Année politique Suisse 2011 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Gerichte
Die Kommission für Rechtsfragen des Nationalrates (RK-N) beantragte mittels parlamentarischer Initiative, die befristete Verordnung zu den Richterstellen am Bundesgericht in eine gleichlautende unbefristete Verordnung umzuwandeln. Konkret ging es um die Festlegung der Anzahl der Richterstellen ab 1. Januar 2012, die unverändert bei 38 vollamtlichen und 19 nebenamtlichen Stellen bleiben soll. Weder im Nationalrat noch im Ständerat war die Vorlage umstritten. Sie wurde in beiden Kammern einstimmig (mit 194 zu 0 bzw. mit 44 zu 0 Stimmen) angenommen. Der Bundesrat und das Bundesgericht selber begrüssten die Verordnung. Dies auch deshalb, weil die Geschäftslast des Bundesgerichtes in den letzten Jahren stabil geblieben sei. Laut dem Geschäftsbericht des Bundesgerichtes gingen 2010 total 7 367 neue Fälle ein (2009: 7 189) und 7 424 Fälle konnten bearbeitet werden (7 242) [47].
Eine weitere parlamentarische Initiative der RK-N betraf die Richterverordnung. Die Berechnungsgrundlage für die Löhne der erstinstanzlichen Richterinnen und Richter sollen laut dem Vorstoss dem System der Bundesverwaltung angepasst und deren Höchstalter neu auf 68 Jahre festgelegt werden (bisher: 64 / 65 Jahre). Die Änderungen wurden im Nationalrat einstimmig angenommen, die Beratungen im Ständerat fanden im Berichtsjahr noch nicht statt [48].
Einigen Wirbel verursachte eine Vorlage der RK-N, die auf die Einführung einer Verfassungsgerichtsbarkeit zielte und auf zwei parlamentarische Initiativen Studer (evp, AG) und Müller-Hemmi (sp, ZH) zurückging. Im konkreten Fall soll das Bundesgericht Bundesgesetze auf ihre Übereinstimmung mit der Verfassung kontrollieren können. In der im Februar gestarteten Vernehmlassung äusserten sich die SVP und die FDP ablehnend. Die SP und die Grünen sowie Anwälte, Richter und 12 Kantone, und etwas später auch der Bundesrat befürworteten den Ausbau. Wurde auf der einen Seite eine Justizialisierung der Politik und das Ende der direkten Demokratie befürchtet, hob die andere Seite die bis jetzt nicht gewährleistete Normenhierarchie und die Stärkung des Menschen- und Grundrechtschutzes hervor. Mit 13 zu 10 Stimmen bei zwei Enthaltungen empfahl die Kommission schliesslich, Artikel 190 zu streichen, der die Unanfechtbarkeit der Bundesgesetze begründet. Die grosse Kammer folgte im Dezember ihrer Kommission und nahm den Antrag mit 94 zu 86 Stimmen an. In der kleinen Kammer wurde das Geschäft im Berichtsjahr nicht mehr behandelt [49].
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Bundesanwaltschaft
Zum ersten Mal wählte das Parlament und nicht mehr der Bundesrat den Bundesanwalt. Der amtierende Erwin Beyeler, der 2009 auf den umstrittenen Valentin Roschacher gefolgt war, musste sich der Wiederwahl stellen. Im Vorfeld musste Beyeler vor allem aufgrund des Falls ‚Holenweger‘ Kritik einstecken (vgl. nachfolgend). Die Gerichtskommission hatte sich nur knapp mit 9 zu 7 Stimmen bei einer Enthaltung für seine Wiederwahl ausgesprochen. In der Sommersession erhielt Beyeler dann von der Bundesversammlung lediglich 109 von 227 gültigen Stimmen, erreichte also das nötige Mehr nicht und wurde so abgewählt. Es war insbesondere die SVP, die sich gegen die Wiederwahl Beyelers einsetzte und vor der Wahl nochmals die ganze Kritik an dessen Person wiederholte. Die Gerichtskommission musste in der Folge einen Nachfolger suchen und schlug aus einem Kandidatenseptett einstimmig den parteilosen Michael Lauber vor. Lauber sei international gut vernetzt und hätte Erfahrung mit der Bekämpfung von Geldwäscherei. Zudem habe er als Untersuchungsrichter zu Beginn der 1990er Jahre in Bern auch Kenntnisse in der Strafverfolgung gesammelt. Für das Amt hatten sich unter anderen auch die stellvertretenden Bundesanwälte Ruedi Montanari und Maria-Antonella Bino beworben. Die Gerichtskommission setzte sich aber bewusst für einen externen Kandidierenden aus. Die Bundesversammlung folgte Ende November dem Vorschlag der Gerichtskommission und wählte Lauber mit 203 von 206 gültigen Stimmen [50].
Den 2010 aufgrund des Unmutes über die vorgeschlagene Einstellung von drei Ausländern als Staatsanwälte eingereichten Vorstössen zur Einführung der Bedingung der Schweizer Staatsbürgerschaft für die Besetzung von Kaderstellen in der Bundesanwaltschaft wurden unterschiedliche Schicksale zuteil. Die Diskussion zur Motion Fiala (fdp, ZH) wurde verschoben und die Motion Baumann (svp, TG) wurde diskussionslos abgelehnt [51].
2003 hatte die Bundesanwaltschaft ein Verfahren gegen den Bankier Oskar Holenweger wegen Verdachts auf Wäsche von Drogengeldern eingeleitet. 2010 hatte sie dann schliesslich Klage eingereicht. Der Fall sollte zum Verhängnis gleich für zwei Bundesanwälte werden. Der Rücktritt von Valentin Roschacher im Jahr 2006 und insbesondere die Nichtwiederwahl von Erwin Beyeler im Berichtsjahr (siehe oben) waren unmittelbar mit dem Fall Holenweger verknüpft. Im April 2011 hatte das Bundesstrafgericht Holenweger frei gesprochen und die Anklagepunkte der Bundesanwaltschaft allesamt demontiert. Der Freispruch wurde in der Presse denn auch als Debakel für Beyeler interpretiert. Der Freispruch war Wasser auf die Mühlen der SVP, die mutmasste, dass die Abwahl Christoph Blochers aus dem Bundesrat 2007 ebenfalls mit dem Fall Holenweger zu tun gehabt haben musste. Blocher war damals vorgeworfen worden, in ein Komplott gegen den damaligen Bundesanwalt Roschacher verwickelt gewesen zu sei. Mit dem Freispruch Holenwegers erwiesen sich diese Vorwürfe jedoch als haltlos. Ende November kam auch die Geschäftsprüfungskommission des Parlaments zum Schluss, dass der ehemalige Bundesrat nicht an einem Komplott gegen den ehemaligen Bundesanwalt beteiligt gewesen war [52].
Gerügt wurde die Bundesanwaltschaft auch im so genannten Hells-Angels-Prozess. Im April 2004 kam es zu einer spektakulären Polizeiaktion gegen den Motorradclub, der unter Verdacht geraten war, eine kriminelle Vereinigung zu sein. Zwar wurde im Berichtsjahr ein Mitglied der Hells Angels vom Bundesstrafgericht angeklagt, aber nicht wegen des ursprünglichen Verdachts der Bundesanwaltschaft, sondern aufgrund eines Drogendeliktes. Der Bundesstrafrichter kritisierte die Bundesanwaltschaft, sie hätte viel zu lange gebraucht, um den Fall aufzuarbeiten und das Beschleunigungsgebot verletzt. Im Oktober musste der Prozess aufgrund unvollständiger Beweismittel sogar vertagt werden [53].
In die Schlagzeilen geriet die Bundesanwaltschaft schliesslich auch aufgrund des Einsatzes so genannter Trojaner, also versteckter Software-Programme, die ein Ausspionieren von Computern ermöglichen. Solche Spionage-Software soll in vier Fällen zum Einsatz gekommen sein, dreimal in der Terrorismusbekämpfung und einmal gegen organisierte Kriminalität [54].
 
[47] Pa.Iv. 11.400: AB NR, 2011, S. 834 f. und 1872, AB SR, 2011, S. 735 f. und 1039; Geschäftsbericht BG 11.002: AB SR, 2011, S. 965 ff., AB NR, 2011, S. 436 ff.; Medienmitteilung Bundesrat vom 4.5.11; Presse vom 15.3.11.
[48] Pa.Iv. 10.505: AB NR, 2011, S. 2164 ff.; SN, 21.12.11.
[49] Pa.Iv. Studer: 05.445 und Pa.Iv. Müller-Hemmi: 07.476: AB, NR, 2011, S. 1918 ff.; Presse vom 20.5.11; NZZ, 22.6., 25.6. und 3.12.11.; BaZ, 25.7.11; LT, 1.10.11; Presse vom 7.12.11; zum Thema Volksinitiativen und Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. auch unten (Volksrechte).
[50] Nichtwiederwahl Beyelers: AB NR, 2011, S. 1304 f.; Medienmitteilung Gerichtskommission vom 25.5.11; WW, 28.4.11; Presse vom 12.5., 26.5., 28.5. 16.6. und 17.6.11; Wahl Laubers: AB NR, 2011, S. 1880; Medienmitteilung Gerichtskommission vom 24.8.11; vgl. SPJ 2010, S. 45 f.; NZZ, 20.7.11; Presse vom 28.7., 25.8. und 29.9.11.
[51] Mo. Baumann 10.4097: AB NR, 2011, S. 1265; Mo. Fiala 10.3966; SPJ 2010, S. 46.
[52] Presse vom 26.3., 23.4. und 26.11.11, TAM, 3.12.11; SPJ 2010, S. 46.
[53] Presse vom 6.5., 18.10.11.
[54] Presse vom 15.10.11.