Année politique Suisse 2008 : Grundlagen der Staatsordnung
Politische Grundfragen und Nationalbewusstsein
Die Abwahl von Bundesrat Blocher Ende 2007 belebte die Diskussion über das schweizerische Konkordanzsystem. – Wegen der Störaktionen von Rechtsextremen in den letzten Jahren wurde die Bundesfeier auf dem Rütli nur noch in einem kleinen Rahmen durchgeführt. – Die Vernehmlassung über den Vorentwurf für ein Gesetz zum Schutz der Marke Schweiz und des Schweizer Wappens ergab einige Kritik. – Die Genferinnen und Genfer wählten einen Verfassungsrat.
 
Grundsatzfragen
Mit der Nichtwiederwahl von Bundesrat Blocher Ende 2007 und dem darauf folgenden Parteiausschluss resp. -austritt der SVP-Bundesräte Widmer-Schlumpf und Schmid war vom Sommer an zum ersten Mal seit 1959 eine der vier grössten Parteien nicht mehr in der Landesregierung vertreten. Dass es mit der SVP die mit Abstand stärkste betraf, machte die Situation erst recht brisant. Von einer Konkordanzregierung durfte deshalb im Jahre 2008 nicht mehr gesprochen werden, und die Ankündigung der SVP, eine permanente und aggressive Oppositionspolitik betreiben zu wollen, liess Schlimmes für das Funktionieren der politischen Institutionen und die Stabilität des Systems befürchten.
Es zeigte sich dann aber bald, dass diese Befürchtungen übertrieben waren. Zum einen war die SVP, wie auf der anderen Seite des politischen Spektrums auch die SP, schon vorher als Regierungspartei oft in Opposition zur Parlamentsmehrheit und zum Bundesrat gewesen und hatte deren Entscheide in Volksabstimmungen bekämpft. Zum anderen hatte die SVP in den Nationalratswahlen vom Herbst 2007 ihre Position als stärkste Partei zwar noch ausgebaut, sie war aber mit 62 von 200 Sitzen (und gar bloss 8 von 46 im Ständerat) weiterhin eine Minderheitspartei geblieben. Sie konnte deshalb im Parlament, wenn sie sich nicht den anderen bürgerlichen Parteien anschloss, keine wesentliche Rolle spielen. Mit ihren eigenen Vorstössen unterlag sie wie schon in den früheren Jahren fast immer klar. Erfolg hatte sie nur einige Male, als sie zusammen mit der Linken Entscheide blockieren konnte, z.B. in der Armeepolitik. Aber nicht nur im Parlament, sondern auch in den Volksabstimmungen blieb sie erfolglos und musste bei ihrer Volksinitiative zur Einbürgerungspolitik sogar eine Schlappe einstecken.
Gelungen ist der SVP als Oppositionspartei eigentlich nur die Dauerkampagne gegen ihre ehemaligen Parteimitglieder im Bundesrat. VBS-Vorsteher Samuel Schmid gab im Herbst entnervt auf. Die SVP meldete sofort ihren Anspruch auf den frei werdenden Sitz an und ihr früherer Präsident Ueli Maurer (ZH) wurde vom Parlament zu Schmids Nachfolger gewählt. Damit war das Konkordanzsystem formal wieder hergestellt, auch wenn die SVP noch nicht gemäss ihrem Wähleranteil in der Regierung vertreten ist [1].
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Nationale Identität
Nach den Vorkommnissen an den Bundesfeiern auf dem Rütli (UR) in den letzten Jahren wurde die Veranstaltung im Berichtsjahr in kleinerem Rahmen durchgeführt. Insbesondere wurde auf den Auftritt eines Mitglieds der Landesregierung verzichtet, was das Interesse der Medien markant schrumpfen liess. Um die Rechtsextremisten fernzuhalten, welche die Feier bis 2006 jeweils gestört und die riesige Medienpräsenz für einen propagandistischen Auftritt genutzt hatten, wurden auch dieses Jahr nur angemeldete und akzeptierte Gäste zugelassen. Eine als Ersatz für den entgangenen Auftritt von rund 300 Faschisten am 3. August auf dem Rütli durchgeführte Kundgebung fand praktisch keine Beachtung in den Medien. Die Rechtsextremen hatten sich ohnehin, nach ihrer Verdrängung vom Rütli im Vorjahr, andere patriotische Feiern zur Markierung ihrer Präsenz ausgesucht. Anfangs April traten sie an der Gedenkfeier zur Schlacht von Näfels (1388) im Kanton Glarus auf, und im Juni marschierten sie bei der Feier zur Schlacht von 1386 in Sempach (LU) mit. Die Luzerner Behörden sahen keinen Anlass, etwas gegen die Beteiligung der PNOS (Partei National Orientierter Schweizer) und anderer Rechtsextremisten an der Sempacher Feier zu unternehmen. Diese hätten sich in den Vorjahren stets anständig benommen und ihr Kranzlegungsritual mit der sich an der faschistischen Frontenbewegung der 30er Jahre orientierenden Symbolik erst nach der offiziellen Feier durchgeführt [2].
Im November beantragte die Rechtskommission des Nationalrats der Bundesversammlung ein Gesetz über die Rehabilitierung der schweizerischen Kämpfer auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg von 1936-39. Von den rund 650 Bürgerkriegsteilnehmern waren nach ihrer Rückkehr in die Schweiz über 400 zumeist wegen der Leistung von Kriegsdienst in einer ausländischen Armee verurteilt worden. Diese Urteile wollte die Kommission nun mit dem neuen Gesetz generell aufheben. Sie begründete ihr Vorhaben damit, dass diese Personen die „auch für unser Staatswesen grundlegenden Werte der Freiheit und Demokratie verteidigt“ haben. Ihre Verurteilungen seien zwar nach dem damals und auch heute noch geltenden Strafrechtsartikel, welcher den Dienst in fremden Heeren untersagt, juristisch korrekt gewesen. Ihr Kampf gegen den Faschismus solle aber aus heutiger Sicht als historische Leistung gewürdigt und ihre Verurteilung aufgehoben werden. Ein Anspruch auf irgendwelche Entschädigungszahlungen ergebe sich daraus nicht und sei von den Betroffenen auch nie erhoben worden. Die Aktivität der Rechtskommission des Nationalrats war durch eine 2006 eingereichte parlamentarische Initiative Rechsteiner (sp, SG) ausgelöst worden. Nahezu alle anderen westlichen Staaten haben ihre Spanienkämpfer schon seit langem rehabilitiert. Die Kommission hatte dem Vorstoss gegen die Stimmen der SVP Folge gegeben und die Rechtskommission des Ständerats hatte sich diesem Entscheid im Frühjahr 2008 einstimmig angeschlossen. Bei der im Jahr 2002 erfolgten Behandlung der Vorlage über die Rehabilitierung der Flüchtlingshelfer im zweiten Weltkrieg war der Einbezug der Spanienkämpfer noch nicht mehrheitsfähig gewesen. Der Bundesrat hatte gegen die Vorschläge der Rechtskommission nichts einzuwenden. Als Erstrat befasste sich der Nationalrat in der Dezembersession damit. Das Gesetz wurde von der SVP bekämpft, deren Sprecher Heer (ZH) argumentierte, dass diese Personen zu Recht verurteilt worden seien und es kein ehrenhaftes Motiv gegeben habe, sich für die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg zu engagieren. Der Rückweisungsantrag wurde allerdings nur von einer Minderheit der SVP-Fraktion unterstützt; die Mehrheit der SVP enthielt sich der Stimme oder befand sich im Moment der Abstimmung nicht im Saal. Alle anderen Fraktionen befürworteten die Rehabilitierung der Spanienkämpfer einhellig [3].
Im Tessin monierte Marco Solari, die für ca. 2020 vorgesehene Eröffnung des Gotthardbasistunnels mit einer Landesausstellung im Tessin und allfällig auch den Nachbarkantonen Graubünden, Uri und Wallis zu kombinieren. Die Tessiner Regierung nahm diese Idee auf und versprach, eine Machbarkeitsstudie in Auftrag zu geben. Erste Vorabklärungen über die Durchführung der nächsten Landesausstellung in ihrer Region führten auch die Ostschweizer Kantone St. Gallen, Schaffhausen und Thurgau durch [4].
Als Zweitrat hiess auch der Nationalrat die Beteiligung der Schweiz an der Weltausstellung von 2010 in Schanghai (China) gut und bewilligte den Kredit von 20 Mio Fr. Ein Antrag Rennwald (sp, JU), der die Beteiligung der Schweiz von einer formellen Verpflichtung Chinas zu einer menschen- und sozialrechtskonformen Politik abhängig machen wollte, scheiterte deutlich [5].
Die Vernehmlassung über den Vorentwurf für ein Gesetz zum Schutz der Marke Schweiz und des Schweizer Wappens ergab einige Kritik. Einerseits wurde die Bestimmung kontrovers beurteilt, dass bei Industrieprodukten ein Mindestanteil von 60% der Herstellungskosten in der Schweiz anfallen muss, wenn das Erzeugnis die Bezeichnung „Swiss made“ tragen soll. Andererseits kritisierten einige Firmen und Interessenverbände, die bisher das Schweizer Wappen (Schild mit Schweizer Kreuz) verwendet hatten, dass sie in Zukunft nur noch die Schweizer Fahne oder das Schweizer Kreuz auf ihren Produkten oder in ihrem Logo einsetzen dürfen. Die Bundesverwaltung konterte dies mit dem Hinweis, dass die Verwendung des Wappens bereits heute auf der Grundlage des Wappenschutzgesetzes von 1931 an sich nicht erlaubt sei und das neue Gesetz in dieser Beziehung deshalb keine Verschärfung darstelle. Im Oktober beauftragte der Bundesrat das EJPD mit der Ausarbeitung einer Gesetzesvorlage. Dabei ging er auf die Vernehmlassungsergebnisse ein, indem er beschloss, dass Firmen und andere Institutionen, welche das Schweizer Wappen seit Jahrzehnten auf ihren Produkten oder in ihrem Logo verwendet haben, dies auch weiterhin tun dürfen [6].
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Stimmung in der Bevölkerung
Die von der GfS-Bern im Auftrag der Crédit Suisse jährlich durchgeführte repräsentative Befragung über die wichtigsten Sorgen der Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz ergab für 2008 keine markanten Veränderungen gegenüber dem Vorjahr. Die Resultate waren noch stark geprägt von der Hochkonjunkturstimmung und den damit verbundenen massiven Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln und Erdölprodukten. Die Angst vor Inflation nahm um 12 Prozentpunkte zu und kam auf Rang 4. An der Spitze der Sorgenliste standen aber nach wie vor die von 53% der Befragten genannte Arbeitslosigkeit (-4% gegenüber 2007), das Gesundheitswesen (40%; -2%) und die Altersvorsorge (39%; -6%). Die Ausländerproblematik, welche im Wahljahr 2007 für viele an Bedeutung gewonnen hatte, erschien nun wieder weniger wichtig (24%; -11%) [7].
 
Kantonale Verfassungsrevisionen
Im Kanton Genf stimmten die Bürgerinnen und Bürger im Februar mit einem Ja-Stimmenanteil von 79% dem Projekt zu, durch einen Verfassungsrat eine neue kantonale Verfassung ausarbeiten zu lassen. Im Herbst wählten sie diesen achtzig Mitglieder zählenden Verfassungsrat. Die parteipolitische Zusammensetzung kam ähnlich heraus wie diejenige des Grossen Rates. Erfolgreich waren auch einige parteiunabhängige Listen. So erzielte die der Linken zuzuordnende Rentnervereinigung Avivo neun Sitze und eine Arbeitgeberliste kam auf sechs Mandate. Insgesamt sind die bürgerlichen Kräfte leicht in der Überzahl. Zur allgemeinen Überraschung sind im Genfer Verfassungsrat die Frauen (Anteil von 17,5%) und, bei einem Durchschnittsalter der Abgeordneten von 56 Jahren, vor allem die Jungen sehr schlecht vertreten [8].
Im Kanton Wallis scheiterte der Versuch der FDP, die Totalrevision der Kantonsverfassung mit einer Volksinitiative zu verlangen. Nachdem bis zum Frühjahr des Berichtsjahres nur etwa die Hälfte der benötigten Unterschriften gesammelt war, gaben die Freisinnigen das Vorhaben auf und kündigten an, die Revision auf parlamentarischem Weg einzuleiten [9].
Im Kanton Schwyz stellte die Verfassungskommission im Sommer ihren Entwurf vor und gab ihn in eine bis Ende Januar 2009 dauernde Vernehmlassung [10].
 
Weiterführende Literatur
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Allgemeines
Andrey, Georges, Histoire suisse pour les nuls, Paris 2007.
Bernhard, Roberto (Red.), Wenn's an die Fundamente geht: Identität, Veränderung und Zusammenhalt der Schweiz = Réviser les fondements : identité, évolution et cohésion de la Suisse = Rivisitare i fondamenti : identità, evoluzione e coesione della Svizzera = Reponderar ils fundaments : identitad, midament e coesiun de la Svizra, Zürich (Publikation NHG) 2008.
„Debate: Communicative Nation and multi-nationalism“, in Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2008, S. 551-77 (Beiträge von Paolo Dardanelli und Donald Ipperciel).
Holenstein, André e.a. (Hg.), The Republican alternative: the Netherlands and Switzerland compared, Amsterdam (University Press) 2008.
Kuntz, Joëlle, Histoire suisse en un clin d’oeil, Carouge 2006.
Linder, Wolf / Zürcher, Regula / Bolliger, Christian, Gespaltene Schweiz – geeinte Schweiz: Gesellschaftliche Spaltungen und Konkordanz bei den Volksabstimmungen seit 1874, Baden 2008.
Meuwly, Olivier, La liberté cacophonique : essai sur la crise des droites suisses, Genève 2008.
Reszler, André, Les Suisses (s'ils existent)... : l'identité suisse et sa relation à l'Europe, Genève 2008.
Sauer, Juliane, Codierung und Decodierung schweizerischer nationaler Identität am Beispiel der "Expo.02", s.l. (Diss. Wirtschafts- und Sozialwiss. Freiburg/Schweiz) 2008.
Vatter, Adrian, „Vom Extremtyp zum Normalfall? Die schweizerische Konsensusdemokratie im Wandel“, in Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2008, S. 1-47.
Widmer, Paul, Die Schweiz als Sonderfall, Zürich 2007.
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Verfassungsfragen
Häfelin, Ulrich / Haller, Walter / Keller, Helen, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich (7., stark überarb. Aufl.) 2008.
Haller, Walter / Kölz, Alfred / Gächter, Thomas, Allgemeines Staatsrecht, Basel (4., neu überarb. und erg. Aufl.) 2008.
Nuspliger, Kurt / Bundi Caldelari, Christina, Bernisches Staatsrecht und Grundzüge des Verfassungsrechts der Kantone, Bern (3., überarb. und erg. Aufl.) 2008.
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H.H.
 
[1] Zu den Bundesratswahlen siehe unten, Teil I, 1c (Regierung). Vgl. auch Kenneth Angst, „Unterwegs zum ‚tripolaren‘ Klassen- und Kulturkampf“, in AZ, 4.3.08; Adrian Vatter, „Auf dem Weg zu einer ‚normalen‘ Verhandlungsdemokratie“, in NZZ, 12.3.08; Leonhard Neidhart, „Die ‚Konkordanzdämmerung‘“, in NZZ, 7.7.08; Andreas Gross, „Kern der Konkordanz“, in AZ, 18.9.08 sowie Lit. Vatter.
[2] Rütli: NLZ, 23.4.08; Presse vom 2.8.08; Blick und NZZ, 4.8.08. Näfels: BüZ, 7.4.08. Sempach: TA, 23.4. und 6.6.08; BZ, 27.6.08; SoZ, 29.6.08. Siehe SPJ 2007, S. 14 f.
[3] BBl, 2008, S. 9147 ff. und 9161 (BR); AB NR, 2008, S. 1636 ff.; TA, 27.11.08. Zu den Flüchtlingshelfern siehe SPJ 2002, S. 15.
[4] Tessin: SGT, 3.5.08. Ostschweiz: SGT, 13.9.08. Für die letzte Landsausstellung, expo.02, siehe SPJ 2007, S. 18 ff.
[5] AB NR, 2008, S. 38 ff.; BBl, 2008, S. 2489; Bund, 5.3.08. Siehe SPJ 2007, S. 15.
[6] NLZ, 1.4.08; NZZ, 16.10.08. Zu den wirtschaftlichen Aspekten siehe unten, Teil I, 4a (Strukturpolitik). Siehe SPJ 2007, S. 15.
[7] Bund und NZZ, 16.12.08 (es wurde nach den fünf wichtigsten Sorgen gefragt). Vgl. SPJ 2007, S. 15.
[8] TG, 25.2., 20.10. und 21.10.08; LT, 20.10.08; NZZ, 22.10.08. Siehe SPJ 2007, S. 16.
[9] NF, 21.3.08. Siehe SPJ 2007, S. 16.
[10] NLZ, 16.8.08. Siehe SPJ 2006, S. 15.
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