Année politique Suisse 2007 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Invalidenversicherung
Am 7. Juni stimmte das Volk mit einer
Mehrheit von 59,1% der 5. Revision des Invalidenversicherungsgesetzes zu. Die im Vorjahr vom Parlament beschlossene Revision beinhaltete einerseits einige Sparmassnahmen wie die vor allem angegriffene Abschaffung der Zusatzrente für Ehepartner und wollte andererseits die Integration von Behinderten in das Berufsleben verbessern
[6]. Eine Mehrzahl von Behindertenorganisationen, die SP, die GP und die Gewerkschaften bekämpften das Projekt. Ihr Hauptargument war, dass damit die Behinderten die alleinige Last der Sanierung der defizitären Invalidenversicherung tragen müssten. Die grösste Invalidenorganisation, die Pro Infirmis, hatte wegen der von ihr als positiv eingeschätzten Integrationsmassnahmen das Referendum nicht unterstützt und verzichtete auf die Abgabe einer Parole. Zu den Befürwortern der Revision zählten FDP, CVP, SVP, EVP, LP sowie die Unternehmerverbände. Dabei unterschieden sich allerdings ihre Argumentationen. Die FDP und die CVP betonten die Notwendigkeit von Sparmassnahmen mit dem Zweck des Abbaus des Defizits während die SVP – kurz vor den nationalen Wahlen – die Vorlage als ihr zu verdankende Massnahme zur Bekämpfung der betrügerischen Inanspruchnahme der IV durch so genannte Scheininvalide propagierte. Trotz einer zum Teil sehr emotional geführten Kampagne interessierten sich nur relativ wenige Stimmberechtigte für das Thema; die Stimmbeteiligung lag mit 36,2% weit unter dem Durchschnittswert
[7].
Die Zustimmung fiel mit fast 60% klar aus und war in den ländlichen zentral- und ostschweizerischen Regionen am ausgeprägtesten. Eine ablehnende Mehrheit gab es nur in den Westschweizer Kantonen Neuenburg, Genf, Freiburg und Jura, wobei einzig im Jura (55% Nein) die Entscheidung deutlich war. Die Vox-Analyse ergab, dass insbesondere die
Einstufung auf der Links-Rechts-Achse und eng verbunden damit die Parteisympathie den Ausschlag für den Entscheid gegeben hatten. Sich links einstufende Personen und Anhänger der SP stimmten im Verhältnis drei zu eins dagegen. Die Sympathisanten der CVP stimmten zu 67% mit Ja, diejenigen der FDP und der SVP zu 86% resp. 89%. Bei den Argumenten war zwischen den Befürwortern und Gegnern vor allem die Frage umstritten, ob es sich bei der Revision um einen Sozialabbau handle oder nicht. Einige Wirkung zeigte auch das SVP-Argument, dass die IV oft missbräuchlich bezogen und die Revision dies in Zukunft verhindern würde
[8].
Invalidenversicherungsgesetz
Abstimmung vom 17. Juni 2007
Beteiligung: 36,2%
Ja: 1 039 282 (59,1%)
Nein: 719 628 (40,9%)
Parolen:
– Ja: CVP, FDP, SVP, LP, EVP (1*), EDU, FPS, Lega; Economiesuisse, SGV, SBV.
– Nein: SP, GP, CSP, PdA, SD; SGB, Travail.Suisse.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Auch wenn die bei der 5. IV-Revision beschlossenen Massnahmen ausgabenseitig zu einer finanziellen Entlastung der Gesamtrechnung führen werden, genügen sie doch nicht, das seit Jahren anhaltende Defizit auszugleichen und die beim AHV-Fonds aufgelaufenen Schulden zu tilgen. Aus diesem Grund hatte der Bundesrat dem Parlament eine Paketlösung vorgeschlagen. Diese sah erstens eine materielle Revision des IV-Gesetzes (IVG) vor, die 2006 von den Räten verabschiedet, und vom Volk nach einem Referendum 2007 gutgeheissen worden war (siehe oben). Zweitens hatte die Regierung eine
Erhöhung der Lohnprozente um 0,1 Prozentpunkte auf 1,5% beantragt. Zur längerfristigen Sanierung der IV-Rechnung schlug der Bundesrat zudem in einer Zusatzbotschaft vor, den
Mehrwertsteuersatz (MWSt) um linear 0,8 Prozentpunkte anzuheben. Gegen den Widerstand des links-grünen Lagers hatten die Räte im Vorjahr das Paket aufgebrochen und beschlossen, sämtliche Finanzierungsbeschlüsse separat zu behandeln
[9].
In der Frühjahrssession scheiterte die Zusatzfinanzierung vorerst im Nationalrat, der in der Gesamtabstimmung die beiden Vorlagen mit 100 zu 77 resp. mit 93 zu 85 Stimmen ablehnte. Dieser Absturz war das Ergebnis taktischer Überlegungen, bei denen die SVP die Hauptrolle spielte. Sie opponierte von Anbeginn weg jeder Zusatzfinanzierung und erreichte mit gezielten Stimmenthaltungen, dass das von der Kommission in Abweichung zum Bundesrat ausgearbeitete Finanzierungskonzept am Ende derart widersprüchlich war, dass es auch von der FDP und der CVP abgelehnt wurde. Die Kommission hatte vorgeschlagen, die Erhöhung der MWSt auf sieben Jahre zu befristen und von der Bedingung abhängig zu machen, dass die materielle 5. IV-Revision in der Volksabstimmung angenommen werde, ein Junktim, welches die Linke erfolglos als „erpresserisch“ anprangerte. Nicht durchsetzen konnte sich das linke Lager auch mit der Forderung, lediglich die Lohnprozente, nicht aber die MWSt anzuheben, um die unteren Einkommen tendenziell zu entlasten und eine obligatorische Volksabstimmung über die Veränderung des Mehrwertsteuersatzes mit ungewissem Ausgang zu vermeiden. Die bürgerliche Mehrheit hielt dem entgegen, eine damit herbeigeführte Verteuerung der Arbeitskosten könnte das Wirtschaftswachstum und die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz gefährden. Ganz knapp unterlag die SP ebenfalls mit ihrem Antrag, dass der Bund ab 2008 im Rahmen einer Sonderfinanzierung nicht nur die Zinsen der aufgelaufenen IV-Schulden von knapp 10 Mia Fr. übernehmen, wie dies die Ratsmehrheit wollte, sondern die Schulden selber abtragen soll.
Durchsetzen konnte sich das links-grüne Lager aber in einem anderen zentralen Punkt. Unter Mithilfe der rein taktisch agierenden SVP gelang es ihm, die
Befristung zu streichen und aus der siebenjährigen MWSt-Erhöhung eine dauerhafte zu machen. Dieser Entscheid liess die Wogen hoch gehen. Die FDP und die CVP warnten vergebens davor, dass die Finanzierung nun nicht mehr mehrheitsfähig und die Volksabstimmung kaum zu gewinnen sei. FDP-Parteipräsident Pelli (TI) ging insbesondere mit der SVP hart ins Gericht. Er beschuldigte sie, die Vorlage zu pervertieren und gleich wie die SP primär Wahlkampf zu betreiben. Die SVP nahm die Vorwürfe gelassen und erklärte, sie werde so oder so jede Zusatzfinanzierung ablehnen; notwendig seien vielmehr weitere ausgabenseitige Massnahmen. In der Gesamtabstimmung votierten schliesslich nur noch die Grünen und die SP für diese unbefristete Zusatzfinanzierung. FDP und CVP liessen sie ohne Bedenken abstürzen, in der Hoffnung, dass der Ständerat das Projekt in ihrem Sinn wieder aufgleisen werde
[10].
Dies tat die zuständige Kommission des
Ständerates denn auch im Lauf des Sommers. Sie begnügte sich nicht damit, einfach die gescheiterte MWSt-Erhöhung wieder aufs Tapet zu bringen, sondern strebte nach einem nachhaltigen Sanierungsmodell für die angeschlagene IV. Ihre Ausgangslage war insofern etwas günstiger, als zwischenzeitlich die materiellen Revisionspunkte der 5. IV-Revision in der Volksabstimmung recht deutlich angenommen worden waren. Ihr Lösungsvorschlag wurde sowohl im Plenum als auch von Bundesrat Couchepin mit viel Lob bedacht und von allen politischen Parteien oppositionslos übernommen. Das Modell sieht vor, die
MWSt für die Dauer von sieben Jahren zu erhöhen: Den Normalsatz um 0,5 Prozentpunkte auf 8,1%, den reduzierten Satz und den Hotellerie-Satz um je 0,2 Prozentpunkte auf 2,6 bzw. 3,8%. Mit diesen neuen Einnahmen soll das jährliche Defizit von 1,5 bis 1,8 Mia Fr. gedeckt werden, das die IV voraussichtlich auch nach Inkrafttreten der 5. IV-Revision schreiben wird. Die Steuererhöhung, die Volk und Ständen vorgelegt werden muss und schätzungsweise 2010 wirksam werden könnte, soll mit einer
Verselbständigung des IV-Fonds verknüpft werden. Heute werden die Schulden der IV über den gemeinsamen Ausgleichsfonds von AHV, IV und EO finanziert. Der neu zu schaffende IV-Ausgleichsfonds soll von der AHV eine Starthilfe von 5 Mia Fr. erhalten. Entgegen früheren Plänen werden die IV-Schulden nicht abgeschrieben, obgleich niemand realistischerweise mit einer Rückzahlung rechnet, sondern bleiben bestehen und müssen zu Gunsten der AHV verzinst werden; zwei Drittel der Zinszahlungen übernimmt der Bund, ein Drittel die IV. In der Gesamtabstimmung nahm der Ständerat beide Vorlagen einstimmig an
[11].
Im Vorjahr hatte der Ständerat oppositionslos eine Motion seiner GPK verabschiedet, die den Bundesrat beauftragt, die Entwicklung der Invalidenrenten in der Bundesverwaltung näher zu durchleuchten, da seit Jahren die
öffentlichen Verwaltungen eine überdurchschnittliche Invalidisierungsquote aufweisen. Der Nationalrat überwies nun den Vorstoss ebenfalls
[12].
Die Bestimmung des Invaliditätsgrades und damit die Höhe der Invalidenrente stützt sich auf einen Vergleich zwischen dem Einkommen, das die versicherte Person ohne Gesundheitsschaden erzielen würde, und jenem, das sie mit der ihr verbleibenden Arbeitsfähigkeit bestenfalls noch erreichen kann. Bei der Ermittlung dieses Ersatzeinkommens war es immer wieder zu Streitigkeiten gekommen. In einem Grundsatzurteil hatte das Eidgenössische Versicherungsgericht festgehalten, dass nicht das
Lohnniveau der betreffenden Gegend, sondern die Durchschnittswerte der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung massgebend sein sollen, wodurch IV-Rentner in strukturschwachen Regionen nicht mehr benachteiligt werden. In einer mit Zustimmung des Bundesrates überwiesenen Motion forderte Robbiani (cvp, TI) die Landesregierung nun auf, die Vollzugsbestimmungen zum Bundesgesetz über die Invalidenversicherung anzupassen
[13].
Im Einverständnis mit dem Bundesrat stimmte der Nationalrat einer Motion Müller (fdp, SG) zu, welche eine gesetzliche Anpassung in dem Sinn verlangt, dass den Patienten der Invalidenversicherung bei öffentlichen und öffentlich subventionierten
Spitälern grundsätzlich die gleichen
Tarife und Kosten verrechnet werden wie den Patienten der obligatorischen Krankenversicherung. Je nach Kanton können die IV-Tarife höher ausfallen, da für diese Patienten die anteilsmässige Kostenbeteiligung der Kantone nicht explizit festgeschrieben ist. Der Rat befand, angesichts der schwierigen finanziellen Lage der IV sei diese Differenzierung nicht länger zu rechtfertigen
[14].
Mit einer Interpellation verlangte Ständerat Reimann (svp, AG) vom Bundesrat Auskunft darüber, wie die
Nationalitäten unter den IV-Bezügerinnen und -bezügern verteilt sind, da seine Partei immer wieder mutmasst, die finanzielle Schieflage der IV sei insbesondere durch eine rapide Zunahme der Bezüger in der ausländischen Bevölkerung verursacht. Aus der Antwort des Bundesrates ging hervor, dass 65% der in der IV registrierten Personen einen Schweizer Pass besitzen. 2006 gingen 68% der Leistungen an schweizerische Staatsangehörige. Auf Fragen aus der SVP in den Fragestunden des Nationalrates führte der Bundesrat aus, bei den Neurenten sei der Anteil von Personen aus Ex-Jugoslawien überproportional
[15].
[6] Siehe dazu
SPJ 2006, S. 199 ff.
[7] Presse vom 1.5.-16.6.07.
[8]
BBl, 2007, S. 6015 f.; Presse vom 18.6.07; Milic, Thomas,
Vox – Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 17. Juni 2007, Zürich und Bern 2007.
[9] Siehe
SPJ 2006, S. 199 ff. Eine Zusammenfassung der Gründe, welche den BR zu den beiden Finanzierungsbotschaften geführt haben, findet sich in seiner Antwort auf eine Interpellation im SR (
AB SR, 2007, S. 305 f.).
[10]
AB NR, 2007, S. 359 ff. und 404 ff.
[11]
AB SR, 2007, S. 1132 ff. und 1138 ff.
[12]
AB NR, 2007, S. 113 f. Siehe
SPJ 2006, S.199.
[13]
AB NR, 2007, S. 1139.
[14]
AB NR, 2007, S. 1710.
[15]
AB SR, 2007, S. 889 f.;
AB NR, 2007, S. 767, 769 und 1524 f. Siehe auch die Stellungnahme des BR zu zwei noch nicht behandelten Vorstössen (Geschäfte 07.3198 und 07.3518).
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