Année politique Suisse 2008 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
Forschung
Als Erstrat befasste sich der
Nationalrat in der Herbstsession mit dem
Verfassungsartikel zur Forschung am Menschen. Das Eintreten auf die Vorlage war nicht bestritten. Uneinig war sich die grosse Kammer aber in der Frage, wie detailliert der Verfassungsartikel sein soll. Eine Mehrheit der vorberatenden Kommission beantragte, dem Vorschlag des Bundesrates zu folgen und die Grundsätze der Forschung auf Verfassungsstufe zu verankern. Eine Minderheit I, unterstützt von der Grünen Fraktion, verlangte, dass Forschungsvorhaben an Urteilsunfähigen nur durchgeführt werden dürfen, wenn sie für die Betroffenen einen direkten Nutzen erwarten lassen. Dieser Vorschlag wurde vom Rat mit 121 zu 52 Stimmen abgelehnt. Dagegen sprach sich die grosse Kammer mit 105 zu 73 Stimmen für den Antrag einer Minderheit II aus, der die Verfassungsbestimmung auf eine blosse Kompetenznorm beschränkt. Die wichtigsten Anliegen in diesem Bereich seien bereits hinreichend geregelt, so dass für Doppelspurigkeiten im Verfassungstext keine Notwendigkeit bestehe, machte Füglistaler (svp, AG) als Sprecher der Minderheit II geltend. Die SP-Fraktion protestierte gegen den Entscheid und erklärte, dass sie einen derart geschwächten Artikel in der Volksabstimmung nicht mittragen werde. Am Ende hiess der Nationalrat die neue Verfassungsbestimmung mit 114 zu 45 Stimmen gut
[60].
In der Wintersession befasste sich der
Ständerat mit der Vorlage. Im Gegensatz zur grossen Kammer will er dem Bund nicht nur die Kompetenz für Gesetze erteilen, sondern die Grundsätze zur Forschung am Menschen bereits auf Verfassungsstufe festlegen. Der Rat stimmte mit 33 zu 0 Stimmen dem Vorschlag seiner vorberatenden Kommission zu. Dieser entspricht im Wesentlichen den ursprünglichen Plänen des Bundesrats. Die zwingenden Richtlinien auf Verfassungsstufe werden aber auf die biomedizinische Forschung beschränkt. Damit kam die vorberatende Kommission den Anliegen aus Kreisen der Sozial- und Geisteswissenschaften entgegen, die befürchteten, dass mit dem bundesrätlichen Vorschlag die sozialwissenschaftliche Forschung stark behindert werden könnte. Bundesrat Couchepin bezeichnete diesen Vorschlag als valabel, wies allerdings in der Ratsdebatte darauf hin, dass die Formulierung des Ständerats offen lasse, was unter biomedizinischer Forschung zu verstehen und wie die Abgrenzung zur psychologischen Forschung vorzunehmen sei
[61].
Im Januar wurde der scheidende Sankt Galler FDP-Regierungsrat und ehemalige Präsident der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren,
Hans Ulrich Stöckling für die Amtsdauer 2008-2011 zum Präsidenten des Stiftungsrats des Schweizerischen Nationalfonds gewählt
[62].
Als erster Schweizer übernimmt
Dieter Imboden (Forschungsratspräsident des Schweizerischen Nationalfonds) ab 2009 den Vorsitz der Vereinigung der Präsidenten europäischer Forschungsräte. Während der dreijährigen Präsidentschaft will er die Partnerschaft zwischen den nationalen Forschungsorganisationen und der EU verbessern und auf eine sachgerechte Rollenverteilung zwischen nationaler und europäischer Forschungsförderung hinwirken
[63].
Der Bundesrat verabschiedete im Berichtsjahr einen
Nanotechnologie-Bericht. Die Regierung will insbesondere die Kommunikation fördern, um eine sachliche Auseinandersetzung mit Chancen und Risiken der Nanotechnologie zu ermöglichen. Da die Risiken, die von synthetischen Nanomaterialien ausgehen können, noch wenig bekannt sind, setzt der Aktionsplan vor allem auf die Eigenverantwortung der Industrie. Die Mechanismen der Selbstkontrolle sollen entsprechend gestützt werden. Allfällige rechtliche Anpassungen will der Bundesrat erst ausarbeiten, wenn eine fundierte Risikobeurteilung vorliegt
[64].
Im Februar nahm in Lausanne die Schweizer
Stiftung für die Forschung in den Sozialwissenschaften (FORS) ihre Tätigkeit auf. Das neue Zentrum macht der Sozialforschung Datenbestände von Projekten, regelmässigen Erhebungen und auch der amtlichen Statistiken zugänglich. Ausserdem führt es selber Erhebungen durch und arbeitet an der Weiterentwicklung der Methoden
[65].
Im Berichtsjahr unterzeichnete die Schweiz ein Rahmenabkommen zur Verstärkung der wissenschaftlichen
Kooperation mit Slowenien. Die Vereinbarung soll gemeinsame Forschungsprojekte erleichtern sowie gegenseitige Besuche, die Einberufung von Konferenzen und den wissenschaftlichen Austausch fördern
[66].
Der Bundesrat hat im Berichtsjahr das neue
Reglement für den Schweizerischen Wissenschafts- und Technologierat (SWTR) genehmigt. Die eine der beiden Untereinheiten des SWTR, das Zentrum für Technologiefolgen-Abschätzung untersteht künftig den Akademien. Das bisher ebenfalls dem SWTR angegliederte Zentrum für Wissenschafts- und Technologiestudien (Cest) wird als solches aufgehoben, und seine Aufgaben werden neu verteilt. Die Statistik wissenschaftlicher Arbeiten ist künftig Sache der Universitäten und wird vom Staatssekretariat für Bildung- und Forschung koordiniert
[67].
Im April publizierten die Akademien der Wissenschaften Schweiz auf Basis eines Memorandums
Grundsätze zur wissenschaftlichen Integrität und Verfahrensregeln für den Umgang mit Verstössen. Namentlich im Bezug auf den Projektplan einschliesslich des Verhältnisses zum Geldgeber, auf den Umgang mit Daten und Materialien sowie auf die Publikation von Resultaten wird von den Wissenschaftlern Wahrhaftigkeit, Offenheit, Selbstdisziplin, Selbstkritik und Fairness gefordert. Die Forschungsinstitutionen werden dazu aufgerufen, wissenschaftliches Fehlverhalten nicht zu tolerieren und eine Organisation sowie ein Verfahren zur Ahndung von Verstössen vorzusehen
[68].
Im Berichtsjahr wurde an der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN) im Kanton Genf der grösste
Teilchenbeschleuniger der Welt, der Large Hadron Collider (LHC) in Betrieb genommen. Die Bauzeit für diese Experimentieranlage betrug zehn Jahre und die Kosten werden auf 10 Mia Fr. geschätzt. An der Einweihungszeremonie im Oktober nahmen über 1500 Gäste aus Politik, Wissenschaft und Forschung teil
. Den Teilchenbeschleuniger bekamen die Besucher allerdings nicht zu sehen. Kurz nach der geglückten Betriebsaufnahme am 10. September war es nämlich zu einer Panne gekommen, bei der die Maschine beschädigt und lahmgelegt wurde. Der Betrieb kann voraussichtlich erst Ende Juni 2009 wieder aufgenommen werden
[69].
In der Wintersession hiess der Ständerat ein Postulat Burkhalter (fdp, NE) gut. Damit wird der Bundesrat beauftragt, die Möglichkeit und den Nutzen einer baldigen
Beteiligung der Schweiz an den neuen Technologieinitiativen der EU zu prüfen. Es handelt sich dabei vor allem um die Europäische Gemeinschaftsinitiative für Nanoelektronik (Eniac) und die gemeinsame Technologieinitiative für eingebettete Systeme (Artemis), die beide zum Ziel haben, die Position der europäischen Industrie im Bereich der Informationstechnologien zu verbessern
[70].
Im Dezember verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zur
Teilrevision des Bundesgesetzes über die Forschung. Die Kommission für Technologie und Innovation
(KTI) des Bundes wird zu einer verwaltungsunabhängigen Behördenkommission mit eigenen Entscheidkompetenzen. Die Revision wurde in der Vernehmlassung grundsätzlich begrüsst, es gab aber auch kritische Voten zum Entwurf des Bundesrates.
Die Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten (CRUS) und die Rektorenkonferenz der Fachhochschulen (KFH) pochten auf mehr Unabhängigkeit für die KTI. Nach den Vorstellungen der CRUS sollte die KTI wie der Nationalfonds als privatrechtliche Stiftung organisiert werden. Positiv wurde die Vorlage von der SP, der CVP und den Grünen beurteilt. Die FDP verlangte dagegen eine Überarbeitung des Entwurfs und die SVP forderte eine Totalrevision des Forschungsgesetzes. Sie möchte insbesondere den Aufgabenbereich der KTI einschränken
[71].
Anfangs 2008 wurde die
Forschungsinitiative „Nano-Tera“ lanciert. Das Forschungsprogramm soll den Weg zu neuen Produkten oder Systemen im Bereich von Gesundheit, Sicherheit und Umwelt bahnen und so der Industrie zukunftsgerichtete Impulse geben. Anwendungsmöglichkeiten bestehen namentlich in der Medizin, in der Umweltbeobachtung und in der rationellen Energienutzung. Am Konsortium sind neben der ETH Zürich und der ETH Lausanne die Universitäten von Basel, Neuenburg und der italienischen Schweiz sowie das Zentrum für Elektronik und Mikrotechnik (Neuenburg) beteiligt. Die Führung liegt bei der ETH Lausanne. Der Bund stellt für das Programm während vier Jahren insgesamt 60 Mio Fr. zur Verfügung. Die Träger der einzelnen Projekte, also die Hochschulen, müssen die Hälfte der Kosten selber tragen, so dass die Summe auf 120 Mio Fr. verdoppelt wird
[72].
Im Januar wurden die Ergebnisse einer
Wirkungsprüfung der Nationalen Forschungsprogramme (NFP) veröffentlicht. Im Auftrag des Staatssekretariats für Bildung und Forschung hatte das Zentrum für Wissenschaftsstudien 12 der bisher rund 60 Programme hinsichtlich ihrer konkreten Folgen analysiert. Die Experten attestierten den Forschungsprogrammen gut sichtbare Effekte im Forschungssystem selbst. Aus den NFP resultierten zahlreiche Publikationen und Doktorate und einige führten auch zu dauerhaften Schwerpunktbildungen an den Universitäten. Zudem beurteilten sie auch die Wirkungen mit Blick auf die praktischen Anwendungen als substantiell. Verbesserungspotenzial orteten sie bei der Formulierung der Forschungsziele und der Berichterstattung
[73].
In der Frühjahrssession lehnte der Ständerat eine Motion der Finanzkommission des Nationalrats ab, mit welcher die
Vertiefung und Ausweitung dieser Wirkungsprüfung gefordert wurde. Sie sollte auch auf die Projekte des Nationalfonds und die schweizerische Beteiligung an den EU-Forschungsprogrammen ausgeweitet werden
[74].
Die Schweiz erhielt aus dem
6. EU-Forschungsrahmenprogramm (2003-2006) überproportional viele Forschungsgelder. Insgesamt wurden Schweizer Forschungsprojekte mit rund 793 Mio Fr. unterstützt, während die Schweiz das Programm mit 780 Mio Fr. mitfinanzierte. Im März vergab der Forschungsrat 300 neue Förderungsbeiträge. Dabei wurden auch 15 Forschungsvorhaben aus der Schweiz ausgewählt, die in den nächsten Jahren von finanziellen Zuschüssen profitieren können. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl und zur Zahl der Forschenden gehört die Schweiz damit zu den Spitzenreitern in Europa
[75].
Das nationale Forschungsprojekt
„Sesam“ (Swiss Etiological Study of Adjustment and Mental Health) musste 2008 eingestellt werden, da es nicht gelang, eine genügende Anzahl Probandinnen zu finden. Zum Zeitpunkt des Projektabbruchs waren bereits Forschungsgelder in der Höhe von 10 Mio Fr. geflossen. Für das Scheitern des Projekts wurden die Ethikkommission beider Basel (EKBB) und die „Sesam“-Leitung verantwortlich gemacht. Der Bundesrat kritisierte in einer Antwort auf einer Interpellation von Graf (gp, BL) die EKBB und warf ihr vor, die Bewilligung der Pilotstudie so lange verzögert zu haben, dass die Projektleitung schliesslich ohne Pilotstudie mit der eigentlichen Rekrutierung der Probandinnen beginnen musste. Die EKBB reagierte auf diesen Angriff und verwies auf zahlreiche Versäumnisse der Sesam-Leitung. Sie bemängelte insbesondere den grossen Geld- und Zeitverlust bis zur Einleitung der ethischen Prüfung und der Verzicht auf eine Machbarkeitsstudie
[76].
Zu den gentechnisch veränderten Lebensmitteln und insbesondere zum Gentech-Moratorium in der Landwirtschaft, siehe oben, Teil I, 4c (Produits alimentaires).
Im Februar erteilte das Bundesamt für Umwelt (Bafu) die definitive Bewilligung zur
Aussaat von gentechnisch verändertem Weizen auf dem Gelände der Forschungsanstalt Acroscope in Reckenholz (ZH). Das Bafu hatte die Versuche bereits im September 2007 mit etlichen (Sicherheits-)Auflagen genehmigt. Die Forschenden der ETH und der Universität Zürich wurden aber damals verpflichtet, noch weitere Informationen zu den gentechnisch veränderten Pflanzen einzureichen. Im Anschluss an die definitive Bewilligung des Bafu reichten zwölf gentechkritische Verbände – darunter Greenpeace, Pro Natura, Bio Suisse, die Stiftung für Konsumentenschutz sowie die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz – beim Uvek eine Aufsichtsbeschwerde ein. Sie forderten Bundesrat Leuenberger dazu auf, die Bewilligung für den Freisetzungsversuch bis auf weiteres zu sistieren
[77].
Im Juni drangen 35 Personen in die Forschungsanstalt Agroscope in Reckenholz (ZH) ein und zerstörten dabei einen Grossteil der Versuchsparzellen. Als Reaktion auf diesen Anschlag erhöhte der Bundesrat im Dezember das Budget für das Forschungsprogramm um 2 Mio Fr. Mit diesen zusätzlichen finanziellen Mitteln sollen die
Sicherheitsmassnahmen künftig verstärkt werden
[78].
Auch in Pully (VD) stehen die Chancen für einen
baldigen Start des Freisetzungsversuchs gut. Das Bundesverwaltungsgericht wies im Berichtsjahr eine Beschwerde der Anwohner gegen die Aussaat von gentechnisch verändertem Weizen ab
[79].
Im Oktober trat die revidierte
Freisetzungsverordnung in Kraft. Damit wurden die Gebiete, in denen gentechnisch veränderte Organismen freigesetzt werden dürfen, weiter eingeschränkt. Das Freisetzungsverbot gilt nun auch in Landschaftsschutzgebieten und Zonen mit Jagdverboten, während es bisher auf Naturschutzgebiete, Wald sowie ober- und unterirdische Gewässer begrenzt war. Darüber hinaus setzt der neue Erlass die Anforderungen für die Freisetzungsversuche fest und enthält Vorschriften für den Fall, dass das Gentech-Moratorium 2010 aufgehoben würde. Schliesslich regelt die Verordnung den Umgang mit gebietsfremden Pflanzen und Tieren. Der Import und Verkauf von 14 gebietsfremden Arten, welche die einheimische Tier- und Pflanzenwelt gefährden könnten, wird verboten
[80].
Im April präsentierte die Ethikkommission für die Biotechnologie im Ausserhumanbereich (EKAH) einen Bericht zur Beeinträchtigung der
Würde von Pflanzen. In der Verfassung und auch im Gentechnikgesetz wird von der „Würde der Kreatur“ gesprochen. Es war bisher aber unklar, was darunter bei Pflanzen zu verstehen ist. Der Bundesrat beauftragte daher die EKAH mit der Konkretisierung dieses unbestimmten Begriffs. Die Kommissionsmitglieder waren sich einig darüber, dass eine gentechnische Veränderung die Würde von Pflanzen nur dann verletzt, wenn dadurch deren Entwicklungsfähigkeit – dazu zählen etwa Wachstum oder Fortpflanzung – beeinträchtigt wird. Eng mit der Gentechnologie hängt auch die Frage der Patentierung zusammen. Die Mehrheit der Kommission wollte die Patentierung einer Pflanzenart grundsätzlich zulassen. Der Bericht soll unter anderem als Leitlinie bei Entscheiden im Bereich der Gentechnologie dienen
[81].
[60]
AB NR, 2008, S. 1043 ff.; Presse vom 16.9.08. Vgl.
SPJ 2007, S. 272.
[61]
AB SR, 2008, S. 952 ff.; Presse vom 12.12.08.
[63]
LT und
NZZ, 15.10.08.
[64]
BaZ und
NZZ, 10.4.08.
[65]
NZZ, 22.2.08. Vgl.
SPJ 2007, S. 273.
[69]
TA, 10.9.08;
NZZ, 22.10. und 6.12.08.
[70]
AB SR, 2008, S. 948.
[71]
BBl, 2009, S. 469 ff. (Botschaft);
NZZ, 1.4.08;
BaZ, 10.12.08.
[72]
NZZ und
TG, 29.1.08.
[74]
AB SR, 2008, S. 8 f. Vgl.
SPJ 2007, S. 272.
[75]
LT,
NZZ und
TA, 3.7.08.
[76]
AZ und
NZZ, 14.3.08;
BaZ, 29.5. und 12.6.08; Interpellation Graf: 08.3225.
[77]
NZZ, 8.2.08;
TA, 29.2.08.
[78] Presse vom 14.6.08;
NZZ, 13.8. und 24.12.08.
[79]
AZ und
NZZ, 14.11.08.
[81]
BaZ und
SN, 15.4.08.
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