende Einberufung einer Sondersession. Ende August fand auf dem Bundesplatz in Bern eine von den Gewerkschaften organisierte Kundgebung statt, an der über 12 000 Teilnehmende gegen den
„Rentenklau“ protestierten. Der Vorwurf des Rentenraubs wurde dadurch bestärkt, dass sich die grossen Sammelstiftungen (insbesondere die Allfinanzfirmen) beharrlich weigerten offen zu legen, wohin die grossen Börsengewinne der späten 80er und der ersten Hälfte der 90-er Jahre geflossen sind oder die Informationen nur tröpfchenweise lieferten. Zudem wurde kritisiert, dass es der Bundesrat in all den Boomjahren nie für nötig erachtet habe, den Mindestzinssatz zu erhöhen, dass er nun aber, nach zwei mageren Börsenjahren schon bereit sei, rasch und massiv zugunsten der Privatversicherer einzugreifen
[21].
Im
Ständerat, der als erster im Rahmen der ordentlichen Herbstsession die verlangte BVG-Sondersession abhielt, erklärte SGK-Präsident Frick (cvp, SZ), es gehe nun darum, Klarheit zu schaffen und das erschütterte Vertrauen in die 2. Säule wieder herzustellen. Die Antworten des Bundesrates auf vier parlamentarische Vorstösse (darunter drei aus der SGK) wurden als teilweise befriedigend erachtet. Kritisiert wurde aber, dass der Bundesrat mit seinem Vorgehen eine tiefe
Vertrauenskrise ausgelöst und seine Oberaufsicht zu wenig wahrgenommen habe. Mehrheitlich Einigkeit herrschte im Rat darüber, dass es keine Alternative zu der vom Bundesrat vorgeschlagenen Zinssatzsenkung gebe, da die Pensionskassen nicht längerfristig mehr Zinsen ausschütten könnten, als auf dem Markt zu erzielen seien. Einzig die beiden SP-Abgeordneten Brunner (GE) und Studer (NE) setzen sich für die Beibehaltung des bisherigen Mindestzinses ein. Die kleine Kammer überwies eine Empfehlung betreffend der Festlegung des Mindestzinses sowie ein Postulat zur Finanzmarktaufsicht
[22].
Der
Nationalrat, der die Sondersession ebenfalls in die reguläre Herbstsession einbaute, ging mit der Regierung strenger ins Gericht als die kleine Kammer. Während rund sechs Stunden wurde über das überstürzte Handeln des Bundesrates, die Grundlagen dafür und die daraus zu ziehenden Konsequenzen diskutiert. Kritisiert wurden insbesondere die diffusen Zuständigkeiten zwischen dem im EJPD angesiedelten Bundesamt für Privatversicherungen (BPV), das wegen seiner Aufsicht über die Lebensversicherer, welche im Bereich der beruflichen Vorsorge tätig sind, besonders in die Schusslinie geriet, und dem BSV im EDI, dem attestiert wurde, seine Aufsicht im Bereich der Sammelstiftungen insgesamt korrekt ausgeübt zu haben. Angesichts der andauernden Börsenbaisse wurde die Senkung des BVG-Mindestzinssatzes von der bürgerlichen Ratsmehrheit begrüsst. Die SP und die Grünen wollten sich einer Senkung zumindest so lange widersetzen, als nicht alle bei den Lebensversichern vorhandenen Vermögenswerte der Kollektivversicherten detailliert offen gelegt sind und klar ist, wohin die 18 Mia Fr. Gewinne geflossen sind, welche die Privatversicherer nach eigenen Angaben in den 90-er Jahren ausgeschüttet haben. In den 40 Vorstössen, die der Rat behandelte, wurden ein geregeltes Verfahren für die Festlegung des Mindestzinssatzes, die Verselbständigung der Sammelstiftungen innerhalb der Versicherungsgesellschaften, Verbesserungen bei der Aufsicht und der
Oberaufsicht und vor allem
vorbehaltlose Transparenz über Reserven, Renditen und Verwaltungskosten der Lebensversicherer verlangt. Der Ständerat wurde aufgefordert, die vom Nationalrat im Rahmen der 1. BVG-Revision bereits beschlossenen neuen Transparenzbestimmungen aus der Vorlage zu lösen, damit sie vorzeitig in Kraft gesetzt werden können. Diesem Ansinnen widersetzte sich allerdings die Kommission des Ständerates, die lieber auf einen raschen Abschluss der 1. BVG-Revision setzen wollte. In der Wintersession nahm der Ständerat vier der in der Sondersession verabschiedete Motionen der SGK ebenfalls an und überwies zudem ein Postulat seiner SGK für die Gleichbehandlung von Teilliquidation und Freizügigkeit
[23].
Ende Oktober gab der Bundesrat seinen definitiven Entscheid bezüglich des Mindestzinssatzes bekannt. Angesichts der unsicheren Zinsentwicklung und der Lage auf den Anlagemärkten wurde der
Mindestzinssatz auf den 1. Januar 2003 auf 3,25% gesenkt und gleichzeitig
flexibilisiert. Der Bundesrat beschloss einen Mechanismus, der mindestens alle zwei Jahre eine Überprüfung und Anpassung erlaubt, wobei die Rendite der Bundesobligationen, die Ertragsmöglichkeiten weiterer marktgängiger Anlagen und die finanzielle Lage der Vorsorgeeinrichtungen zu berücksichtigen sind. Ausdrücklich festgehalten wurde ferner, dass der Bundesrat jeweils auch die BVG-Kommission anhört. Die erste Überprüfung wird 2003 vorgenommen
[24].
Mit einer als Postulat überwiesenen Motion ersuchte Nationalrat Wandfluh (svp, BE) den Bundesrat, eine der Säule 3a analoge Sparmöglichkeit für die Finanzierung einer
vorzeitigen Pensionierung zu schaffen. Der Ständerat nahm ein Postulat Saudan (fdp, GE) an, das auf die Risiken aufmerksam machte, welche die vorgesehene Unterstellung der Pensionskassen unter die Stempelsteuer nach sich ziehen könnte
[25].
Nach intensiven und sorgfältigen Vorarbeiten, welche die zuständige Kommission (SGK) und vor allem deren Subkommission unter der Führung von Nationalrätin Egerszegi (fdp, AG) in Zusammenarbeit mit der Verwaltung geleistet hatte, befasste sich der Nationalrat in der Sondersession im April an zwei Sitzungstagen mit der 1. BVG-Revision. Während sich der Bundesrat aufgrund der Resultate der Vernehmlassung im wesentlichen auf eine Systemkonsolidierung und die Anpassung an die veränderten demografischen Gegebenheiten beschränkt hatte, fügte der Nationalrat wesentliche weitergehende Elemente ein. Ausgehend von der Feststellung, dass heute Eintrittsschwelle und Koordinationsabzug (beide 24 720 Fr) rund ein Drittel aller Erwerbstätigen (Personen mit geringen Einkommen, Teilzeitarbeitende) von der obligatorischen beruflichen Vorsorge ausschliesst, schlug die Kommission eine Absenkung der Eintrittsschwelle auf 12 360 Fr. vor, verbunden mit einem lohnprozentualen Koordinationsabzug. Egerzegi argumentierte, man könne nicht einerseits in der AHV die Witwenrenten kürzen, ohne den arbeitenden Frauen im Gegenzug die Möglichkeit zu geben, sich eine zweite Säule aufzubauen. Sie verwies auch auf einen Bericht der OECD, der das Schweizer Drei-Säulen-Modell zwar gelobt, aber auch feststellt hatte, dass im Bereich der kleinen und mittleren Einkommen und bei den Teilzeitarbeitenden – zumeist Frauen – ein Engpass besteht. Eine von Gewerbeverbandsdirektor Triponez (fdp, BE) angeführte Minderheit, die vor allem die Unterstützung der SVP fand, wollte überhaupt keine Öffnung, da diese die Wirtschaft, insbesondere die KMU, in unzulässigem Ausmass belaste, scheiterte aber deutlich, ebenso wie eine Minderheit aus der SP-Fraktion, die eine Senkung der Eintrittsschwelle auf 6180 Fr. verlangte. Gegen die Kommissionsmehrheit setzte sich schliesslich mit 90 zu 81 Stimmen ein Antrag Suter (fdp, BE) durch, die Eintrittsschwelle auf 18 540 Fr. zu senken, ebenfalls kombiniert mit einem lohnprozentualen Koordinationsabzug sowie mit dem Einbezug der bei mehreren Arbeitgebern erzielten Einkommen. Suter begründete seinen Antrag damit, Personen mit Einkommen von wenig mehr als 1000 Fr. pro Monat hätten während ihrer Erwerbstätigkeit kein Interesse an Pensionskassenabzügen; zudem würde ihr Einbezug dazu führen, dass ihr Ersatzeinkommen zusammen mit der AHV höher ausfallen könnte als ihr letztes versichertes Gehalt. Mit der Lösung Suter würden Arbeitnehmer und Arbeitgeber mit zusätzlichen 600 Mio Fr. belastet; der Antrag der Mehrheit hätte sie 865 Mio Fr. gekostet.
Infolge dieser Beschlüsse waren die Differenzen über die Höhe des Umwandlungssatzes, einer der ursprünglichen Hauptstreitpunkte, praktisch ausgeräumt. Weil der Koordinationsabzug generell gesenkt und flexibel ausgestaltet werden soll, müssen die Renten aufgrund der höheren Lebenserwartung weniger stark gesenkt werden. Der Rat beschloss einen Umwandlungssatz von heute 7,2 auf 6,8%. Widrig (cvp, SG) beantragte vorerst, dem ursprünglichen Vorschlag des Bundesrates zu folgen und den Satz auf 6,65% zu senken, zog seinen Antrag aber im Lauf der Diskussionen zurück. Durchsetzen konnte sich hingegen ein vom rechtsbürgerlichen Lager unterstützter Minderheitsantrag Meyer (cvp, FR), die Absenkung innerhalb eines Zeitraums von zehn Jahren nach Inkrafttreten des Gesetzes vorzunehmen. Die Kommission hatte sich für 15 Jahre ausgesprochen, Rechsteiner (sp, BS) sogar für 20 Jahre plädiert, da seiner Auffassung nach die Längerlebigkeitsreserven der Pensionskassen und Sammelstiftungen zu einem für die Übergangsgeneration sozialverträglicheren Tempo reichen würden. Im Namen des Bundesrates setzte sich Bundesrätin Dreifuss ebenfalls für zehn Jahre ein, damit möglichst rasch wieder für alle Versicherten der gleiche Umwandlungssatz gilt. Durch die Senkung des Koordinationsabzugs konnte auf höhere Altersgutschriften als Ausgleich für die Rentenkürzungen verzichtet werden, womit eine Verteuerung der Arbeit der älteren Erwerbstätigen abgewendet wurde.
Viel zu reden gab die mangelnde
Transparenz, die vor allem bei den Gewinnen herrscht, welche die Sammelstiftungen (Banken und Versicherungen), bei denen rund die Hälfte aller Erwerbstätigen versichert sind, in den Jahren des Börsenbooms erzielt haben. Egerszegi (fdp, AG) wies darauf hin, dass die Kommission auf Fragen nach den Verwaltungskosten, nach der Berechnung von Überschussbeteiligungen und der Rendite der angelegten Gelder keine befriedigende Auskunft erhalten habe, auch nicht vom BPV, welche seine Pflichten in diesem Bereich vernachlässigt habe. Aus diesen Gründen fügte der Nationalrat Bestimmungen in die Vorlage ein, welche die Sammelstiftungen in Zukunft zu mehr Trasparenz verpflichten. Auch gegen Missbräuche bei den Einkäufen in Pensionskassen ging der Rat vor. Um zu verhindern, dass Topmanager steuerprivilegierte Pensionszahlungen in Millionenhöhe erhalten, wurde die Obergrenze für BVG-versicherbare Einkommen auf 741 600 Fr. festgelegt. Der Bundesrat hatte eine Obergrenze von 370 000 Fr. vorgeschlagen, fand damit aber nur die Unterstützung der SP und der Grünen. Die 1. BVG-Revision wurde in der Gesamtabstimmung mit 129 zu 11 Stimmen gutgeheissen
[26].
In der Wintersession
verwarf der
Ständerat im Eilzugstempo – die gesamte Beratung der sehr komplexen Vorlage dauerte nur gerade zwei Stunden – die
Beschlüsse des Nationalrates grösstenteils. Bei der Eintrittsschwelle und dem versicherten Lohn entschied er mit 30 zu 8 Stimmen, beim geltenden Recht zu bleiben. Vergeblich appellierte Bundesrätin Dreifuss an die kleine Kammer, der Lösung des Nationalrates, die sie als „genial“ bezeichnete, zu folgen. Somit blieb die berufliche Vorsorge den kleinen Einkommen bis 25 320 Fr. (Stand 2003) vorerst verschlossen. Hauptargument war, die Öffnung bringe den kleineren Einkommen kaum etwas, belaste die Wirtschaft aber schwer. Auch auf das Zusammenrechnen mehrerer Löhne aus verschiedenen parallelen Arbeitsverhältnissen wurde verzichtet. Mit der vom Nationalrat vorgenommenen Absenkung des Umwandlungssatzes auf 6,8% war der Ständerat einverstanden, doch folgte er bei der Staffelung der Altersgutschriften dem Bundesrat. Als Resultat des Wirbels um die Senkung des Mindestzinssatzes (siehe oben) beschloss er, wesentlich detaillierter vorzuschreiben, wie der Bundesrat bei der Festlegung des Mindestzinssatzes vorzugehen hat. Zudem vertiefte und präzisierte er die Transparenzbestimmungen des Nationalrates
[27].
[21]
NZZ, 8.1., 22.1., 28.1. (Arbeitgeberverband), 19.3. (Arbeitnehmerverbände), 26.3. und 13.6. (Studie), 29.7. (BR Couchepin);
BaZ, 15.1. und 1.3.02 (Privatversicherer);
LT, 17.1., 7.2., 13.5. und 20.8.02 (Interview Dreifuss); Presse vom 23.1. (BVG-Kommission), 28.2. (Umfrage unter den Pensionskassen), 4..-20.7., 14.8. (SGK-SR), 17.8., 30.8. (SGK-NR) und 2.9 02 (Demonstration);
Bund, 24.1.02; .
TA, 6.7., 10.7. (Interview Metzler), 12.7. 02 (Interview Dreifuss);
So-Blick, 7.7. und 14.7.02 (Interview Egerszegi);
SoZ, 21.7.02.
[22]
AB SR, 2001, S. 769 ff.; Presse vom 27.9.02.
[23]
AB NR, 2002, S. 1635 ff.;
AB SR, 2001, S. 1056 f. Presse vom 4.10.02;
TA, 17.10.02. Der Direktor des BPV trat Mitte September mit sofortiger Wirkung zurück, wenige Tage bevor zwei externe Berichte publiziert wurden, die ihm eine zwar gesetzlich korrekte, aber nicht sonderlich engagierte Amtsführung attestierten (Presse vom 12.9., 17.9. und 20.9.02;
NZZ, 16.11.02).
[24] Presse vom 23.8. und 24.10.02. Die BVG-Kommission hatte dem BR eine Senkung auf 3,5% empfohlen. Zudem vertrat sie die Auffassung, dass die Versicherten in den 90-er Jahren Anspruch auf einen Mindestzins von bis zu 6,25% gehabt hätten (Presse vom 12.8. und 21.8.02). Ende Jahr wurde der Deckungsgrad der autonomen und halbautonomen Pensionskassen auf durchschnittlich 92% geschätzt; Ende 2001 hatte er noch 102% betragen. Rund die Hälfte aller Kassen soll sich in Unterdeckung befinden. Das BSV schätzte die Lage als angespannt, aber noch nicht besorgniserregend ein (Presse vom 11.12.02).
[25]
AB NR, 2002, S. 614 f.;
AB SR, 2001, S. 669.
[26]
AB NR, 2002, S. 492 ff., 525 ff. und 561 ff. Die Nein-Stimmen kamen alle von der SVP. Siehe auch eine als Postulat überwiesene Motion Egerszegi (fdp, AG) für eine spezielle Statistik zur Berechnung des Umwandlungssatzes sowie drei Postulate der SGK zu missbräuchlichen PK-Einkäufen und ein Postulat Polla (lp, GE) zur Förderung von Arbeitsplätzen von über 55-Jährigen im Rahmen des BVG (
a.a.O., S. 1124 und 1127);
NZZ, 23.1. (Auswirkungen der Senkung der Eintrittsschwelle), 28.1. (Arbeitgeberverband), 25.3., 27.3. (KOF ETHZ), 10.4. (Wirtschaftsverbände), 11.4. (Arbeitnehmerverbände) und 12.4.02 (Egerszegi); Siehe auch Erika Schnyder, „Wo steht die 1. BVG-Revision nach der Verabschiedung im Nationalrat?“, in
CHSS, 2002, S. 157-161.
[27]
AB SR, 2001, S. 1034 ff.
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