Année politique Suisse 2004 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
Familienpolitik
An seinem bereits zur Tradition gewordenen Medienspaziergang auf die St.-Petersinsel fasste Bundesrat Couchepin die Ergebnisse aus dem „
Familienbericht
2004“ zusammen und zog seine Schlussfolgerungen. Fazit war, dass die Schweiz eigentlich bis heute keine eigentliche Familienpolitik betreibt – vor allem im Vergleich zu den Nachbarländern, deren Regierungen meistens ein spezielles Familienministerium umfassen. Im Interesse der finanziellen Sicherung der Sozialwerke plädierte Couchepin für eine hohe Frauenerwerbsquote und somit für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Als mögliche Massnahmen nannte er vermehrte Angebote an Teilzeitarbeit, Blockzeiten in den Schulen und eine frühe Einschulung der Kinder
[33].
Mit einer dringlichen Interpellation verlangte die CVP-Fraktion, der Familienbericht sei
im Parlament zu diskutieren. Als erster befasste sich der Nationalrat damit in der Herbstsession. Dabei zeigte sich einzig die FDP mit dem Bericht ihres Bundesrates zufrieden. Die CVP fand den Bericht lückenhaft. Er lege zu viel Wert auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie; das sei zwar vordringlich, aber nicht genügend. Es brauche steuerliche Erleichterungen sowie bedarfsgerechte Leistungen für Familien. Die SVP wollte vor allem auf die steuerliche Entlastung der Familien setzen und lehnte jede weitere Ausweitung des Sozialstaats ab. Die SP verlangte gerade das Gegenteil, nämlich höhere Familienzulagen und Prämienverbilligungsbeiträge in der Krankenversicherung
[34].
Einem Beruf nachzugehen und gleichzeitig eine Familie zu haben, soll leichter möglich werden. Für den Bundesrat haben Massnahmen zur
Vereinbarkeit von Familie und Beruf politische Priorität. Bundespräsident Deiss und EDI-Vorsteher Couchepin kommentierten gemeinsam die Resultate einer Studie der OECD. Die Wirtschaftsorganisation empfahl der Schweiz mehrere Massnahmen. Die öffentlichen Ausgaben zu Gunsten der familienergänzenden Betreuung von Kindern im Vorschul- und Schulalter sollten erhöht und der Zugang zu Tagesschulen erweitert werden, um die Vollzeitarbeit der Frauen zu fördern. Für Eltern mit sehr kleinen Kindern schlug der OECD-Bericht das Recht auf Teilzeitarbeit während einer beschränkten Zeitspanne vor, unter der Voraussetzung, dass Väter und Mütter später wieder zu einem Vollzeitpensum zurückzukehren bereit sind. Der Bericht regte auch an, die Einführung der Individualbesteuerung zu prüfen. Damit könnten Arbeitsanreize für Elternpaare gegeben werden. Allgemein sollte die Familienfreundlichkeit von Arbeitsplätzen verbessert werden
[35].
Eine vom Nationalfonds unterstützte Studie befasste sich mit dem Thema der Gerechtigkeit in der Familienpolitik der Schweiz. Die Autoren kamen zu einem ernüchternden Fazit. Zwar werden Familien – verstanden als Haushalte mit Kindern – unter dem Strich jährlich mit 6,9 Mia Fr. gefördert. Dazu tragen Kinderzulagen, Kinderfreibeträge bei den Steuern, zusätzliche Familienleistungen (wie sie 12 Kantone kennen) oder auch die Subventionen für Kinderkrippen oder Krankenversicherungsprämien bei. Hinzu kommen rund 700 Mio Fr. Sozialhilfe. Dass diese in vielen Familien zum Zug kommen muss, ist für die Autoren ein Zeichen, dass die
Transferzahlungen ungenügend sind. Sie wiesen auf die geradezu grotesken kantonalen Unterschiede hin und berechneten, welche Transfers nach Steuern eine einkommensschwache Familie erhält. Am meisten ist es im Tessin mit 6900 Fr., am wenigsten im Kanton Jura mit 790 Fr.; im schweizerischen Durchschnitt sind es 2350 Fr. pro Jahr. Gerade bedürftige Familie erhalten besonders geringe Transfers, da ein Drittel auf die Steuerabzüge entfällt, von denen sie kaum profitieren können
[36].
Der Bundesrat empfahl die 2003 eingereichte
Volksinitiative der Gewerkschaft Travail.suisse
„für fairere Kinderzulagen“ zur Ablehnung. Er befand, das Begehren, welches schweizweit einheitliche Kinderzulagen von 450 Fr. pro Monat verlangt, wäre weder volkswirtschaftlich noch finanzpolitisch vertretbar. Obgleich er Handlungsbedarf bei der Vereinheitlichung der Kinderzulagen (heute rund 50 verschiedene Systeme in 26 Kantonen) ausmachte, beschloss er, keinen Gegenvorschlag zu unterbreiten, da dem Parlament bereits ein Projekt vorliege, das eine konsensfähige und volkswirtschaftlich tragbare Lösung ermögliche. Dabei handelt sich um die Umsetzung einer 1991 von der damaligen Nationalrätin Fankhauser (sp, BL) eingereichten parlamentarischen Initiative, welche eine einheitliche Kinderzulage von 200 Fr. verlangt. Die Initiative war 1992 vom Nationalrat angenommen und der SGK zur konkreten
Ausgestaltung eines Gesetzesentwurfs zugewiesen worden. Dieser wurde 1997, wenn auch knapp, von der SGK gutgeheissen, aber bisher nicht dem Rat unterbreitet. Im Berichtsjahr nun aktivierte die Kommission ihren Vorschlag und legte ihn dem Plenum vor, der ihn aber erst 2005 behandeln wird. Der Gesetzesentwurf sieht einheitliche Kinderzulagen von mindestens 200 Fr. und Ausbildungsbeiträgen von 250 Fr. für alle Kinder und Jugendlichen vor; unabhängig davon, ob die Eltern unselbständig-, selbständigerwerbend oder erwerbslos sind. Die Mehrkosten gegenüber heute wären von den Arbeitgebern (500 Mio Fr.) und den Kantonen (220 Mio Fr.) zu bezahlen. Der Bundesrat stellte sich grundsätzlich hinter den Entwurf, lehnte eine Mehrbelastung der Wirtschaft aber ab
[37].
In Ausführung von zwei angenommenen parlamentarischen Initiativen, die ein System von
Ergänzungsleistungen für bedürftige Familien nach dem Vorbild des Kantons Tessin vorsehen, gab die SGK des Nationalrats drei Varianten in die Vernehmlassung. Das erste Modell begünstigt Einelternfamilien mit einem Kind, das zweite Familien mit mehreren Kindern, während das dritte eine Mischform darstellt. Die jährlichen Kosten würden sich auf rund 880 bis 895 Mio Fr. belaufen. Diese sollen zu fünf Achteln vom Bund und zu drei Achteln von den Kantonen getragen werden. Im Gegenzug könnten rund 200 Mio Fr. an Sozialhilfe eingespart werden. In einer ersten Umfrage der Sozialdirektorenkonferenz hatten sich 18 Kantone für Familien-EL ausgesprochen; 12 hatten allerdings für ein Rahmengesetz des Bundes und für die materielle Kompetenz bei den Kantonen plädiert. In der Vernehmlassung sprachen sich die SP, die CVP und die meisten Kantone für die Ergänzungsleistungen aus, SVP, FDP und Arbeitgeber dagegen; an besten kam jenes Modell an, welches Einelternfamilien bevorzugt
[38].
Der Bundesrat beantragte, eine Motion der SGK-NR abzulehnen, welche ihn beauftragen wollte, Vorschläge zur Harmonisierung der Gesetzgebung betreffend
Alimentenbevorschussung und -inkasso auszuarbeiten. Er begründete seine Haltung damit, dass sämtliche Kantone das Instrument der Alimentenbevorschussung, wenn auch in unterschiedlicher Form und Höhe, bereits eingeführt haben, weshalb hier kein Handlungsbedarf mehr bestehe. Die Kommission, welche die Motion einstimmig gutgeheissen hatte, verwies auf die enormen Unterschiede von Kanton zu Kanton, weshalb eine Harmonisierung dringend notwendig sei. Der Rat folgte dieser Argumentation und nahm die Motion mit 84 zu 48 Stimmen an
[39].
1994 hatte die damalige Nationalrätin Sandoz (lp, VD), mehr aus formaljuristischen denn aus gleichstellungspolitischen Gründen, mit einer gutgeheissenen parlamentarischen Initiative verlangt, es sei die völlige
Gleichstellung von Frau und Mann beim Familiennamen sicherzustellen. Das Parlament hatte daraufhin eine Vorlage ausgearbeitet, welche auch das Bürgerrecht und den Familiennamen der Kinder einschloss. Wegen der Vielzahl der möglichen Namensoptionen und der Regelung, dass bei Nichteinigkeit der Eltern die Vormundschaftsbehörde über den Familiennamen der Kinder entscheiden sollte, wurde der Entwurf 2001 in der Schlussabstimmung aber von beiden Kammern abgelehnt. 2003 hatte Leutenegger Oberholzer (sp, BL), ebenfalls mit einer parlamentarischen Initiative, die Angelegenheit wieder aufgenommen. Ihr Begehren schloss von Anfang an das
Bürgerrecht und den
Familiennamen der Kinder ein. Obgleich die Initiative die Form einer allgemeinen Anregung hat, gab Leutenegger Oberholzer gewisse Leitlinien für die konkrete Umsetzung vor. So sollte geprüft werden, ob der behördlich verordnete Namenswechsel bei der Eheschliessung zweckmässig ist, da dies zwangsläufig wie in der verworfenen Vorlage zu einer Grosszahl von Namensoptionen führt. Für den Fall der Nichteinigung der Eltern sollte eine abschliessende gesetzliche Regelung getroffen werden, um behördliche Entscheide zu vermeiden. Der Nationalrat gab der Initiative im Berichtsjahr diskussionslos Folge
[40].
Bei der Beratung des Partnerschaftsgesetzes (siehe unten) wurde im Ständerat bei den Änderungen bisherigen Rechts und auf Antrag der Rechtskommission eine von beiden Räten gutgeheissene Motion von Nationalrat Janiak (sp, BL) umgesetzt, die eine Aufhebung des
Eheverbots für Stiefverhältnisse im ZGB verlangte, da sonst eine Ungleichbehandlung entstanden wäre, weil im neuen Partnerschaftsgesetz Stiefverhältnisse nicht ausgeschlossen sind. Leumann (fdp, ZH) beantragte, die Bestimmung hier zu streichen, um die Vorlage angesichts des drohenden Referendums nicht zu überladen, unterlag aber mit 16 zu 11 Stimmen. Der Nationalrat stimmte diskussionslos zu
[41].
Das revidierte Scheidungsrecht erreicht die gleichstellungspolitischen Ziele und insbesondere den
Vorsorgeausgleich kaum. Zu diesem Befund kam eine Untersuchung des Schweizerischen Nationalfonds. Gemäss Gesetz müssen Mann und Frau bei einer Scheidung ihre zweite Säule hälftig miteinander teilen. Dazu komme es aber in den wenigsten Fällen, schrieben die beiden Autorinnen der Studie. Nur bei jeder zweiten Scheidung würden die Vorsorgeguthaben überhaupt aufgeteilt; eine hälftige Teilung finde jedoch nur in knapp 10% dieser Fälle statt, wobei in erster Linie die Männer profitierten. Sehr viele Frauen verzichten offenbar von sich aus auf die Teilung. Befragungen von Richtern und Anwälten zeigten, dass das Gesetz nicht als zwingende Vorschrift interpretiert wird, sondern als im Rahmen der Scheidungskonvention verhandelbar
[42].
Der Ständerat als Zweitrat verabschiedete das Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft gleichgeschlechtlicher Paare (
Partnerschaftsgesetz) einstimmig. Vergebens beantragte der Walliser CVP-Vertreter Epiney Rückweisung an die Kommission mit dem Auftrag, nicht ein eheähnliches Institut zu schaffen, das vom Volk nur schwerlich akzeptiert würde, sondern die Frage über privatrechtliche Verträge zu lösen. Schweiger (fdp, ZG) hielt dem entgegen, der Staat habe für Ehepaare so viele Regelungen getroffen, die sich nur mit weiteren Rechtsinstituten auf gleichgeschlechtliche Paare übertragen liessen. Sukkurs erhielt er von Bundesrat Blocher, einem einstigen Gegner der Vorlage, der betonte, homosexuelle Paare sollten einen gesetzlichen Rahmen für die gegenseitige Für- und Vorsorge im Rahmen des öffentlichen Rechts erhalten. Verbal mochte niemand Epiney unterstützen. In der Abstimmung erhielt der Rückweisungsantrag aber dennoch 11 Stimmen. Abgesehen von wenigen redaktionellen Details folgte die kleine Kammer Bundes- und Nationalrat. In der Schlussabstimmung wurde das Partnerschaftsgesetz vom Nationalrat mit 112 zu 51 und vom Ständerat mit 33 zu 5 Stimmen bei 4 Enthaltungen angenommen
[43]. Das von der EVP und der EDU bereits im Vorjahr im Nationalrat angekündigte
Referendum gegen das Partnerschaftsgesetz kam mit etwas über 67 000 Unterschriften zustande
[44].
[33]
Lit,
Familienbericht und CHSS; Presse vom 1.9.04. Der Bericht geht auf eine Empfehlung Stadler (cvp, UR) zurück, welche der SR 2001 überwiesen hatte (
SPJ 2001, S. 209).
[34]
AB NR, 2004, S. 1617 ff.
[35]
Lit. Adema / Thévenon; Presse vom 29.10.04. Zur gleich lautenden Forderung von AllianceF sowie der Eidg. Kommission für Familienfragen siehe
NZZ, 17.2.04;
Presse vom 8.6.04. Mit der Finanzhilfe des Bundes wurden innerhalb eines Jahres 2474 neue Krippen- und andere Kinderbetreuungsplätze geschaffen, doch wurde die Wirksamkeit der Massnahme kontrovers beurteilt (Presse vom 5.2. und 13.8.04). Siehe
SPJ 2003, S. 253.
[36]
Lit. Bauer; Presse vom 25.2.04.
[37]
BBl, 2004, S.
1313 ff. (BR zur Volksinitiative), 6887 ff. und 6941 ff. (BR zur pa.Iv.);
Lit. Jaggi; Presse vom 19.2. (Reaktionen der Parteien und der Sozialpartner), 3.7., 3.11. (SGK) und 11.11.45 (BR). Einer Standesinitiative des Kantons LU, welche die eidgenössischen Räte ersuchte, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Unterstützung der Familien und Alleinerziehenden sowie der Kinder durch eine gesamtschweizerisch einheitliche Regelung der Familienzulagen und der ergänzenden Leistungen für bedürftige Familien und Kinder im Sinne des Modells der Eidg. Kommission für Familienfragen (EKFF) zu schaffen, wurde vom SR, da bereits diesbezügliche Vorlagen in Ausarbeitung sind, keine Folge gegeben (
AB SR, 2004, S. 143 f.). Einer pa.Iv. von Travail.Suisse-Präsident Fasel (csp, FR), die von der Nationalbank nicht mehr benötigten Goldreserven für eine Erhöhung der Kinderzulagen zu verwenden, wurde implizit keine Folge gegeben (
AB NR, 2004, S. 963 ff., 965 ff. und 975 ff.). Siehe dazu Teil I, 4b (Geld- und Währungspolitik).
[38] Presse vom 17.1., 30.3. und 2.7.04.
[39]
AB NR, 2004, S. 420 ff.
[40]
AB NR, 2004, S. 1728 f. Siehe
SPJ 2001, S. 211.
[41]
AB SR, 2004, S. 228 ff. und 436 f.;
AB NR, 2004, S. 991 f. und 1236;
BBl, 2004, S.
3137 ff. Siehe
SPJ 2003, S. 254.
[42]
Lit. Lauterburg / Baumann;
TA, 28.1.04;
BaZ, 4.2.04. In Beantwortung einer Frage und einer Anfrage im NR anerkannte der BR gewisse Probleme in diesem Bereich, vertrat aber die Ansicht, dabei handle es sich nicht um Mängel des Gesetzes, sondern um solche der Rechtsanwendung (
AB NR, 2004, S. 170 und 1243). Der SR nahm eine Motion des NR auf eine bundesrechtliche Regelung der Scheidung bei Teileinigung ebenfalls an (
AB SR, 2004, S. 37). Siehe
SPJ 2002, S. 245.
[43]
AB SR, 2004, S. 228 ff. und 436 f.;
AB NR, 2004, S. 991 f. und 1236. Da sich die Schweizer Bischofskonferenz bereits zu Beginn des Jahres gegen das Partnerschaftsgesetz ausgesprochen hatte (
NZZ, 5.3.04), war das Abstimmungsverhalten der Mitglieder der CVP-Fraktion im NR besonders aufschlussreich: 9 Ja standen 5 Nein und 12 Enthaltungen gegenüber. Die EVP/EDU-Fraktion lehnte geschlossen ab, die SVP mit 39:10 Stimmen bei einer Enthaltung. Siehe
SPJ 2003, S. 254 f. Im Kanton Neuenburg trat auf den 1. Juli ein Partnerschaftsgesetz in Kraft, das alle eheähnlichen Formen des Zusammenlebens beschlägt, also auch das Konkubinat heterosexueller Personen (
Lib., 2.7.04).
[44]
BBl, 2004, S.
5865 f.
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