Année politique Suisse 2010 : Wirtschaft / Allgemeine Wirtschaftspolitik
Strukturpolitik
Im März veröffentlichte der Bundesrat in Erfüllung eines 2006 im Nationalrat eingereichten Postulats von Jean-Noël Rey (sp, VS) den
Bericht „Cluster in der Wirtschaftsförderung“. Darin kam er zum Schluss, dass die Schweiz mit Eigeninitiativen der Wirtschaft sowie Netzwerken, die v.a. im Rahmen der kantonalen Wirtschaftsförderung entstanden sind, über gut aufgestellte Cluster verfügt und somit kein Bedarf für eine eigentliche Clusterpolitik auf Bundesebene besteht. Seines Erachtens beförderten die wirtschafts- und innovationsfreundlichen Rahmenbedingungen, wie sie durch die bestehenden Sektoralpolitiken des Bundes gewährleistet werden, die Wirksamkeit der bestehenden Clusterlandschaft und die Bildung nötiger neuer Netzwerke genügend
[8].
Die Motion der Grünen Fraktion „
Förderung ökologischer und innovativer Wirtschaftsinitiativen“, die der Nationalrat gegen den Willen des Bundesrats im Rahmen der ausserordentlichen Session zu Konjunktur und Arbeitslosigkeit im Herbst 2009 überwiesen hatte, wurde im Herbst 2010 vom Ständerat abgelehnt. Die Mehrheit der kleinen Kammer teilte die Einschätzung des Bundesrats, dass eine breite und umfassende Förderung ökologischer Innovationen bereits mit dem bestehenden Instrumentarium erreicht wird
[9].
Ende des Jahres verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zur Aufhebung des „
Bundesbeschlusses über die Förderung der Heimarbeit“ von 1949. Mit Hinweis auf den grundlegenden Wandel im Heimarbeitsmarkt und insbesondere auf die Kompensation unverschuldeter kantonaler Strukturlasten über die Neugestaltung des Finanzausgleichs zwischen Bund und Kantonen (NFA) per 2008 schlägt der Bundesrat die ersatzlose Streichung der subsidiären Unterstützung der unselbständigen gewerblichen und industriellen Heimarbeit vor
[10].
Obschon sich das Parlament bis Ende des Berichtsjahrs noch nicht mit der
Swissness-Vorlage beschäftigt hat, wurde die Ende 2009 vom Bundesrat vorgelegte Botschaft in den Medien häufig thematisiert. Kritik wurde insbesondere aus der Lebensmittel- und Uhrenbranche laut. Aber auch Unternehmen des Detailhandels sorgten sich um ihre Wettbewerbsfähigkeit. Vorbehalte wurden v.a. in Bezug auf die vorgesehene Ausgestaltung des Rohstoff- und des Wertschöpfungskriteriums laut. Ersteres bestimmt, dass grundsätzlich 80% des Rohstoffgewichts eines Nahrungsmittels schweizerischer Provenienz sein muss, um unter Schweizer Herkunftsangabe vermarktet werden zu können. Für die industriellen Produkte soll die analoge Regel einer mindestens sechzigprozentigen Wertschöpfung gelten
[11].
In der Sommersession folgte der Stände- dem Nationalrat und überwies die Motion Hochreutener (cvp, BE), die unter der Federführung des Seco eine Vereinfachung der Regulierung in sämtlichen Departementen fordert. Während von der geplanten Entlastung von Bewilligungsverfahren grundsätzlich alle Unternehmungen profitieren sollten, häuften sich gegen Ende des Jahres im Nationalrat Eingaben, welche die spezifische Entlastung der KMU durch zusätzliche
Deregulierungsmassnahmen sowie eine Erweiterung des E-Government-Angebots verlangten. Sie gelangten im Berichtsjahr noch nicht zur Behandlung im Ratsplenum. Hingegen überwies der Nationalrat gegen den Willen des Bundesrats sowie der SP und der Hälfte der anwesenden Grünen eine bereits 2008 von seinem damaligen Mitglied und späteren Ständerat Adrian Amstutz (svp, BE) eingereichte Motion. Die Vorlage beabsichtigt über eine Revision des Raumplanungsgesetzes einen auf Basis ebendieser Norm begründeten Bundesgerichtsentscheid zu kippen, der neu eine Baubewilligung für jene Strassencafés vorschreibt, die erhebliche Auswirkungen auf ihre Umgebung (Lärmbelastung, Verkehrssicherheit, Ortsbildschutz) haben
[12].
In der Sommersession lehnte der Ständerat auf Anraten seiner Kommission für Wirtschaft und Abgaben als Zweitrat die Motion von Nationalrat Norbert Hochreutener (cvp, BE) zur
Ausweitung des Bürgschaftswesens zwecks Milderung der Finanzkrise für KMU mit 18 zu 15 Stimmen knapp ab. Die im Rat obsiegende Mehrheit verwies darauf, dass die gestellten Bürgschaftsanträge auch während der Rezession 2008/2009 kaum je die geltende Verbürgungslimite von 500 000 Fr. erreicht hatten und sich die Finanzierungssituation der KMU gemäss einer im Sommer 2009 publizierten Seco-Umfrage stabil darstellte. Zudem war Ende 2009 der über das Bürgschaftssystem garantierte Plafond von 200 Mio. Franken nur zu einem Drittel ausgeschöpft. Das bewusst auf Kleinstunternehmungen (schweizweit rund 1900 KMU) ausgerichtete gewerbliche Bürgschaftswesen sei deshalb für seinen Verwendungszweck bei weitem ausreichend konzipiert. Mit Hinweis auf künftige Rezessionen schob Norbert Hochreutener im Herbst 2010 eine inhaltlich identische, in den Räten noch nicht behandelte Motion nach, die der Bundesrat mit den oben beschriebenen Argumenten erneut zur Ablehnung empfahl
[13].
Um dem seit Jahrzehnten wachsenden Wettbewerbs- und Konkurrenzdruck auf den für die Schweiz wichtigen Wirtschaftszweig Tourismus zu begegnen und das Potenzial als Tourismusstandort auch künftig ausschöpfen zu können, verabschiedete der Bundesrat im Sommer eine
„Wachstumsstrategie für den Tourismusstandort Schweiz“. Mithilfe der neuen Strategie, deren erstmalige Umsetzung für die Legislaturperiode 2012─2015 geplant ist, soll über die Schaffung verbesserter Rahmenbedingungen und eine gezielte Standortförderung (u.a. durch die Integration der touristischen Landeswerbung in die allgemeine Standortpromotion des Bundes) nachhaltiges Wachstum erreicht werden. Daneben schickte die Landesregierung die Revision
des bis Januar 2012 befristeten
Bundesgesetzes über die Förderung von Innovation und Zusammenarbeit im Tourismus (Innotour) in die Vernehmlassung. Dieses soll mit dem Bereich Wissensaufbau ein drittes Standbein erhalten und in ein unbefristetes Gesetz überführt werden
[14].
Der Ständerat lehnte in der Sommersession die im vorangehenden Jahr vom Nationalrat angenommene Motion Darbellay (cvp, VS) zur Unterstützung der Tourismusbranche in der Finanz- und Wirtschaftskrise mit Hinweis auf die bereits erfolgte Aufstockung der Marketingmittel im Rahmen des zweiten Stabilisierungspakets ab. In der Wintersession verabschiedete die kleine Kammer den Entwurf zum
Bundesgesetz über das Bergführerwesen und Anbieten weiterer Risikoaktivitäten, den der Nationalrat im vorangegangenen Jahr akzeptiert hatte. Wie auch im Nationalrat vermochten sich entgegen der Empfehlung der ständerätlichen Rechtskommission, die auf die Existenz kantonaler Regelungen, die Bestimmungen des Haftplicht- und Strafrechts sowie die erhoffte Selbstregulierung der Branche verwies, jene Stimmen durchzusetzen, die im Interesse der Tourismusdestination Schweiz die Garantie eines landesweiten Mindeststandards über ein Rahmengesetz verankert sehen wollten. Nach einer redaktionell bedingten Differenzbereinigung passierte das Gesetz zehn Jahre nach Einreichung der parlamentarischen Initiative im Dezember die Schlussabstimmung beider Räte
[15].
Im Oktober verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zur
Volksinitiative „Für Geldspiele im Dienste des Gemeinwohls“. Darin empfiehlt er dem Parlament die Ablehnung der Initiative zugunsten eines direkten Gegenvorschlags. Unter Anerkennung des bestehenden Kompetenzkonflikts zwischen Bund und Kantonen im Bereich des Glücksspiels und dem dadurch hervorgerufenen Handlungsbedarf, bemängelt der Bundesrat, dass es der Initiative nicht gelinge, das dem Kompetenzkonflikt zugrundeliegende Abgrenzungsproblem zwischen den Spielbanken, der Lotterie und dem Wettgeschäft zu lösen. Er moniert zudem, dass die von den Initianten vorgeschlagene Trennung der Gesetzgebungskompetenzen, die für die Spielbanken künftig ganz beim Bund, für die Lotterie und Wetten – vorbehältlich einer Grundsatzgesetzgebungskompetenz des Bundes – ganz bei den Kantonen liegen sollten, einer umfassenden, von der Landesregierung gewünschten Geldspielpolitik entgegenstehen würde. Der Gegenentwurf nimmt den von den Initianten verwendeten Begriff Geldspiel auf und weist diesem sowohl die Glücksspiele (Wetten, Lotterien, Spielbanken) als auch die Geschicklichkeitsspiele zu. Den ganzen, dermassen definierten Geldspielbereich unterstellt er einer umfassenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Der bestehende Artikel 106 der Bundesverfassung soll um einen Absatz ergänzt werden, der die Vollzugskompetenzen der Kantone (Bewilligung, Beaufsichtigung) im Bereich der Lotterien, Wetten und Geschicklichkeitsspiele ausdrücklich festhält und dabei gewährleistet, dass die Erträge (ausgenommen jene aus den Geschicklichkeitsspielen) vollumfänglich gemeinnützigen Zwecken zufliessen. Schliesslich sollen Bund und Kantone mit geeigneten Massnahmen die Gefahren des Geldspiels bekämpfen
[16].
Der Initiative vorausgegangen war die 2001 in Angriff genommene
Revision des Lotteriegesetzes. Diese wurde 2004 auf Wunsch der Kantone sistiert, welche die festgestellten Mängel mit interkantonal koordinierten Massnahmen angingen. Der Evaluationsbericht zum Konkordat vom Oktober 2010 empfahl dem Bundesrat, trotz der eingeleiteten interkantonalen Massnahmen an der Revision des Lotteriegesetzes festzuhalten. Spätestens ein Jahr nach der Abstimmung über die Geldspielinitiative und/oder den Gegenentwurf soll, in Kenntnis des dannzumal gültigen Verfassungsartikels, der Handlungsbedarf im Bereich des Lotteriegesetztes neu beurteilt werden
[17].
Im Mai entschied das Bundesgericht über die Beschwerde des Schweizerischen Casino-Verbands gegen einen Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts, das 2009 die Praxis der Eidgenössischen Spielbankenkommission stützte,
Pokerturniere als Geschicklichkeitsspiele
einzuordnen und daher ausserhalb von Spielbanken zu erlauben. Das Bundesgericht revidierte das Urteil im Sinne der Beschwerdeführerin und kam zum Schluss, dass bestimmte turniermässig gespielte Pokervarianten sowie generelle Pokerspiele um Geld als
Glücksspiele zu taxieren seien und daher nur in konzessionierten Spielbanken erlaubt sind. Im Nationalrat kam es in der Folge zu mehreren Vorstössen in Richtung Ausnahmeregelung für Pokerspiele unter dem Spielbankengesetz, deren Behandlung in den Räten Ende 2010 noch ausstehend war
[18].
[8] Der Bundesrat,
Cluster in der Wirtschaftsförderung, Bern 2010, S. 4, 20, 26 f., 45; vgl. auch die Standort- und Innovationsförderungsmassnahmen von SECO (Direktion für Standortförderung ) und BBT (Förderagentur für Innovation).
[9] Entgegen der Angaben in
SPJ 2009, S. 99 ist der Wortlaut der entsprechenden Nationalratsverhandlung nicht in
AB NR, 2009, S. 1347 sondern in
AB NR, 2009, S.1547 wiedergegeben. In seiner Antwort verwies der Bundesrat u.a. auf die Budgetaufstockung zugunsten der Kommission für Technologie und Innovation von gut 20 Mio. Fr. im Rahmen des zweiten Stabilisierungspakets;
AB NR, Herbstsession, Beilagen, 2009, S. 443 f.;
AB SR, 2010, S. 948 ff.
[10]
BBl, 2011, S. 511–522.
[11] Ausnahmen gelten für Rohstoffe, die in der Schweiz nicht, oder vorübergehend nicht in genügender Menge, vorkommen
TA, 22.2. und 18.3.10;
SN, 20.3. und 9.10.10;
LT, 23.3. und 4.8.10;
NZZ, 28.4., 7.5., 15.7., 28.9. und 9.10.10;
WW, 8.7.10;
MZ, 31.8. und 7.9.10;
SGT, 8.10.10.
BZ, 19./20.10.10.
[12] Siehe
SPJ, 2009, S. 100 (dort irrtümlicherweise als Parlamentarische Initiative bezeichnet);
AB SR 2010, 729 f.;
AB NR, 2010, S. 1438 f.; BGE 1C_47/2008 vom 8.8.2008.
[13]
TA, 8.2.10;
AB SR, 2010, S. 732–735;
Mo. 10.3792.
[14] World Economic Forum (WEF), Travel & Tourism Competitiveness Report 2011, Genf 2011, S. 8.; Schweizerischer Bundesrat, Wachstumsstrategie für den Tourismusstandort Schweiz: Bericht des Bundesrates vom 18. Juni 2010 in Erfüllung des Postulates 08.3969, Darbellay vom 19. Dezember 2008, Bern 2010; SPJ 2009, S. 100; LT, 26.6.10. Seco, Medienmitteilungen, 24.3. und 25.6.10; BBl, 2010, S. 4408.
[15]Vgl.
SPJ 2009, S. 100;
AB SR, 2010, S. 728 f. Das Gesetz erfasst kommerzielle Angebote in den Risikoaktivitäten Bergsteigen, Skitouren, Canyoning, Riverrafting und Bungee-Jumping (abschliessende Aufzählung).
AB SR, 2010, S. 543 ff. (26 zu 14 Stimmen),
BBl, 2010, S. 897 (Ablauf der Referendumsfrist am 7.4.2011). Siehe auch
SPJ, 2001, S. 80.
[16]
BBl, 2010, S. 7961 ff.
[17] BJ, Evaluation der kantonalen Massnahmen zu den Lotterien und Wetten: Schlussbericht (Forschungs- und Beratungsbüro Infras), Zürich 2010, S. 107–109; EJPD, Medienmitteilungen, 24.3., 30.5. und 20.10.10.
[18] Vgl.
SPJ, 2009, S. 101; Bundesverwaltungsgericht, Abteilung II, Urteil vom 30. Juni 2009; BGE 2C_694/2009 vom 20.5.2010.
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