Année politique Suisse 2005 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Volksrechte
Im Berichtsjahr kam es zu vier mit einem fakultativen Referendum verlangten Volksabstimmungen (Schengen/Dublin-Vertrag mit der EU, Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Staaten, Gleichgeschlechtliche Partnerschaft, Sonntagsarbeit im Detailhandel in grossen Bahnhöfen). Bei allen stimmte das Volk dem Parlamentsbeschluss zu.
Im Jahr 2005 wurden
vier Volksinitiativen eingereicht (Aufwertung der Komplementärmedizin, Gegen Lärmbelästigung durch Militärflieger, Schutz des Waldes, Einbürgerungsverfahren). Dem Volk zum
Entscheid vorgelegt wurde ein Volksbegehren (Anbauverbot für gentechnisch veränderte Pflanzen); dieses wurde als fünfzehntes von insgesamt 160 zur Abstimmung gebrachten angenommen
[45]. Damit stieg Ende 2005 der Bestand der eingereichten, aber dem Volk noch nicht zum Entscheid vorgelegten Initiativen auf zehn. Neu
lanciert wurden
zwei Volksinitiativen (Renaturierung der Ufer von Gewässern, AHV-Alter 62).
Insgesamt kam es somit zu
fünf Volksabstimmungen (1 Volksinitiative und 4 fakultative Referenden). Bei 4 dieser 5 Entscheide folgten die Stimmberechtigten dem Antrag von Regierung und Parlament (2004: fünf von dreizehn)
[46].
Nach dem Nationalrat stimmte auch der Ständerat, trotz des Einspruchs von Reimann (svp, AG), dem Beitritt der Schweiz zum „
International Institut for Democracy and Electoral Assistance“ zu. Diese Stelle will weltweit die Demokratie primär durch Erfahrungs- und Wissensaustausch fördern
[47].
Zum Ausländerstimmrecht siehe oben, Teil I, 1b (Bürgerrecht und Stimmrecht).
Der Nationalrat hatte im Vorjahr eine Motion überwiesen, welche eine 2003 eingeführte Verfassungsbestimmung konkretisiert. Sie fordert, dass
Staatsverträge mit „wichtigen“ rechtsetzenden Normen oder mit Bestimmungen, deren Umsetzung eine Gesetzesrevision verlangt,
dem fakultativen Referendum unterstellt werden. Demnach sollen die gleichen Grundsätze gelten wie bei der innerstaatlichen Gesetzgebung: Als wichtig gilt ein Rechtsetzungsakt dann, wenn er nicht an die Exekutive delegiert ist (wie z.B. eine Verordnung). Der Ständerat hiess diese Motion im Berichtsjahr ebenfalls gut, nahm allerdings eine auch vom Bundesrat gewünschte Präzisierung vor. Seiner Meinung nach seien Staatsverträge nicht dem fakultativen Referendum zu unterstellen, wenn sie nicht wesentliche neue Rechtsetzungsakte beinhalten, sondern nur die Fortsetzung früherer, vor der Ausweitung des Staatsvertragsreferendums im Jahre 2003 eingeführter Bestimmungen zur Folge haben. Gegen den Widerstand der SVP schloss sich der Nationalrat dieser Präzisierung des Motionstextes an
[48].
Der Ende 2004 in die Vernehmlassung gegebene Vorentwurf für die legislative Umsetzung der
allgemeinen Volksinitiative stiess auf wenig Verständnis. Er sei viel zu kompliziert, ja sogar unverständlich. Dies hat seinen Grund vor allem in den vielen Kombinationen und Konstellationen der Entscheidfindung, die bei diesem neuen Volksrecht auftreten können
[49].
Die SPK des Nationalrats sprach sich gegen eine parlamentarische Initiative Gross (sp, ZH) für die Einführung der
Gesetzesinitiative aus. Mit der vom Volk gutgeheissenen allgemeinen Volksinitiative werde es nach Ansicht der SPK in Zukunft möglich sein, ein auf Gesetzesstufe umzusetzendes Anliegen mit einer Volksinitiative zu verlangen, ohne dass dazu noch ein neues Volksrecht eingeführt werden müsse
[50].
In der Regel ist ein politisches Anliegen der parlamentarischen Mehrheit nach einer Ablehnung in einer Volksabstimmung nicht für alle Zeiten vom Tisch. Oft wird es, meist in veränderter Form, rasch wieder in den politischen Prozess aufgenommen und vom Parlament nochmals gutgeheissen. Dass die Bundesversammlung im Jahr 2003, also vier Jahre nach dem Volksnein zu einer Mutterschaftsversicherung, eine neue Version guthiess, veranlasste die SVP-Fraktion, eine Art Karenzfrist zu fordern. Mit einer parlamentarischen Initiative verlangte sie, dass derartige
Parlamentsbeschlüsse dem obligatorischen Referendum zu unterstellen sind, wenn sie innerhalb von fünf Jahren nach einem letzten negativen Volksentscheid erfolgen. Die SPK des Nationalrats hielt gar nichts von dieser Forderung, da ein Nein zu einer Vorlage in den wenigsten Fällen heisse, dass kein Handlungsbedarf bestehe und bei einer Neuauflage in der Regel eben gerade die Haupteinwände der Gegner berücksichtigt würden. Sie beantragte einstimmig (bei sieben Enthaltungen) der Initiative keine Folge zu geben und das Plenum schloss sich dieser Empfehlung an. Auch von der SVP mochte sich niemand mehr für den eigenen Vorschlag einzusetzen
[51].
Der Bundesrat beantragte dem Parlament, die
Volksinitiative „
Volkssouveränität statt Behördenpropaganda“ ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung zu empfehlen. Die von der Initiative verlangten massiven Einschränkungen für den Bundesrat und die Bundesverwaltung würden seiner Meinung nach eine sachliche Information der Stimmenden stark beeinträchtigen, da diese praktisch ausschliesslich auf die von Privaten verbreiteten Informationen und Behauptungen angewiesen wären. Insbesondere verbiete es die Initiative den Behörden, Stellung zu Falschaussagen zu nehmen. Damit wäre nach Ansicht des Bundesrates die freie Meinungsbildung nicht nur beeinträchtigt, sondern sogar gefährdet. Die in letzter Zeit geschaffenen verwaltungsinternen Richtlinien für die Öffentlichkeitsarbeit sowie die Gerichtspraxis habe zudem dafür gesorgt, dass sich das Engagement von Regierung und Verwaltung im Vorfeld von Volksabstimmungen in Grenzen halte und die Bürgerinnen und Bürger nicht von einer behördlichen Propagandawelle überrollt würden
[52].
Die SPK des
Ständerates folgte diesen Argumenten des Bundesrates und beantragte bei einer Enthaltung (Reimann, svp, AG), die Initiative zur Ablehnung zu empfehlen, was das Plenum in der Herbstsession denn auch mit 34 zu 3 Stimmen tat
[53]. Sowohl im Referat der SPK-Sprecher als auch in der Diskussion im Plenum kam allerdings zum Ausdruck, dass bei den Gegnern des Volksbegehrens ebenfalls ein gewisses Unbehagen vorhanden ist über die Rolle, welche die Behörden und dabei insbesondere die Verwaltung seit einigen Jahren in Abstimmungskampagnen spielen. Auf Antrag ihrer SPK überwies die kleine Kammer eine Motion des Nationalrats aus dem Jahre 2003 in Postulatsform. Diese verlangt gewisse
rechtliche Leitplanken für den Auftritt der Bundesstellen in Abstimmungskämpfen
[54]. Eine Mehrheit der SPK der beiden Räten war sich aber einig, dass
der Bundesrat bei allen Volksabstimmungen aktiv informieren und dabei „klar und objektiv die Haltung der Bundesbehörden“ vertreten solle. Eine entsprechende parlamentarische Initiative Burkhalter (fdp, NE) fand in beiden Kommissionen Unterstützung, wurde im Plenum aber noch nicht behandelt
[55]. Die SPK des Nationalrats beschloss zudem, der Volksinitiative einen
indirekten Gegenvorschlag gegenüber zu stellen und die Behandlung der Initiative bis zu dessen Vorliegen zu sistieren
[56].
Der Nationalrat hatte im Jahr 2002 eine parlamentarische Initiative Stamm (cvp, LU) für mehr
Fairness in Abstimmungskampagnen nicht weiter verfolgt. Ein Jahr später hatte Andreas Gross (sp, ZH) eine parlamentarische Initiative eingereicht, welche in allgemeiner Form gesetzliche Vorschriften für möglichst faire Abstimmungskampagnen verlangte. Zudem sollten Vorkehrungen getroffen werden, dass die politischen Parteien in der Meinungsbildung eine wichtige Rolle spielen können. Mit dieser zweiten Forderung nahm er, in abgewandelter Form, sein Anliegen für die Offenlegung von Kampagnefinanzierungen wieder auf, das von der SPK und im Jahr 2004 auch vom Nationalrat abgelehnt worden war. Die Mehrheit der SPK des Nationalrats unterstützte den Vorstoss Gross. Dabei schien ihr insbesondere die Einräumung von Sendezeit für die Parteien in Radio und Fernsehen ein gangbares Mittel zur Stärkung der Position der Parteien in den Abstimmungskampagnen zu sein. Das Plenum gab der Initiative gegen den Widerstand der SVP Folge
[57]. Keinen Erfolg hatte im Nationalrat dagegen eine von der SP und den Grünen unterstützte parlamentarische Initiative Rechsteiner (sp, BS). Diese hatte verlangt, dass sich mehrheitlich im öffentlichen Besitz befindende Unternehmen, sowie durch Zwangsabgaben finanzierte (z.B. Krankenkassen) oder für die Grundversorgung der Bevölkerung wichtige private Firmen nicht mehr an Abstimmungskampagnen beteiligen dürfen
[58].
Nach zwei pannenfrei durchgeführten Versuchen mit der
elektronischen Stimmabgabe im Kanton Genf bewilligte der Bundesrat auch für den Kanton Neuenburg ein entsprechendes Pilotprojekt für die eidgenössischen Abstimmungen vom 25. September und vom 27. November. Als erste Deutschschweizer Gemeinden folgten an der eidgenössischen Abstimmung vom 27. November Bülach, Bertschikon und Schlieren (alle ZH). Auch hier war das Verfahren zuerst bei einer kommunalen Abstimmung getestet worden, und, als Neuerung, war es an diesen drei Orten auch möglich, das Votum telefonisch als SMS abzuschicken
[59].
[45] Es war die zweite von allen Ständen gutgeheissene Volksinitiative. Die andere war die 1. August-Initiative der SD im Jahre 1993 gewesen.
[46] Siehe dazu auch Andreas Gross, „Demokratiemüde oder bloss vorsichtiger?“, in
NZZ, 10.1.06.
[47]
AB SR, 2005, S. 105 ff. und 392;
AB NR, 2005, S. 471;
BBl, 2005, S. 2345. Vgl.
SPJ 2004, S. 36.
[48]
AB SR, 2005, S. 637 ff.;
AB NR, 2005, S. 1461 ff. Vgl.
SPJ 2001, S. 33 ff. und
2003, S. 39.
[49]
NZZ, 22.7.05. Vgl.
SPJ 2004, S. 37.
[50] Pa.Iv. 04.458;
NZZ, 29.1.05.
[52]
BBl, 2005, S. 4375 ff. Vgl.
SPJ 2004, S. 37. Vgl. zur Entwicklung der Kampagnetätigkeit der Verwaltung auch
NZZ, 17.9.05. Die Initiative wurde vom rechtskonservativen Verein „Bürger für Bürger“ lanciert, die SVP war daran nicht direkt beteiligt, unterstützte aber die Unterschriftensammlung (
BaZ, 30.9.05).
[53]
AB SR, 2005, S. 795 ff., 804 f. und 808; Presse vom 30.9.05.
[54]
AB SR, 2005, S. 804. Vgl.
SPJ 2004, S. 40.
[57]
AB NR, 2005, S. 39 ff. Vgl.
SPJ 2002, S. 44 und
2004, S. 37.
[58]
AB NR, 2005, S. 24 ff.
[59] NE:
BBl, 2005, S. 4343 f. und 5793 f.;
Express, 23.6. und 26.9.05. ZH:
BBl, 2005, S. 5791 f.;
TA, 3.10., 31.10. und 28.11.05. Vgl.
SPJ 2004, S. 37.
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