Année politique Suisse 2009 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Familienpolitik
Der Bundesrat will die ausserfamiliäre Kinderbetreuung neu regeln. Im Juni schickte er einen entsprechenden Entwurf in die Vernehmlassung. Neben neuen Vorschriften zum Pflegekinderwesen umfasste er auch Regeln zur freiwilligen Tagesbetreuung. Die geplanten Bestimmungen sahen vor, dass nebst Krippen, Horten und Tageseinrichtungen auch Verwandte, Freunde oder Nachbarn der Eltern, welche die Kinder während mindestens 20 Stunden pro Woche beaufsichtigen, eine Bewilligung einholen müssen. Diese Vorschläge stiessen in der Vernehmlassung auf vernichtende Kritik der bürgerlichen Parteien und selbst die SP, deren Vizepräsidentin Jacqueline Fehr (ZH) den Anstoss zur Neuregelung der ausserfamiliären Kinderbetreuung gegeben hatte, zeigte sich zurückhaltend. Auch die Fachstellen, die den Entwurf grundsätzlich begrüssten, erachteten die geplanten Vorschriften teilweise als überrissen. Sie plädierten dafür, bei Verwandten, die sich regelmässig um die Kinder kümmern und bei im Privathaushalt angestellten Kindermädchen auf die Bewilligungspflicht zu verzichten  BBl, 2009, S. 4180; SGT, 6.7.09; NZZ, 21.7.09; NLZ, 31.10.09..
Aufgrund dieses teils massiven Widerstands schickte der Bundesrat im Dezember eine neue Version in die Vernehmlassung. Diese statuiert die Bewilligungspflicht nur für entgeltlich erbrachte Betreuungsleistungen – also für Krippen, Horte und Tageseinrichtungen. Auch bezüglich der Bewilligungsvorschriften wird von den ursprünglich geplanten Verschärfungen abgesehen, obwohl die Fachorganisationen dafür plädiert hatten. Der Bundesrat befürchtete, dass das ausserfamiliäre Betreuungsangebot durch die höheren Anforderungen verknappt würde  NLZ und SGT, 18.12.09..
Nachdem die beiden Räte in der ersten Jahreshälfte eine Motion der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats zur Weiterführung der Anschubfinanzierung für die familienergänzende Kinderbetreuung überwiesen hatten, schickte der Bundesrat im Juli einen entsprechenden Vorentwurf in die Vernehmlassung. Dieser sieht vor, das finanzielle Engagement des Bundes um weitere vier Jahre, bis Ende Januar 2015 zu verlängern  AB NR, 2009, S. 519 ff.; AB SR, 2009, S. 519 ff.; BBl, 2009, S. 5150; NZZ, 20.3., 2.7. und 20.10.09..
Eine Motion der Grünen Fraktion zur Finanzhilfe für familienergänzende Kinderbetreuung wurde vom Nationalrat in der Frühjahrssession mit 122 zu 72 Stimmen verworfen. Mit dem Vorstoss sollten die Anforderungen gelockert werden, welche die Einrichtungen erfüllen müssen, um von den finanziellen Beihilfen profitieren zu können  AB NR, 2009, S. 231..
Die SVP will die klassische Familie wieder ins Zentrum rücken und sprach sich an ihrer Delegiertenversammlung gegen „staatlichen Krippendrill“ und gegen die „Diskriminierung von herkömmlichen, eigenverantwortlichen Lebensgemeinschaften“ aus. Die Delegierten beschlossen einstimmig die Lancierung einer „Familien-Initiative“. Mit dem Volksbegehren verlangt die Partei, dass den Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen, für die Kinderbetreuung ein mindestens gleich hoher Steuerabzug gewährt wird wie denjenigen, die ihre Kinder fremd betreuen lassen. Sie reagierte damit auf einen Beschluss des Parlaments, das einen steuerlichen Abzug der Fremdbetreuungskosten von maximal 100 000 Fr. gutgeheissen hat  BBl, 2010, S. 281; NZZ und TA, 7.12.09. Vgl. zur steuerlichen Entlastung von Familien oben, Teil I, 5 (direkte Steuern)..
Die eidgenössischen Räte behandelten im Berichtsjahr auch zahlreiche Vorstösse zur Familienpolitik. Die kleine Kammer überwies in der Frühjahrssession ein Postulat Maury Pasquier (sp, GE), das den Bundesrat auffordert, Ursachen und Wirkungen der hohen Kaiserschnittrate in der Schweiz zu untersuchen. Im Nationalrat wurde in der Sommersession eine Motion Prelicz-Huber (gp, ZH) gutgeheissen, mit der die gesetzlichen Grundlagen so angepasst werden sollen, dass die Adoption eines Kindes ab dem zurückgelegten 30. statt dem 35. Lebensjahr möglich wird  AB SR, 2009, S. 257 ff. (Po. Maury Pasquier); AB NR, 2009, S. 1281 (Mo. Prelicz-Huber). Das Mindestalter von 30 Jahren gilt nicht für Paare, die seit mindestens fünf Jahren verheiratet sind..
Alle übrigen Vorstösse wurden vom Parlament abgelehnt. Der Nationalrat verwarf in der Frühjahrssession eine konjunkturpolitisch begründete Motion Leutenegger-Oberholzer (sp, BL) für eine auf zwei Jahre befristete Entlastung von Familien mit Kindern bei den Krankenkassenprämien. Eine gleichlautende Motion Maury Pasquier (sp, GE) fand im Ständerat in der Herbstsession ebenfalls keine Mehrheit  AB NR, 2009, S. 233 (Mo. Leutenegger-Oberholzer); AB SR, 2009, S. 523 f. (Mo. Maury Pasquier)..
Die grosse Kammer lehnte ferner eine Motion Jositsch (sp, ZH) ab, welche die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung unter Strafe stellen wollte. Obwohl die Bundesverfassung und zahlreiche kantonale Verfassungen die Diskriminierungen im Zusammenhang mit Lebensweise oder sexueller Identität ausdrücklich verbieten, kann laut Jositsch die Verleumdung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung nach geltendem Recht strafrechtlich oftmals nicht verfolgt werden  AB NR, 2009, S. 1016..
Keine Zustimmung fanden im Nationalrat auch eine parlamentarische Initiative Hodgers (gp, GE) zur Einführung eines fakultativen kantonalen Vaterschaftsurlaubs sowie eine Motion Hiltpold (fdp, GE) für einen Elternurlaub. Ebenfalls abgelehnt wurde eine Motion Barthassat (cvp, GE), mit der eine Anpassung des Militärgesetzes verlangt wurde, damit die Wiederholungskurse durch einen bezahlten Vaterschaftsurlaub ersetzt werden könnten  AB NR, 2009, S. 1280 (Mo. Hiltpold), 1659 f. (pa.Iv. Hodgers) und 2230 (Mo. Barthassat)..
In der Herbstsession verwarf er ausserdem eine parlamentarische Initiative Tschümperlin (sp, SZ) und eine parlamentarische Initiative Wehrli (cvp, SZ), die beide darauf abzielten, Entbindungen ohne Bekanntgabe der Identität der Mutter – sogenannte anonyme Geburten – zuzulassen  AB NR, 2009, S. 1660 ff..
Im Ständerat scheiterten eine Motion Maury Pasquier (sp, GE) für elterliche Präsenz bei schwerkranken Kindern sowie eine Motion Ory (sp, NE) zur Einführung eines Taggeldes für Eltern, die ihre schwer erkrankten oder verunfallten Kinder betreuen  AB SR, 2009, S. 89 ff..
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Familienzulagen
Im Mai verabschiedete die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats einstimmig einen Entwurf zur Änderung des Familienzulagengesetzes, mit dem der Anspruch auf Kinder- und Ausbildungszulagen für Selbständigerwerbende gesamtschweizerisch einführt werden soll. Laut dem Vorschlag, der auf eine parlamentarische Initiative Fasel (csp, FR) zurückgeht, würden die Zulagen durch einkommensabhängige Beiträge der Selbständigerwerbenden an die Familienausgleichskassen finanziert. Der Nationalrat trat in der Wintersession auf die Vorlage ein und hiess sie in der Gesamtabstimmung mit 95 zu 68 Stimmen gut  AB NR, 2009, S. 2302 ff.; BBl, 2009, S. 5991 ff.; NZZ, 6.5.09; Lib., 27.8.09..
Im Sommer unterbreitete der Bundesrat dem Parlament eine Änderung des Familienzulagengesetzes zur Schaffung eines zentralen Familienzulagenregisters. Dieses soll sämtliche Kinder, für die eine Familienzulage nach schweizerischem Recht ausgerichtet wird, erfassen und damit einen Missbrauch im Sinne von Mehrfachbezügen verhindern  BBl, 2009, S. 6101 ff. Vgl. SPJ 2008, S. 234 f..
Eine Motion der Grünen zur Erhöhung der Kinderzulagen wurde vom Nationalrat mit 115 zu 73 Stimmen abgelehnt. Der Ständerat verwarf mit 13 zu 10 Stimmen eine Motion Maury Pasquier (sp, GE), mit der gefordert wurde, die Familienzulagen nicht mehr an den erwerbstätigen Elternteil auszurichten, sondern an diejenige Person, bei der das Kind lebt  AB NR, 2009, S. 213 (Mo. GP); AB SR, 2009, S. 916 f. (Mo. Maury Pasquier)..
Als erster Kanton der Schweiz gewährt Solothurn Ergänzungsleistungen für Familien. Eine entsprechende Gesetzesänderung wurde in der Volksabstimmung vom 17. Mai mit 57,4% der Stimmen gutgeheissen. Die Ergänzungsleistungen liegen bewusst über dem sozialhilferechtlichen Minimum und werden so lange ausbezahlt, bis das jüngste Kind das sechste Altersjahr erreicht hat. Anlässlich ihrer Jahresversammlung forderten die kantonalen Sozialdirektoren, Familienergänzungsleistungen auch auf Bundesebene einzuführen  SZ, 4.3., 5.3. und 18.5.09; NZZ, 20.6.09..
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Ehe- und Scheidungsrecht
Der Bundesrat schickte im Januar eine Vorlage in die Vernehmlassung, mit der das gemeinsame Sorgerecht sowohl für geschiedene als auch für unverheiratete Eltern zum Regelfall werden sollte. Der Entwurf sieht ferner die Möglichkeit vor, den obhutsberechtigten Elternteil zu bestrafen, wenn er das Besuchsrecht des anderen verhindert oder erschwert. Die Revision geht auf ein Postulat Wehrli (cvp, SZ) zurück, welches der Nationalrat im Herbst 2005 überwiesen hat  BBl, 2009, S. 650; BaZ, LT und TA, 29.1.09. Vgl. SPJ 2005, S. 213..
Während die Vorschläge des Bundesrats von den grossen Parteien grundsätzlich begrüsst wurden, äusserte sich die Vernehmlassungskommission des Schweizerischen Anwaltsverbands kritisch zu den geplanten Änderungen. Sie bedauerte, dass nicht das Kindeswohl, sondern die rechtliche Gleichstellung von Vater und Mutter zum primären Ziel der Vorlage erklärt wurde und plädierte dafür, die Richter ausdrücklich zu verpflichten, in jedem Scheidungsfall eine Prüfung des Kindeswohls vorzunehmen und anhand eines Kriterienkatalogs über die elterliche Sorge zu entscheiden  AZ, 2.5.09; NZZ, 2.9.09..
Die gemeinsame elterliche Gewalt unverheirateter Paare lehnte eine Mehrheit der Vernehmlassungsteilnehmer ab, daher beschloss der Bundesrat seinen Gesetzesvorschlag entsprechend zu überarbeiten. Bei ledigen Eltern soll das Sorgerecht wie bisher einzig der Mutter zustehen. Zum gemeinsamen Sorgerecht kommt es nur, wenn sich die Mutter mit dem Sorgerecht des Vaters einverstanden erklärt oder wenn das Gericht auf Klage des Vaters hin so entscheidet  NLZ, NZZ und TA, 17.12.09..
Die zweimonatige Bedenkzeit bei Scheidungen auf gemeinsames Begehren wird aufgehoben. Damit es nicht zu übereilten Scheidungen kommt, haben die Gerichte künftig die Möglichkeit, die Ehegatten gemeinsam und getrennt und in mehreren Sitzungen anzuhören. Die entsprechenden Änderungen des Zivilgesetzbuches, welche auf eine parlamentarische Initiative Jutzet (sp, FR) zurückgehen, wurden vom Parlament im Berichtsjahr verabschiedet. Der Nationalrat stimmte dem Entwurf seiner Rechtskommission in der Frühjahrssession mit 142 zu 16 Stimmen zu. Gegen die Anpassung wehrte sich eine links-grüne Minderheit unter Anführung von Anita Thanei (sp, ZH); sie fand allerdings nicht einmal in den eigenen Reihen eine Mehrheit. Der Ständerat behandelte das Geschäft in der Herbstsession. Er trat ohne Gegenantrag auf die Vorlage ein und hiess sie in der Gesamtabstimmung ohne Gegenstimme bei 3 Enthaltungen gut. Dabei schuf er minimale Differenzen zur Fassung der grossen Kammer, welche diese noch in der gleichen Session diskussionslos bereinigte. In der Schlussabstimmung wurde die Vorlage von beiden Räten klar angenommen  AB NR, 2009, S. 284 ff., 1698 und 1824; AB SR, 2009, S. 869 f. und 1000; BBl, 2009, S. 6661 f.; NZZ, 12.3.09..
In der Frühjahrssession unterbreitete die Rechtskommission des Nationalrats dem Plenum einen Entwurf für ein neues Namensrecht. Die Vorschläge gingen auf eine parlamentarische Initiative Leutenegger Oberholzer (sp, BL) zurück und hätten es den Brautleuten freigestellt, den Ledignamen der Frau oder des Mannes als gemeinsamen Familiennamen zu bestimmen. Vorgesehen war ausserdem, dass Eltern bei der Heirat entscheiden, welchen Namen die Kinder tragen. Die Vorlage erntete im Rat heftige Kritik und wurde schliesslich mit 99 zu 92 Stimmen an die Kommission zurückgewiesen. Während die Linken den Vorschlag geschlossen unterstützten, erachteten ihn die SVP sowie Teile von CVP und FDP als zu komplex. Einige erblickten in ihm sogar eine Bedrohung der traditionellen Familie. Mit dem überarbeiteten Entwurf der Kommission, den der Nationalrat in der Wintersession verabschiedete, wird lediglich die Zulässigkeit von Doppelnamen für Männer von der Verordnungs- auf die Gesetzesstufe gehoben. Die entsprechenden Bestimmungen waren vom Bundesrat in die Zivilstandsverordnung aufgenommen worden, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem Urteil entschieden hatte, dass auch Männer – entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen für die Frauen – Doppelnamen ohne Bindestrich tragen dürfen  BBl, 2009, S. 403 ff.; AB NR, 2009, S. 274 ff. und 2283 ff.; BBl, 2009, S. 7573 ff. Presse vom 12.3.09; BaZ, SZ und TA, 11.12.09. Vgl. SPJ 2004, S. 214..
Im Dezember schickte der Bundesrat eine Änderung des Vorsorgeausgleichs bei Scheidungen in die Vernehmlassung. Durch die Revision des Zivilgesetzbuches, des Freizügigkeitsgesetzes und des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge soll namentlich die Absicherung von Ehepaaren verbessert werden, die sich erst nach dem Eintritt des Vorsorgefalls scheiden lassen  BBl, 2009, S. 9150. Vgl. dazu auch oben Teil I, 7c (Berufliche Vorsorge)..
Im Einvernehmen mit dem Bundesrat hiess der Nationalrat im Berichtsjahr eine Motion Humbel-Näf (cvp, AG) gut, gemäss der im Scheidungsfall obligatorische und überobligatorische Altersguthaben der Pensionskasse je im gleichen Verhältnis aufgeteilt werden sollen. Bislang wird der zu übertragende Teil der Austrittsleistung so weit als möglich dem überobligatorischen Altersguthaben entnommen. Dies hat zur Folge, dass die Rente desjenigen Partners, der die Austrittsleistung übertragen bekommt, geringer ausfallen wird, da sowohl der Umwandlungssatz als auch die Mindestverzinsung im überobligatorischen Bereich tiefer sind als im obligatorischen  AB NR, 2009, S. 574..
Abgelehnt hat die grosse Kammer dagegen eine parlamentarische Initiative Hofmann (sp, AG), welche verlangte, den Pflichtteil der Nachkommen künftig ungeachtet des Zivilstandes des versterbenden Elternteils zu berechnen. Ebenfalls verworfen wurde eine parlamentarische Initiative Thanei (sp, ZH). Mit dieser sollte erreicht werden, dass in Scheidungsfällen, wo das Familieneinkommen nicht für die Deckung der Bedürfnisse zweier Haushalte ausreicht, der Fehlbetrag nicht einseitig der unterhaltsberechtigten Partei aufgebürdet, sondern gleichmässig auf beide Parteien verteilt werden würde. Da die Fürsorgegelder, die zur Deckung des Defizits ausgerichtet werden, zurückzuzahlen sind, sobald die betroffenen Personen über mehr Mittel verfügen, wird der unterhaltsberechtigte Lebenspartner nach geltendem Recht benachteiligt. Wenn er sich wirtschaftlich erholt, muss er nämlich die gesamten Fürsorgeleistungen zurückerstatten, während der andere Partner befreit ist  AB NR, 2009, S. 294 f. (Mo. Hofmann) und 930 ff. (Mo. Thanei)..