Année politique Suisse 2005 : Sozialpolitik / Bevölkerung und Arbeit
Kollektive Arbeitsbeziehungen
Im Juni einigte sich die Gewerkschaft Unia mit den Arbeitgebern auf einen neuen, ab 2006 gültigen Gesamtarbeitsvertrag für das
Bauhauptgewerbe. Nachdem im Vorjahr die Vertragsverhandlungen von gewerkschaftlichen Protestaktionen geprägt gewesen waren, erstaunte die rasche und friedliche Einigung. Auch bei den Malern und Gipsern, wo im Vorjahr noch gestreikt worden war, kam ein neuer GAV zustande. Vertreter sowohl der Arbeitgeberverbände als auch der Gewerkschaften gaben zu, dass die
bevorstehende Volksabstimmung über die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf die neuen EU-Mitglieder ein wesentlicher Grund für die raschen und ohne störende Begleitgeräusche erzielten Vertragsabschlüsse gewesen war. Grosse Arbeitskonflikte und lautstarke Kontroversen zwischen den Sozialpartnern hätten ihrer Ansicht nach die Annahme des Freizügigkeitsabkommens gefährdet
[12].
Im
Strassentransportgewerbe wurde im Berichtsjahr erstmals ein für die ganze Schweiz geltender Gesamtarbeitsvertrag abgeschlossen. Diese ab 2006 geltende Vereinbarung regelt die Minimalanforderungen an die weiterhin regional oder einzelbetrieblich ausgehandelten Arbeitsverträge
[13].
In der
Maschinenindustrie einigten sich die Sozialpartner auf einen neuen GAV, der als wesentlichste Neuerung eine Erweiterung der Umstände enthält, unter denen eine Ausdehnung der Jahresarbeitszeit erlaubt ist. Diese von den Gewerkschaften lange bekämpfte Flexibilisierung ist neu nicht nur zur Überwindung einer wirtschaftlichen Gefährdung eines Unternehmens möglich, sondern auch in bestimmten anderen Situationen (z.B. zur Bewältigung von besonderen Innovationsprojekten oder zur Anpassung an spezielle Produktionszyklen). Als Gegenleistung für ihr Entgegenkommen erhielten die Gewerkschaften gewisse Mitspracherechte
[14].
Im Bereich der
Printmedien demonstrierten die Unternehmer, dass sie wenig Interesse an einer raschen Beendigung des vertragslosen Zustands haben. Sie verabschiedeten an ihrer Jahrestagung einen Katalog von Mindeststandards für individuelle Arbeitsverträge, den sie im Alleingang, das heisst ohne Konsultation der Gewerkschaften erarbeitetet hatten
[15].
Der Arbeitskonflikt beim Buntmetallverarbeiter Swissmetal
Boillat im bernjurassischen
Reconvilier brach im November wieder offen aus. Der Anlass war diesmal der Entscheid der Unternehmensleitung, den Giessereibetrieb im Werk Reconvilier aufzuheben und in das Werk Dornach (SO) zu verlagern. Im Gegensatz zum Vorjahr kam es aber noch nicht zu einem Streik
[16].
Im Januar nahmen die rund 150 Beschäftigten des Zigarettenfilter-Herstellers
Filtrona in Crissier (VD) ihren im Dezember des Vorjahres abgebrochenen Streik wieder auf. Hauptstreitpunkt war die Höhe der im Rahmen eines Sozialplans vom Unternehmen auszuschüttenden Entschädigung im Falle einer Betriebsschliessung. Nach gut einer Woche gaben die Streikenden auf und akzeptierten den zwischen der Gewerkschaft Comedia und der britischen Firma ausgehandelten und um eine Beschäftigungsgarantie bis Juni ergänzten Sozialplan. Am 10. Juni wurde die Betriebsstätte in Crissier endgültig geschlossen
[17].
Im Kanton Zürich legten im Juli rund 100 Chauffeure der Firma, welche die Konzession für den
Taxibetrieb am Flughafen Kloten besitzt, ihre Arbeit für fünf Tage nieder. Die Lohnforderungen der von der Gewerkschaft Unia vertretenen Taxifahrer wurden teilweise erfüllt
[18]. Im Kanton Tessin traten im Herbst 22 Beschäftigte der
Schifffahrtgesellschaft Luganersee für fünf Tage in den Ausstand. Sie protestierten damit gegen Entlassungen und stellten die Aktion ein, nachdem Gespräche über einen Sozialplan vereinbart worden waren
[19].
In der Volksabstimmung vom 25. September hiess das Volk mit einer Mehrheit von 56% die Erweiterung des
Personenfreizügigkeitsabkommens auf die zehn neuen EU-Mitgliedsstaaten sowie die flankierenden Massnahmen gut
[20]. Dank diesen vom Parlament beschlossenen flankierenden Massnahmen zur Verhinderung von Lohndumping hatten die Gewerkschaften und in ihrem Gefolge die SP, die GP und die PdA ihre ursprünglichen Einwände aufgegeben und die Vorlage auch in der Volksabstimmung unterstützt. An der Unterschriftensammlung für das Referendum beteiligte sich allerdings neben der SVP und den Schweizer Demokraten auch ein aus der äusseren Linken und einzelnen Funktionären des SGB und seiner Mitgliedergewerkschaften gebildetes Komitee
[21].
Der Nationalrat stimmte diskussionslos einem Postulat Fehr (sp, SH) zu, das vom Bundesrat eine jährliche, nach Kantonen differenzierte Berichterstattung über den
Vollzug der flankierenden Massnahmen verlangt
[22]. Diese flankierenden Massnahmen sind schweizerisches Recht und gelten daher für
im Ausland ansässige Personalverleihungsfirmen nicht. Deren Tätigkeit ist in der Schweiz zwar grundsätzlich verboten, kann von den Kantonen jedoch in bestimmten Fällen erlaubt werden. Obwohl diese Regelung für Ausnahmefälle geschaffen wurde, bei denen in der Schweiz gar kein geeignetes Personal rekrutierbar ist (z.B. für hochspezialisierte Reinigungs- und Wartungsarbeiten in Kernkraftwerken), bestand die Gefahr, dass diese Bestimmung in Zukunft zur Umgehung der flankierenden Massnahmen ausgenutzt werden könnte. Der Nationalrat überwies deshalb einstimmig und im Einvernehmen mit dem Bundesrat eine Motion Gysin (fdp, BL) für eine Aufhebung dieser Ausnahmeregelung; die kleine Kammer schloss sich diesem Entscheid an
[23].
[12]
TA, 7.6. und 13.6.05. Zu den Malern und Gipsern siehe
SPJ 2004, S. 168. Zur Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit siehe oben, Teil I, 2 (Europe: UE).
[15]
NZZ, 16.9.05;
WoZ, 22.9.05. Vgl.
SPJ 2004, S. 168.
[16]
QJ, 16.11. und 13.12.05. Siehe
SPJ 2004, S. 168 f.
[17]
24h, 18.1., 27.1. und 4.6.05. Vgl.
SPJ 2004, S. 169.
[18]
TA, 7.7., 9.7., 12.7., 15.7. und 16.7.05.
[20] Siehe dazu oben, Teil I, 2 (Europe: UE).
[21]
NLZ, 11.1.05 (Referendumskomitee).
[22]
AB NR, 2005, S. 1975.
[23]
AB NR, 2005, S. 452;
AB SR, 2005, S. 769.
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