Année politique Suisse 2010 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Berufliche Vorsorge
Das Parlament behandelte die vom Bundesrat 2008 vorgelegte Botschaft über eine Revision des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge bezüglich der
Finanzierung öffentlich-rechtlicher Vorsorgeeinrichtungen.
Erstrat war der
Ständerat, welcher ohne Gegenstimme beschloss, auf die Vorlage einzutreten. Unbestritten war, dass die zweite Säule gestärkt und die finanzielle Sicherheit der Vorsorgeeinrichtungen gewährleistet werden muss. Im Zentrum der Diskussionen in der kleinen Kammer standen das Finanzierungssystem der öffentlich-rechtlichen Vorsorgeeinrichtungen sowie die Massnahmen, welche bei einem unzureichenden Deckungsgrad zu ergreifen sind. In diesen Punkten folgte der Ständerat seiner Kommission und wich von der Vorlage des Bundesrates ab. Er entschied sich für ein Teilkapitalisierungssystem, das allerdings an gewisse Bedingungen geknüpft würde. Gemäss Ständerat sollte der notwendige Finanzierungsplan der Vorsorgeeinrichtungen nicht mehr die Vollkapitalisierung zum Ziel haben, sondern die langfristige Sicherstellung des finanziellen Gleichgewichts. Gegen den Willen einer linken Minderheit beschloss die kleine Kammer, dass der Deckungsgrad aller Verpflichtungen gegenüber Rentnerinnen und Rentnern sowie aktiven Versicherten mindestens 80% betragen muss und künftige Leistungsverbesserungen entsprechend dem Kapitaldeckungsverfahren zu 100% auszufinanzieren sind. Ausserdem beschloss der Ständerat zwei Massnahmen im Falle eines unzureichenden Deckungsgrades: Einerseits müssen die öffentlich-rechtlichen Vorsorgeeinrichtungen der Aufsichtsbehörde jährlich einen Plan unterbreiten, der zeigt, wie sie den Mindestdeckungsgrad erreichen wollen, und andererseits müssen sie den Fehlbetrag verzinsen. In der Gesamtabstimmung nahm der Ständerat die Vorlage mit 30 zu 1 Stimme bei 8 Enthaltungen an
[16].
Im
Nationalrat war das Eintreten auf die Vorlage ebenfalls unbestritten. Was den Kern der Revision anbelangt, folgte er weitgehend dem Ständerat, auch wenn einige kleinere Differenzen geschaffen wurden. Intensiv diskutierte die grosse Kammer den Deckungsgrad der Vorsorgeeinrichtungen. Hier plädierte eine links-grüne Minderheit für einen tieferen Deckungsgrad, während eine rechts-bürgerliche Minderheit den Deckungsgrad sogar auf 90% erhöhen wollte. Schliesslich entschied man sich mit 119 zu 53 Stimmen bei 6 Enthalten für einen Deckungsgrad von 80%, der auch vom Bundesrat unterstützt wurde. Bei den Massnahmen, die bei einem unzureichenden Deckungsgrad zu ergreifen sind folgte der Nationalrat seiner Kommission und beschloss, dass der Aufsichtsbehörde nur alle fünf Jahre ein Bericht zu unterbreiten sei. In der Gesamtabstimmung nahm der Nationalrat die Vorlage mit 125 zu 39 Stimmen an
[17].
Nach der Behandlung durch den Nationalrat waren fünf
Differenzen zum Ständerat übriggeblieben, die allerdings gemäss dem Kommissionssprecher Kuprecht (svp, SZ) nicht sehr gewichtig waren. Der Ständerat stimmte bei vier dieser Differenzen dem Nationalrat zu. Ein Pièce de Résistance blieb übrig. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hatte in einem Bericht Koordinationsbedarf zwischen der Strukturreform der beruflichen Vorsorge (siehe unten) und der Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Vorsorgeeinrichtungen gesehen und dabei auf eine kleine Anpassung hingewiesen, die im Rahmen der Behandlung der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Vorsorgeeinrichtungen von den beiden Räten vorgenommen werden sollte. Diese Änderung nahm der Ständerat nun im Rahmen der Differenzbereingung vor und schickte das Geschäft anschliessend zurück in den Nationalrat, wo die Anpassung ebenfalls angenommen wurde
[18].
In der
Schlussabstimmung nahm der Ständerat die Vorlage mit 30 zu 5 Stimmen bei 8 Enthaltungen an. Der Nationalrat folgte der kleinen Kammer und nahm das Geschäft ebenfalls, mit 141 zu 49 Stimmen, an
[19].
Die
Strukturreform der beruflichen Vorsorge war im Vorjahr in der Bereinigung der
Differenzen steckengeblieben. Nach der Differenzbereinigung im Ständerat hatte sich der
Nationalrat mit 12 verbliebenen Differenzen zu befassen. Die grosse Kammer folgte auf der ganzen Linie der Mehrheit seiner Kommission und deren Empfehlungen. Das bedeutete, dass sie in neun dieser Differenzen dem Ständerat zustimmte. Hingegen beharrte sie in drei Punkten auf ihrer Meinung. Der Nationalrat hielt daran fest, dass Experten, Anlageberater und Anlagemanager, die von Vorsorgeeinrichtungen beigezogen werden, auch im Jahresbericht mit Namen und Funktion genannt werden. Ausserdem beharrte er auf der Bestimmung, dass eine Revisionsstelle ebenfalls für Schäden in die Pflicht genommen werden kann, die absichtlich oder fahrlässig verursacht wurden. Schliesslich hielt er an der Bestimmung fest, wonach kantonale Aufsichtsbehörden in rechtlicher, finanzieller und administrativer Hinsicht unabhängig sein müssen
[20].
In seiner zweiten Runde der
Differenzbereinigung hielt der
Ständerat nur noch an einer der drei verbliebenen Differenzen fest. Dabei ging es um die Frage der Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörden. Hier wollte die kleine Kammer an ihrer Formulierung festhalten. Dank einem Einzelantrag Kuprecht (svp, SZ) löste sich das Patt zwischen den beiden Räten. Dem Antrag entsprechend stimmte der Rat einer Formulierung zu, wonach die Aufsichtsbehörden als öffentlich-rechtliche Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit definiert werden, die in ihrer Aufsichtstätigkeit keinen Weisungen unterliegen. Dieser Formulierung folgte anschliessend auch der Nationalrat
[21].
In der
Schlussabstimmung stimmten beide Räte der Vorlage einstimmig zu (42:0 bzw. 192:0 Stimmen)
[22].
Am 7. März stimmte das Volk über das fakultative Referendum gegen die Anpassung des Mindestumwandlungssatzes bei der zweiten Säule ab. Diese hatte das Parlament im Jahr 2008 beschlossen. Das Volk
lehnte die Anpassung des Umwandlungssatzes wuchtig mit einer
Mehrheit von 72,7% ab. Das fakultative Referendum unterstützten die Links-Parteien, die Grünen und die CVP sowie die wichtigsten Gewerkschaftsorganisationen. Die Gegner der Anpassung lehnten die Rentenkürzungen im Allgemeinen ab und hielten diese für verfassungswidrig. Sie waren den Pensionskassen und Versicherungen gegenüber sehr skeptisch eingestellt und vertraten die Ansicht, dass diese in erster Linie eine Gewinnmaximierung anstrebten. Befürworter einer Änderung des Mindestumwandlungssatzes waren unter anderem die SVP und die FDP. Sie machten geltend, dass eine Anpassung des Umwandlungssatzes wegen der gesteigerten Lebenserwartung nötig sei und dass die Beiträge ohne die Senkung des Mindestumwandlungssatzes heraufgesetzt werden müssten
[23].
Die Änderung des BVG fand
in keinem einzigen Kanton Zustimmung. Am deutlichsten war die Ablehnung in den Westschweizer Kantonen Jura, Wallis und Neuenburg, wo es einen Nein-Stimmenanteil von über 80% gab. Abgesehen von Appenzell-Innerrhoden kam kein Stand auf einen Ja-Stimmen-Anteil von über 40%. Entsprechend der Vox-Analyse waren für den Stimmentscheid die sozio-demografischen und die politischen Faktoren von zentraler Bedeutung. Bei Letzteren spielte einerseits die Einordnung in das links-rechts Schema eine wichtige Rolle, aber auch die Verbundenheit mit einer Partei. Die sozio-demografischen Merkmale wirkten dahingehend, dass insbesondere die Ältesten einer Gesetzesänderung zustimmten, da sie von einer solchen Änderung nichts mehr zu befürchten hatten. Auch der Bildungsstand wirkte sich auf den Stimmentscheid aus; der Gesetzesvorlage stimmten vor allem Personen mit einer höheren Bildung zu. Die Stimmmotive der Befürworter waren überwiegend darin begründet, dass die Senkung des Mindestumwandlungssatzes die Rentenfinanzierung stabilisiere und für die nächsten Generationen sichere. Die Begründungen der Gegner und Gegnerinnen der Vorlage waren vielfältiger. Einerseits sahen sie die Vorlage nicht als die richtige Lösung zur Stabilisierung der zweiten Säule an. Andererseits wollten die Befragten keine Rentenkürzungen und lehnten die Pensionskassen, die sich auf dem Rücken der Arbeitnehmer bereichern würden, ab. Auch allgemeinere soziale und ethische Überlegungen wurden angeführt
[24].
Anpassung des Mindestumwandlungssatzes
Abstimmung vom 7. März 2010
Beteiligung: 44,9%
Ja: 617 209 (27,3%) / Stände: 0
Nein: 1 646 369 (72,7%) / Stände: 20 6/2
Parolen:
– Ja: FDP (1*), CVP (5*), SVP (6*), EVP (4*), EDU (2*), GLP (3*), BDP (1*); ZSA, eco, SGV, SBV.
– Nein: SP, CSP, PdA, GP, SD (1*), Lega; SGB, TravS.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Der Nationalrat lehnte eine Motion Rechsteiner (sp, BS) mit 119 zu 62 Stimmen ab, welche die gesetzlichen Bestimmungen dahingehend ändern wollte, dass Versicherte, die bei einer Teil- oder Gesamtliquidation hohe Rentenverluste hinnehmen müssen einen
Zuschuss aus dem
Sicherheitsfonds der Vorsorgeeinrichtung erhalten. Der Bundesrat erachtete eine Ausweitung der Leistungspflicht des Sicherheitsfonds im Sinne der Motion aus verschiedenen Gründen für nicht angezeigt und hatte daher die Ablehnung der Motion beantragt
[25].
Ein Postulat Parmelin (svp, VD) forderte, dass dem Parlament jeweils alle fünf Jahre (nicht wie bisher alle zehn Jahre) ein
Bericht über die Festlegung des Umwandlungssatzes vorgelegt wird, damit jeweils die bestmögliche Sicht auf den aktuellen Stand der Dinge gegeben sei. Nach Ansicht des Bundesrates sprach nichts dagegen, dass dieser Bericht alle fünf Jahre vorgelegt wird. Er beantragte daher die Annahme des Postulates. Dem folgte auch der Nationalrat
[26].
Eine parlamentarische Initiative Hutter (fdp, ZH) verlangte, dass sich
Selbstständigerwerbende nach der definitiven Erwerbsaufgabe in eine freiwillige Versicherung der beruflichen Vorsorge einkaufen können, sofern die Einkaufsbeiträge aus einem realisierten Liquiditätsgewinn erfolgen. Die vorberatende Kommission des Nationalrates beantragte mit 13 zu 12 Stimmen bei einer Enthaltung, der Initiative keine Folge zu leisten. Die Mehrheit der Kommission argumentierte, dass die Möglichkeit, sich nach Erwerbsaufgabe in die berufliche Vorsorge einzukaufen, einem grundlegenden Systemwechsel in der beruflichen Vorsorge gleichkomme. Eine rechts-bürgerliche Minderheit wollte der Initiative Folge geben, um die Problematik näher zu prüfen und begrüsste grundsätzlich die Möglichkeit, den Liquiditätsgewinn für die Altersvorsorge verwenden zu können. Der Nationalrat folgte mit 104 zu 79 Stimmen der Minderheit seiner Kommission und leistete der Initiative Folge
[27].
Eine im Vorjahr vom Nationalrat angenommene Motion Amacker-Amann (cvp, BL) wollte die Regierung beauftragen, die gesetzlichen Regelungen so anzupassen, dass die
Auszahlung von Altersleistungen bei Freizügigkeitspolicen und Freizügigkeitskonten in jedem Fall nur unter der Voraussetzung der schriftlichen Einwilligung des Ehegatten, der eingetragenen Partnerin oder des eingetragenen Partners gewährt wird. In Anlehnung an die Empfehlung ihrer vorberatenden Kommission nahm auch die kleine Kammer die Motion an
[28].
Eine Motion Humbel Näf (cvp, AG), welche im Vorjahr vom Nationalrat angenommen worden war, wollte den Bundesrat beauftragen, in der beruflichen Vorsorge und im Freizügigkeitsgesetz die Grundlagen dafür zu schaffen, dass im
Scheidungsfall obligatorische und überobligatorische Altersguthaben je im gleichen Verhältnis aufgeteilt werden. Der Ständerat folgte der Empfehlung des Bundesrates und nahm die Motion an
[29].
Die FDP forderte in einer Motion, dass die maximalen
Steuerfreibeträge für Einzahlungen in die Säule 3a gegenüber heute substantiell erhöht werden, da nach ihrer Ansicht die Eigenverantwortung in der Altersvorsorge zu stärken sei. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung der Motion, da nur gerade 10% aller Steuerpflichtigen in der Lage seien, den bereits möglichen vollen Abzug zu machen. Die vorgeschlagene Massnahme sei folglich nicht geeignet, die Vorsorge effektiv zu stärken. Das sah der Nationalrat anders. Er nahm die Motion mit 110 zu 55 Stimmen an
[30].
Die kleine Kammer nahm eine Motion Graber (cvp, LU) an, welche eine
administrative Entschlackung des BVG forderte. Damit soll erreicht werden, dass die Miliztauglichkeit der zweiten Säule gewährleistet wird und Versicherte von einer möglichst hohen Transparenz profitieren können. Mit mehr Wettbewerb und anderen geeigneten Massnahmen sollen ausserdem die Verwaltungskosten gesenkt werden
[31].
[16]
AB SR, 2010, S. 51 ff.
[17]
AB NR, 2010, S. 1285 ff.
[18]
AB SR, 2010, S. 1087 f.;
AB NR, 2010, S. 1834 f.
[19]
AB SR, 2010, S. 1354;
AB NR, 2010, S. 2181.
[20]
AB NR, 2010, S. 43 f. Siehe
SPJ 2009, S. 217.
[21]
AB SR, 2010, S. 165 ff.;
AB NR, 2010, S. 382.
[22]
AB SR, 2010, S. 361;
AB NR, 2010, S. 575.
[23] Presse vom 8.3.10. Siehe
SPJ 2008, S. 218 f.
[24]
BBl, 2010, S. 2625 ff.; Presse vom 8.2-8.3.10; Lloren, Anouk / Nai, Alessandro / Gavilans, Amanda,
Vox-Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 7. März 2010, Bern und Genf 2010.
[25]
AB NR, 2010, S. 278.
[26]
AB NR, 2010, S. 1131.
[27]
AB NR, 2010, S. 665 ff.
[28]
AB SR, 2010, S. 79. Siehe
SPJ 2009, S. 218
.
[29]
AB SR, 2010, S. 1088 f. Siehe
SPJ 2009, S. 218.
[30]
AB NR, 2010, S. 1328.
[31]
AB SR, 2010, S. 1089 ff.
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