Année politique Suisse 2010 : Wirtschaft / Allgemeine Wirtschaftspolitik
 
Konjunkturlage und -politik
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Weltwirtschaft
Die Erholung des Welthandels und der schweizerischen (Export-)wirtschaft, die sich ab Mitte 2009 abzeichnete, war v.a. einer expansiven Geld- und Fiskalpolitik geschuldet, mit Hilfe derer die Länder ihren Staatsdefiziten und der allgemeinen Verschuldung begegneten. Dank dieser Massnahmen galt die Konjunkturlage Mitte 2010 weltweit als stabilisiert, die mittelfristigen gesamtwirtschaftlichen Aussichten jedoch als gedämpft. Die Bemühungen der privaten Haushalte und des Finanzsektors zum Schuldenabbau, die mit sinkendem Privatkonsum und einer nachlassenden Investitionsnachfrage einhergingen, führte in vielen Ländern (u.a. USA, Japan sowie wachstumsstarke Schwellenländer, dort insbesondere die BRIC-Staaten Brasilien, Russland, Indien und China) ab dem zweiten Quartal zu einer Verlangsamung der Konjunktur. Dazu dämpfte insbesondere die europäische Staatsschuldenkrise die Erholung der Finanzmärkte. Die Handelsbeziehungen in den Euro- und EWR-Raum blieben für die Schweizer Wirtschaft 2010 bedeutend (78% der Importe, 60% der Exporte), im Vergleich mit der positiven Entwicklung der Ausfuhren nach Kanada und Japan aber stagnierend. Eine im Sommer publizierte Studie von Ernst &Young, die der Auslandtätigkeit von 700 Schweizer KMU nachging, machte eine Zunahme der Aktivitäten grösserer, nicht börsenkotierter KMU in den BRIC-Staaten aus. Für das Berichtsjahr lässt sich festhalten, dass sich die Konjunktur 2010, bei allerdings grossen regionalen Unterschieden sowie makro- bzw. mikroökonomischen Unsicherheiten (wirtschaftliche Lage systemrelevanter Unternehmen, insbesondere Banken, Staatsverschuldung) weltweit zu erholen vermochte. In der ersten Jahreshälfte zeigte der Wachstumstrend v.a. in den USA und den Schwellenländern nach oben, während sich der Euroraum nur verhalten entwickelte. Ab Mitte des Jahres verzeichneten die USA (reales BIP 2010: 3%; 2009: -3,5), Japan (reales BIP 2010: 1,9%; 2009 -5,2%) und die wachstumsstarken Schwellenländer einen Konjunkturdämpfer. Gleichzeitig entwickelte sich die Wirtschaft der 27 EU-Staaten (reales BIP 2010: 1,7%; 2009: -4,1%) v.a. dank eines verstärkten Wirtschaftswachstums in Deutschland (reales BIP 2010: 3,5%, 2009: -4,7%) dynamischer. Gemäss Schätzungen des IWF wuchs die Weltwirtschaft 2010 um 5%, eine Dynamik, die insbesondere dem BIP-Wachstum in den Schwellen- und Entwicklungsländern (geschätzte 7%) geschuldet war, während sich die meisten Industrieländer (IWF-Schätzung 2010 für die OECD-Länder: 3%) insgesamt nur zögerlich erholten. Die Arbeitslosenquoten entwickelten sich welt- und europaweit uneinheitlich. Während die Länder im Zentrum Europas meist nur einen moderaten Anstieg zu gewärtigen hatten (Deutschland und Luxemburg vermochten den Trend gar zu brechen), fällt das förmliche Explodieren der Raten zwischen 2008 und 2010 an der europäischen Peripherie auf, allen voran in den von der Staatsschuldenkrise besonders tangierten PIGS-Staaten Portugal, Irland, Griechenland, Spanien, ohne dass eine Trendumkehr ersichtlich gewesen wäre. Auch die USA und Japan vermochten 2010 die erhoffte Wende im Arbeitsmarkt nicht herbeizuführen [1].
Trotz der Geldmengenausweitung zur Überwindung der Finanz- und Wirtschaftskrise verharrte die Teuerung in den USA auf tiefem Niveau (2010: 1,6%), während Japan mit Deflationstendenzen kämpfte (2010: -1,4%). In der Europäischen Union (EU-27) lag die Veränderungsrate der durchschnittlichen Jahresteuerung – berechnet auf Basis der Harmonisierten Verbraucherpreisindizes (HVPI) – Ende 2010 bei 2,1% (2009: 1,0%), im Euroraum bei 1,6% (2009: 0,3%). Im Gegensatz dazu zog die Inflation in den konjunkturstarken Schwellenländern China und Brasilien merklich an. Der Erdölpreis entwickelte sich weltweit verhalten, brach in der ersten Jahreshälfte wiederholt ein, um ab August in eine steigende Tendenz (Durchbrechen der Bandbreite 65–85 Dollar) überzugehen. Nachfrage- und preisstützend wirkten hier v.a. die dynamische Konjunktur in China und Indien (Wachstumsraten von 10,3% bzw. 9,7%) sowie die Erholung der Nachfrage in den OECD-Staaten [2].
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Schweiz
Die Rezession hatte in der Schweiz 2008/2009 einen erheblich milderen Verlauf genommen als in anderen Industrieländern. Dank der hohen Spezialisierung des Exportsektors waren die Ausfuhren nur durchschnittlich zurückgegangen. Gleichzeitig hatte eine überdurchschnittlich robuste Inlandnachfrage einen unterdurchschnittlichen Importrückgang bewirkt. Das Wachstum des BIP, das in der zweiten Jahreshälfte 2009 begonnen hatte, setzte sich 2010 fort, wenn auch etwas weniger dynamisch als in den beiden Vorquartalen. Es wurde v.a. getragen durch die Inlandnachfrage, aber auch einer trotz starken Frankens relativ robusten Exportentwicklung. Insgesamt wuchs die schweizerische Wirtschaft 2010 deutlich stärker als erwartet. Über das gesamte Jahr ergab sich ein reales Wachstum von 2,6%. Die Wirtschaftsleistung pendelte sich – mit Ausnahme der Warenexporte – auf den Vorkrisenwerten ein. Die Güterausfuhren standen im Vergleich zum Vorjahr mit 10,6% im Plus. Die gesamte Exportbranche (Waren und Dienstleistungen, inkl. Tourismus) wies ein Wachstum von 9,3% gegenüber 2009 aus (2009: -8,7% gegenüber dem Vorjahr). Das Auslaufen der Stabilisierungsprogramme schlug mit einem Minus von 1,6% beim Staatskonsum, der 2009 1,6% im Plus gelegen hatte, zu Buche. Impulsgebend wirkten neben der Exportwirtschaft der private Konsum (2010: +1,7%) und die Bruttoanlageinvestitionen, die sich in der Baubranche mit einer Steigerung von 3,3% im Wachstumsbereich des Vorjahres befanden und sich bei den Ausrüstungen merklich erholten (2009: -10,8%; 2010: 5,7%) [3].
In der zweiten Jahreshälfte verlangsamte sich das Wachstum. Die Aufwertung des Schweizer Frankens im Zug der europäischen Staatsschuldenkrise sowie der Überschuldung und des massiven Staatsdefizits der USA wirkte konjunkturdämpfend. Ab Jahresmitte häuften sich Medienberichte über KMU, die laut darüber nachdachten, der durch den schwachen Euro mitverursachten schwindenden Konkurrenzfähigkeit mit einer Verlagerung der Produktionsstandorte in den Euroraum zu begegnen. Allerdings gingen die sinkenden Exportmargen mit sinkenden Importpreisen für Rohstoffe und industrielle Halbfertigprodukte einher, die sich für die Firmen kostendämpfend auswirkten. Zudem stieg die Anzahl Aufträge der deutschen Automobil- und Chemieindustrie an ihre Schweizer Zulieferer. Während sich der Warenexport bei einem Wachstum von rund 8% zu halten vermochte, büssten die Dienstleistungsexporte nach einem hervorragenden zweiten Quartal (+25,1%) massiv ein, um im vierten Quartal gar in ein Minus von 5% zu fallen [4].
Das Beschäftigungswachstum war zufriedenstellend. In der Tendenz wiesen der Dienstleistungs- und Industriesektor positive Werte aus. Während die vollzeitäquivalente Beschäftigung im dritten Sektor im 4. Quartal 2,0% über dem Vorkrisenniveau zu stehen kam, lag diese im zweiten Sektor noch 4,4% darunter. Die Arbeitslosenquote, die sich in der Zeit kurz vor Ausbruch der Finanzkrise 2008 bis zum Höhepunkt im Januar 2010 beinahe verdoppelt hatte, sank von einem Höhepunkt bei 4,5% im Januar 2010 auf 3,8% im Dezember 2010. Im Jahresmittel lag sie mit 3,9% um 0,2 Prozentpunkte höher als 2009. Da die Expertengruppe Konjunkturprognosen die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Stabilität des Finanzsektors für 2010 weiterhin als ungünstig einschätzte und im ersten Quartal mit einem weiteren Ansteigen der Arbeitslosigkeit rechnete, beschloss der Bundesrat im März als arbeitsmarktliche Massnahme die Stützung der gesamtwirtschaftlich tragenden, exportorientierten Industrie, indem er die Maximaldauer zum Bezug von Kurzarbeitsentschädigung von 18 auf 24 Monate erhöhte. Nachdem die Preise 2009 erstmals seit 1959 gesunken waren, bewegte sich die Teuerung 2010 gemäss Landesindex der Konsumentenpreise mit 0,7% im Jahresdurchschnitt (berechnet auf Basis des harmonisierten Verbraucherpreisindex: 0,6%) auf bescheidenem Niveau. Den Preisanstieg beim Erdöl nicht eingerechnet, tendierte sie gegen Null (0,1%) [5].
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Konjunkturpolitik
Im Konzert mit der Europäischen Zentralbank, der US-Notenbank und der Bank of Japan hielt die Schweizerische Nationalbank (SNB) an ihrer expansiven Geldpolitik fest und beliess den Leitzins das ganze Jahr auf historisch tiefen 0,25%, im unteren Band des im Vergleich zu 2009 unveränderten Richtwerts für den Dreimonats-Libor von 0,0–0,75%. Angesichts der gesamtwirtschaftlichen Erholung, die sich Ende 2009 abzuzeichnen begann, und der damit gekoppelten Verringerung der Deflationsgefahr gab die SNB im Dezember 2009 bekannt, dass sie nur noch einer übermässigen Aufwertung des Frankens entgegenwirken wolle. Die europäische Staatsschuldenkrise, die in den Frühlingsmonaten entbrannte, und die Flucht der Finanzmarktakteure in sichere Anlagen, zwang die Nationalbank aber bereits im April und Mai zu massiven Devisenkäufen. Dadurch führte sie eine Entlastung des Frankenkurses und die Stützung der Exportwirtschaft herbei, blähte aber gleichzeitig ihre Bilanz auf. Die Konjunkturstabilisierung zur Jahresmitte bannte das Deflationsrisiko. In der Folge verzichtete die Nationalbank auf weitere Stützungskäufe. Im Jahresverlauf verteuerte sich der Franken gegenüber dem Euro um 17% (mittlerer Frankenkurs im Dezember 2010: 1.28; 2009: 1.50), gegenüber dem US-Dollar um rund 6% (mittlerer Frankenkurs im Dezember 2010: 0.97; 2009: 1.03). Der exportgewichtete Aussenwert des Frankens stieg real um 10,9% gegenüber einem Wert von 3,2% im Vorjahr [6].
Am 1.1.2010 wurde das bis Ende 2011 gültige Bundesgesetz über befristete konjunkturelle Stabilisierungsmassnahmen in den Bereichen des Arbeitsmarkts, der Informations- und Kommunikationstechnologie sowie der Kaufkraft in Kraft gesetzt. Es bildet die Rechtsgrundlage für die dritte Phase des dreistufigen Konjunkturstützungsprogramms. Da aufgrund des wirtschaftlichen Aufschwungs Anfang des Jahres auch die Arbeitslosenquote stabilisiert werden konnte, wurde nur ein Bruchteil der gesprochenen Gelder für die Arbeitsmarktmassnahmen ausgeschüttet. Zur Schaffung von zusätzlicher Planungssicherheit für die Unternehmungen erhöhte der Bundesrat die Höchstbezugsdauer für Kurzarbeitsentschädigung von 18 auf 24 Monate. Diese gilt bis Ende 2011 [7].
 
[1] OECD: StatExtracts, Labour Force Statistics (MEI): Harmonised Unemployment Rates and Levels (HURs), 25.5.2011 (Aufgrund von Abweichungen zwischen der OECD- und BfS-Statistik beschränkt sich die Aussage auf die qualitative Entwicklung).
[2] Zu den USA: US-Bureau of Labor Statistics, 2010 Consumer Price Index Detailed Report Tables: Annual Average Indexes 2010; HVPI: seit 2008 vom BFS verwendetes Mass zwecks Vergleichbarkeit mit EU- und EFTA-Ländern. Lit. Beuret; Eurostat, Wachstumsquoten des realen BIP 2010; Eurostat: HVPI - Gesamtindex - Inflationsrate des Jahresdurchschnitts, 25.5.2011; EZB, Eurosystem: Von Experten der EZB erstellte gesamtwirtschaftliche Projektionen, Dezember 2010, März 2011; ILO Department of Statistics, Unemployment rate (Percentage), May 2011; Seco, Medienmitteilung, 16.9.2010; Seco, Konjunkturtendenzen Winter 2009/2010, Frühjahr 2011; Seco, Länderinformation Japan. SNB, 103. Geschäftsbericht 2010; BBl 2011, S. 1401 ff. (Bericht zur Aussenwirtschaftspolitik 2010); WoZ, 7.1.10; MZ, 19.1.10; LT 1.10. und 23.1.10; NLZ, 3.2.10; Presse vom 2.7.10.
[3] Zur Konsumentenstimmung: NZZ, 3.2.10; TA, 3.2.10); Zur Prognose des Seco für 2010: Presse vom 17.3.10; NLZ, 27.3.10. Zur Entwicklung des BIP: Presse vom 3.9. und 21.9.10. Internationaler Vergleich: Presse vom 27.5.10; Zur wachstumstreibenden Rolle der Baubranche 2010: LT, 27.10.10. Zu den Prognosen für den Bausektor für 2011 vgl. BaZ, 28.10.10.
[4] BBl 2011, S. 1401–1409 (Bericht zur Aussenwirtschaftspolitik 2010); Seco, Konjunkturtendenzen Winter 2009/2010, Frühjahr 2011; Seco, BIP und Verwendungskomponenten (Jahres- und Quartalsdaten): Jahresaggregate des Bruttoinlandproduktes, Verwendungsansatz (BFS), 30.5.2011. Zur Entwicklung des BIP allgemein siehe SN, 19.2.10; LT, 25.2.10; NZZ, 3.2., 24.2.10, 2.3.10, 25.3.10 und 12.5.10; SGT 6.2.10; TG, 3.3.10; LT, 3.3.10 und Presse vom 17.8.10. Zum Personenverkehr vgl. Lit. Weber; LT, 28.5.10. Zur Konjunkturverlangsamung: Presse vom 2.6.10; NZZ, 17.9., 28.10., 30.10., 2.11. und 27.11.10. Zur konjunkturdämpfenden Wirkung des Frankens: Presse vom 9.6. und 19.6.10; TA, 15.6.10; NZZ, 26.6., 7.9., 27.12. und 29.12.10; MZ, 1.7.10; BaZ, 7.12.10; SECO, Medienmitteilung, 16.9.2010; Zur Verschärfung der Lage für die KMU siehe TA, 28.6.10 und 3.7.10; TG, 29.6.10; BaZ, 13.8., 26.8. und 10.11.10; WW, 2.9.10; SN, 11.9.10; NLZ, 17.9.10; NZZ, 13.10.10.
[5] Zum Beschäftigungswachstum: Seco, Konjunkturtendenzen Frühjahr 2011, S. 25 und LT, 21.12.10 (Uhrenbranche). Zur Entwicklung der Arbeitslosenquote: Seco, Die Lage auf dem Arbeitsmarkt im Januar 2011; Seco, Die Lage auf dem Arbeitsmarkt im Dezember 2010 / Jahresdurchschnitte 2010; LT, 9.3., 17.3. und 9.4.10; NZZ, 9.3.10; 24H, 9.4.10. Zur Kurzarbeitsentschädigung: Seco, Medienmitteilung, 5.3.2010. Zur Entwicklung der Teuerung vgl. SPJ 2009, S. 96; Seco, Konjunkturtendenzen Frühjahr 2011, S. 28; NZZ, 12.2. und 7.4.10; QJ, 7.4.10; Lit. Beuret.
[6] SNB, 102. Geschäftsbericht 2009, 103. Geschäftsbericht 2010; Seco, Konjunkturtendenzen Frühjahr 2011, S. 9; SPJ 2009, S. 96; LT, 12.3.10; TA, 15.6.10; SoS, 17.9.10.
[7] Zu den ersten und zweiten Stufen der Konjunkturstabilisierungsmassnahmen siehe SPJ 2008, S. 98 und SPJ 2009, S. 96 ff.; Seco, Stabilisierungsmassnahmen: Übersicht zum Umsetzungsstand der ersten und zweiten Stufe per Ende 2009, 26.2.2010; NZZ, 6.1.10. Generelles: SN, 26.5.10; NZZ, 21.10. und 23.12.10; Seco, Stabilisierungsmassnahmen: Übersicht zum Umsetzungsstand per Sommer 2010, September 2010. Zum Projekt SuisseID siehe Kapitel I, 8c Medien.