Année politique Suisse 2003 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Bürgerrecht und Stimmrecht
Die politische Auseinandersetzung um den Vollzug des bestehenden, aber auch des sich in der parlamentarischen Debatte befindenden neuen Einbürgerungsrechts war stark geprägt von zwei
Bundesgerichtsurteilen vom 9. Juli. Das eine bezog sich auf eine von Stadt und Kanton für ungültig erklärte Volksinitiative der SVP der Stadt Zürich, welche eine Volksabstimmung über jedes einzelne Einbürgerungsgesuch forderte. Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde der SVP ab und stellte sich hinter die Argumente der Zürcher Behörden, dass erstens eine Urnenabstimmung in der Stadt Zürich mit jährlich Hunderten von Einbürgerungsentscheiden nicht praktikabel wäre, und zweitens der Anspruch der Stimmenden auf vollständige Information mit dem Recht der Gesuchsteller auf Schutz ihrer Privatsphäre nicht vereinbar wäre. Darüber hinaus fällte das Bundesgericht den Grundsatzentscheid, dass ablehnende Einbürgerungsentscheide ohne Begründung verfassungswidrig seien und, da ja auf dem Abstimmungszettel keine Begründung aufgeführt werden kann,
über Einbürgerungen prinzipiell nicht an der Urne entschieden werden darf. Das zweite Urteil betraf Beschwerden von Ausländern, deren Einbürgerungsgesuche in einer Urnenabstimmung in der Gemeinde Emmen (LU) abgelehnt worden waren. Die Richter befanden, dass die Ablehnung aufgrund der ethischen oder religiösen Herkunft der Gesuchsteller (es handelte sich um Personen aus dem Balkan) erfolgt sei. Da dies dem Verfassungsgrundsatz des Diskriminierungsverbots widerspreche, forderten sie den Kanton Luzern auf, die Gemeinde Emmen zu veranlassen, ein verfassungskonformes Verfahren durchzuführen. Zu dem in den meisten Deutschschweizer Gemeinden üblichen Verfahren, die Einbürgerungsentscheide in der Gemeindeversammlung zu fällen, äusserte sich das Bundesgericht nicht. Ebenso wenig nahm es eindeutig Stellung zur Frage, ob eine Einbürgerung ein politischer Entscheid oder ein Verwaltungsakt sei. In der schriftlichen Begründung hielt es dazu fest, dass zwar kein Anspruch auf Einbürgerung bestehe, dass aber die Stimmenden hier trotzdem eine Verwaltungsfunktion ausübten, da sie über die Rechtsstellung von Einzelnen entschieden. In dieser Funktion seien sie gehalten, das Diskriminierungsverbot zu beachten
[8].
Während die meisten Staatsrechtler das Urteil ebenso begrüssten wie die politische Linke, war die Reaktion bei den bürgerlichen Parteien gemischt. Für die CVP und die FDP war der Entscheid – drei Monate vor den nationalen Wahlen – zumindest unglücklich terminiert, und wegen dem Verzicht auf eine Beurteilung der Zulässigkeit der im Vergleich zu den Urnenabstimmungen viel häufigeren Entscheidungen an Gemeindeversammlungen auch wenig hilfreich. Die
SVP protestierte heftig gegen das als Beschneidung der Gemeindeautonomie und der Volksrechte kritisierte Urteil. Sie machte das Problem denn auch gleich zu einem Wahlkampfthema. Ihr Parteitag beschloss die Lancierung einer Volksinitiative für eine Verankerung der Möglichkeit von Urnenabstimmungen über Einbürgerungen in der Verfassung. Der Beginn der Unterschriftensammlung wurde allerdings zurückgestellt
[9].
In der Folge zogen in vielen
Kantonen, in denen bisher Urnenabstimmungen zu Einbürgerungen stattfanden, die Behörden sofort die Konsequenzen aus den Bundesgerichtsurteilen. So beschloss die Luzerner Justizdirektion, den Absatz der Emmener Gemeindeordnung, welcher Volksabstimmungen für Einbürgerungen verlangt, als verfassungswidrig aufzuheben. In Schwyz und Appenzell Ausserrhoden, wo der Entscheid bisher in fast allen Gemeinden an der Urne gefällt wurde, ordneten die Regierungen an, dass dies künftig an der Gemeindeversammlung (SZ) resp. durch die Exekutive, oder, falls vorhanden, durch das Gemeindeparlament geschehen müsse und dass eine Ablehnung zu begründen sei
[10].
Der
Ständerat befasste sich als Zweitrat mit der Ende 2001 vom Bundesrat vorgeschlagenen
Revision der Einbürgerungsbestimmungen. Er nahm gegenüber der Version des Nationalrats einige Ergänzungen und Präzisierungen vor. Bei der automatischen Einbürgerung von Kindern der sogenannten 3. Generation drang die Kommissionsmehrheit mit ihrem Antrag, dass die Eltern mit der Erteilung des Bürgerrechts ausdrücklich einverstanden sein müssen, nicht durch. Bundesrätin Metzler hatte gegen dieses Konzept insbesondere vorgebracht, dass in einigen Staaten (u.a. Österreich) diese Positiverklärung die Kinder von der Beibehaltung der Staatsbürgerschaft ihrer Eltern (doppelte Staatsangehörigkeit) ausschliessen würde. Das vom Nationalrat gutgeheissene Beschwerderecht gegen als willkürlich oder diskriminierend empfundene Einbürgerungsentscheide strich die kleine Kammer mit 26 zu 15 Stimmen wieder. Gleichzeitig lehnte sie auch die von der grossen Kammer im Vorjahr überwiesene parlamentarische Initiative der SPK-NR für ein Beschwerderecht gegen als willkürlich empfundene negative Entscheide über die Einbürgerung ab
[11].
In der
Differenzbereinigung stimmte der Nationalrat der Version der kleinen Kammer zu. Dabei beantragte die bürgerliche Kommissionsmehrheit insbesondere, auf das
Beschwerderecht zu verzichten. Sie begründete dies mit dem in der Zwischenzeit erfolgten Bundesgerichtsurteil, wonach sich dieses Beschwerderecht bereits auf die neue Bundesverfassung stützen könne. Eine explizite Erwähnung auf Gesetzesstufe sei deshalb nicht erforderlich. Dem widersprachen die Vertreter der SP und der GP in der SPK, welche mit einem Minderheitsantrag eine klare Bestätigung des Bundesgerichtsurteils auch auf Gesetzesstufe forderten. Ebenfalls eine Regelung des Beschwerderechts, allerdings dessen Verbot, forderte die SVP. Da es sich bei den Einbürgerungen um politische und nicht um administrative Entscheidungen handle, solle auch eine Beschwerde an das Bundesgericht ausgeschlossen sein. Beide Anträge wurden ebenso abgelehnt wie der Antrag Fischer (fdp, AG), welcher das Beschwerderecht beibehalten, jedoch auf die Überprüfung der korrekten und fairen Durchführung des Verfahrens beschränken wollte
[12]. Vor der Schlussabstimmung wurde im Ständerat nochmals betont, dass der Verzicht auf das Beschwerderecht in beiden Kammern aus diametral entgegengesetzten Gründen erfolge. Zur Bekräftigung dieser Position gab der Ständerat in der Dezembersession auf Antrag seiner Kommission mit 25 zu 9 Stimmen einer parlamentarischen Initiative Pfisterer (fdp, AG) Folge, welche das Beschwerderecht auf die faire und korrekte Durchführung des Verfahrens beschränkt und den Entscheid über das für kommunale Einbürgerungsakte zuständige Organ den Kantonen überlässt
[13].
Die vom Parlament in der Herbstsession verabschiedete neue Bürgerrechtsregelung enthält folgende
wichtige Neuerungen: Verkürzung der
minimalen Wohnsitzdauer für die ordentliche Einbürgerung von zwölf auf acht Jahre, Vereinheitlichung und Lockerung der Vorschriften über die
erleichterte Einbürgerung von in der Schweiz aufgewachsenen Ausländern sowie die automatische Einbürgerung von
Kindern der so genannt dritten Generation, wobei die Eltern bei der Geburt auf die Bürgerrechtserteilung an das Kind verzichten können. In der Schlussabstimmung über die beiden Verfassungs- und die drei Gesetzesrevisionen stimmte im Nationalrat die SVP fast geschlossen mit Nein; bei demjenigen Gesetz, worin auf eine explizite Regelung des Beschwerderechts verzichtet wurde (BG über den Verlust und Erwerb des schweizerischen Bürgerrechts), befand sich auch rund ein Drittel der FDP-Fraktion in der Opposition. Der Vertreter der Schweizer Demokraten kündigte das Referendum gegen die Gesetzesrevisionen an. Im Ständerat herrschte Einstimmigkeit mit Ausnahme beim BG über den Verlust und Erwerb des schweizerischen Bürgerrechts (Beschwerderecht)
[14].
Die
Zahl der Einbürgerungen lag mit 37 070 knapp unter dem Vorjahreswert (38 833). Die grösste Gruppe von Eingebürgerten stellten zum erstenmal dieStaaten des ehemaligen Jugoslawien (12 018, davon 6316 aus Serbien und Montenegro), gefolgt vom bisherigen Spitzenreiter Italien (5375) und der Türkei (4212)
[15].
Der Verfassungsrat des Kantons
Freiburg weitete das von ihm im Vorjahr beschlossene kommunale
Ausländerstimmrecht auch auf die Kantonsebene aus, machte jedoch diesen Entscheid später aus primär abstimmungstaktischen Erwägungen wieder rückgängig und hielt nur am kommunalen Ausländerstimmrecht fest
[16]. Der Verfassungsrat von
Basel-Stadt beschloss die Einführung des kantonalen Ausländerstimm- und -wahlrechts. Dabei wurde allerdings eine sehr restriktive Variante gewählt: Ausländer erhalten dieses Recht nur, wenn sie die Voraussetzungen zur Einbürgerung erfüllen und das Wahlrecht mit einem Gesuch beanspruchen
[17]. Im Kanton Waadt kam eine Volksinitiative für die Abschaffung des im Vorjahr mit der neuen Verfassung eingeführten Ausländerstimmrechts nicht zustande
[18]. Im Kanton
Graubünden stimmte das Volk der neuen Kantonsverfassung zu und führte damit das fakultative Ausländerstimmrecht auf Gemeindeebene ein
[19].
Im Kanton
Neuenburg, wo
niedergelassene Ausländer über das aktive kantonale und kommunale Stimm- und Wahlrecht verfügen, reichten von der politischen Linken und den Gewerkschaften unterstützte Immigrantenorganisationen eine Volksinitiative für die Einführung des passiven Wahlrechts (Wählbarkeit) auf beiden Staatsebenen ein
[20]. Nach zwei Niederlagen in Volksabstimmungen (1993 und 2001) unternahm in
Genf ein breit abgestütztes Komitee, dem auch Politiker bürgerlicher Parteien angehören, einen neuen Anlauf für die Einführung des Ausländerstimmrechts. Zwei gleichzeitig eingereichte Volksinitiativen fordern die Einführung des aktiven resp. des integralen (d.h. aktiven und passiven) Stimmrechts für Niedergelassene auf Gemeindeebene
[21]. Im Kanton Bern beauftragte das Parlament die Regierung mit der Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs für die Einführung des fakultativen kommunalen Ausländerstimmrechts
[22].
Der im Jahr 2002 breit diskutierte Beschluss der bernischen Gemeinde Madiswil, eine obere
Alterslimite von 70 Jahren
für die Ausübung eines Exekutivamtes einzuführen, hatte auch ein parlamentarisches Nachspiel auf Bundesebene. Der Nationalrat beauftragte die Regierung mit der Überweisung einer Motion Egerszegi (fdp, AG) in Postulatsform, einen Bericht über die in den Kantonen und Gemeinden bestehenden Alterslimiten für die Ausübung politischer Ämter zu verfassen
[23].
[8] Presse vom 10.7. und 25.7.03. Zu Emmen siehe
SPJ 2000, S. 23,
2001, S. 19 und
2002, S. 25. Zur zürcherischen SVP-Initiative siehe
SPJ 2000, S. 23 und
2002, S. 26.
[9] Staatsrechtler: Zimmerli in
NZZ, 25.7.03; Kiener in
Bund, 26.7.03; Auer in
Lib., 30.7.03; Georg Müller in
AZ, 22.9.03. SVP: Rutz in
NZZ, 25.7.03;
BaZ, 25.7.03 (SVP-BL);
SGT, 26.7.03 (SVP-AR); Presse vom 15.9.03 (Parteitag). FDP und CVP:
Bund, 25.7.03.
[10] LU:
NZZ, 18.7.03. SZ:
TA, 29.8.03. AR:
SGT, 18.9.03.
[11]
AB SR, 2003, S. 620 ff. und 636 (pa.Iv.). Vgl.
SPJ 2002, S. 25 f.
[12]
AB NR, 2003, S. 1466 ff. Zum Entscheid der NR-Kommission bezüglich Beschwerderecht siehe auch Presse vom 22.8.03. Konsequenterweise verzichtete der NR ebenfalls auf die Weiterbehandlung seiner vom StR abgelehnten pa.Iv. für eine gesetzliche Verankerung des Beschwerderechts (
AB NR, 2003, S. 1475).
[13]
AB SR, 2003, S. 1032 f. und 1151 ff. (pa.Iv.). Eine pa.Iv. und eine Standesinitiative mit ähnlicher Stossrichtung reichten auch NR Joder (svp, BE) resp. der Kanton Schwyz ein (03.455 resp. 03.317;
NLZ, 23.10.03).
[14]
AB NR, 2003, S. 1746 f.;
AB SR, 2003, S. 1032 f.;
BBl, 2003, S. 6599 (Verfassungsgrundlagen für Revision des BG für die 2. Generation), 6601 (Verfassungsgrundlagen für Revision des BG für die 3. Generation) und 6743 ff. Die Referendumsfrist für die Gesetzesrevision bezüglich der 2. (inkl. Reduktion der Wohnsitzfrist von 12 auf 8 Jahre) und der 3. Generation beginnt erst nach deren Publikation, welche nach der Annahme der Verfassungsänderungen in der obligatorischen Volksabstimmung erfolgen wird.
[15] Bundesamt für Zuwanderung, Integration und Auswanderung,
Einbürgerungen und Entlassungen aus dem Schweizer Bürgerrecht, Bern 2004.
[16]
LT, 21.2.03;
Lib., 14.11.03. Vgl.
SPJ 2002, S. 26.
[17]
BaZ, 30.5. und 3.7.03.
[18]
24h, 23.8.03;
Lib., 19.9. und 24.12.03;
NZZ, 14.1.04. Vgl.
SPJ 2002, S. 26.
[19]
BüZ, 19.5.03. Vgl.
SPJ 2002, S. 26.
[20]
Express, 17.6. (Lancierung) und 16.12.03 (Einreichung).
[21]
TG, 13.2.03 (Lancierung);
LT, 8.7.03 (Einreichung). Vgl.
SPJ 1993, S. 22 und
2001, S. 20.
[23]
AB NR, 2003, S. 501 (Beilagen, I, S. 175 f.). Vgl.
SPJ 2002, S. 26 f. Madiswil hat die Alterslimite im Berichtsjahr wieder abgeschafft (
TA, 28.6.03). Die Berner Regierung gab einen Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung, welcher Alterslimiten nur noch für das Gemeindepräsidium und für vollamtliche Exekutivmitglieder zulassen will (
BZ, 13.6.03). Siehe auch
Lit. Ernst sowie Hangartner.
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