Année politique Suisse 2011 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Volksrechte
Aufgrund der Gesamterneuerungswahlen im Herbst des Berichtsjahres (vgl. unten, Teil I, 1e, Wahlen) wurde im Berichtsjahr nur ein Termin für eine einzige eidgenössische Volksabstimmung wahrgenommen. Am 13. Februar wurde die Volksinitiative „für den Schutz vor Waffengewalt“ mit 43.7% Ja-Stimmen abgelehnt (vgl. Teil I, 1b, Strafrecht).
Da viele Parteien Volksbegehren als Schwungrad für die Wahlen brauchten, nahm die Zahl hängiger
Initiativen stark zu. Im Berichtjahr selber waren acht Initiativen zustande gekommen. Damit waren Ende 2011 nicht weniger als 22 Volksbegehren hängig (Ende 2010: 17). Im Berichtjahr wurden zudem 23 Begehren neu lanciert (2010: 14). Im Unterschriftenstadium befanden sich somit insgesamt 28 Initiativen (2010: 15). Drei Begehren scheiterten 2011 an der Unterschriftenhürde (2010: 2) und drei wurden zurückgezogen (2010: 1), davon eine bedingt (2010: 1) (vgl. Tabelle
Volksinitiativen_2011.pdf). Zudem kam am 25. Juli mit 60 124 gültigen Unterschriften das Referendum gegen das Bundesgesetz über die Buchpreisbindung zustande
[55].
Im Rahmen der Abzockerinitiative, über die die Räte seit Februar 2008 debattierten, wurde erneut über die
Fristen zur Behandlung von Volksinitiativen diskutiert. Aktuell beträgt die Behandlungsfrist zweieinhalb Jahre mit der Möglichkeit der Verlängerung um jeweils 1 Jahr, wenn ein Rat einen Gegenentwurf beschliesst und ein solcher in der Differenzbereinigung feststeckt. Die Frist für die Abzockerinitiative wurde bereits zweimal um 1 Jahr verlängert. Die staatspolitische Kommission des Nationalrates kündigte an, mit einem Vorstoss im Rahmen der laufenden Revision des Parlamentsgesetzes die Diskussion um die Behandlungsfrist neu lancieren zu wollen. Es dürfe nicht der Eindruck erweckt werden, dass Volksabstimmungen aus taktischen Gründen verzögert würden. Deshalb müsse die Möglichkeit der Fristverlängerung eingeschränkt werden
[56].
Zum zweiten Mal seit Einführung dieser Möglichkeit im Januar 2010 wurde eine Initiative bedingt zurückgezogen: Ein
bedingter Rückzug einer Initiative wird dann wirksam, wenn ein indirekter Gegenvorschlag in Kraft tritt. Die Initiative „für menschenfreundliche Fahrzeuge (Offroader-Initiative)“ wurde unter der Bedingung zurückgezogen, dass die im März vom Parlament beschlossene Änderung des Bundesgesetzes über die Reduktion der CO2-Emissionen in Kraft tritt. Die Initiative sieht vor, dass neue Autos ab 2015 lediglich 130 Gramm CO2 pro Kilometer ausstossen dürfen. Die Initianten bemängelten, dass die Regelung erst im Mai 2012 und nicht wie versprochen im Januar 2012 in Kraft gesetzt wird, sahen aber von einer Reaktivierung ihrer Initiative letztlich trotzdem ab
[57].
2010 hatte der Bundesrat einen direkten Gegenvorschlag zur
Volksinitiative „Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk)“ vorgelegt. Das Volksbegehren will, dass aussenpolitische Verträge in wichtigen Bereichen sowie völkerrechtliche Verträge mit einmaligen Ausgaben von mehr als 1 Mia. CHF oder wiederkehrenden Kosten von mehr als 100 Mio. CHF jährlich dem obligatorischen Referendum unterstellt werden. In ihrem Gegenvorschlag schlug die Regierung vor, lediglich jene Staatsverträge obligatorisch der Stimmbevölkerung vorzulegen, die Verfassungsrang haben. Im Berichtsjahr diskutierten die Räte über Initiative und Gegenvorschlag. In der grossen Kammer verlief die intensive Diskussion zwischen der SVP und den restlichen Fraktionen. Einigkeit herrschte hinsichtlich der zunehmenden Bedeutung der Aussenpolitik und der Notwendigkeit einer entsprechenden Anpassung der direkten Demokratie. Der Mehrheit des Nationalrates ging die Initiative aber zu weit. In der Folge unterstützte die grosse Kammer den Gegenvorschlag des Bundesrates und empfahl die Initiative zur Ablehnung. Im Ständerat wurde dann jedoch Nicht-Eintreten auf die Debatte um den Gegenvorschlag und ebenfalls Ablehnung der Initiative beschlossen. Die grosse Kammer, an die das Geschäft somit zurückging, folgte diesem Beschluss in der neuen Legislatur. Somit wird 2012 nur die Initiative zur Abstimmung gelangen. Die Debatten zur Initiative unter dem Gesichtspunkt der Aussenpolitik erörtern wir auch unten, Teil I, 2 (Leitlinien)
[58].
Die Diskussion über die
Vereinbarkeit von Volksinitiativen mit internationalen Abkommen und dem Völker- und Menschenrecht wurde im Berichtsjahr durch neue Vorschläge und Vorstösse erweitert. Der Bundesrat legte den versprochenen Zusatzbericht zum Verhältnis von Völkerrecht und Volksinitiativen vor. In einem ersten Bericht von 2010 hatte er lediglich einige Optionen zur Klärung des Verhältnisses vorgeschlagen. Der Zusatzbericht sollte eine vertiefte Diskussion liefern. Zwei Vorschläge lieferten dazu Anlass. Auf der einen Seite sollte die bisher lediglich formale Vorprüfung materiell erweitert werden: Es soll insbesondere geprüft werden, ob der Initiativtext mit dem Völkerrecht vereinbar ist oder nicht. Das Resultat dieser Vorprüfung würde auf den Unterschriftenbögen vermerkt und dem Initiativkomitee stände es frei, die Unterschriftensammlung trotzdem vorzunehmen oder aber den Text anzupassen. Auf der anderen Seite sollte der Katalog der Gültigkeitsvoraussetzungen erweitert werden: Begehren, die verfassungsrechtliche Grundrechte verletzen, sollten neu für ungültig erklärt werden können
[59].
Die Räte hatten derweil über Vorstösse zu befinden, die in ähnliche Richtungen zielten. Die parlamentarische Initiative Moret (fdp, VD) hätte die
Gültigkeitsprüfung einer Initiative einer richterlichen Instanz im Sinne eines Verfassungsgerichts unterstellen wollen. Mit dem Argument, dass diese Prüfung erst nach der Sammlung der Unterschriften zur Anwendung käme, wurde der Vorstoss in der Sondersession im April vom Nationalrat verworfen. In der gleichen Debatte wurde in der grossen Kammer ein Postulat der staatspolitischen Kommission überwiesen, das den Bundesrat beauftragte, mögliche Verfahren für eine Gültigkeitsprüfung vor der Unterschriftensammlung aufzuzeigen. Trotz des Hinweises von Bundesrätin Sommaruga, dass der Bundesrat diesem Anliegen bereits im Zusatzbericht nachgekommen sei, wurde der Vorstoss angenommen. Im Herbst lehnte der Ständerat die parlamentarische Initiative Vischer (gp, ZH) ab, die ein Volksbegehren auch dann für ungültig erklären lassen wollte, wenn es gegen den Grundrechtsschutz und Verfahrensgarantien des Völkerrechts verstösst (z.B. Menschenrechtskonvention). Der im Vorjahr vom Nationalrat noch überwiesene Vorstoss wurde in der kleinen Kammer als zu weit gehend beurteilt. Dafür überwies der Ständerat in der gleichen Sitzung eine Motion seiner staatspolitischen Kommission, mit welcher der Bundesrat beauftragt wird, auf der Basis des Zusatzberichtes eine Vorlage zu erarbeiten, in der die rechtlichen Grundlagen für die nichtbindende materielle Vorprüfung des Initiativtextes vor der Sammlung der Unterschriften erarbeitet werden. Die gleichlautende Motion der staatspolitischen Kommission des Nationalrates wurde dann in der Wintersession auch von der Volksvertretung überwiesen. Allerdings nahm die nationalrätliche Kommission auch den zweiten Punkt des Zusatzberichtes des Bundesrats auf und verlangte Vorschläge für eine Erweiterung des Katalogs der Gründe für die Ungültigkeit einer Volksinitiative
[60].
Hohe Wellen warf die Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform vom 24. Februar 2008. Aus Sicht der SP hatten die
Abstimmungsunterlagen falsche Angaben zu den Steuerausfällen enthalten. Kiener-Nellen (sp, BE) und Jositsch (sp, ZH), sowie eine Privatperson reichten deshalb Beschwerde ein. Ende Berichtjahr entschied das Bundesgericht gegen eine Wiederholung der Abstimmung, rügte aber den Bundesrat für die fehlerhafte Kommunikation
[61].
Der Nationalrat hiess im Berichtjahr einstimmig eine auf die parlamentarische Initiative Meyer-Kaelin (cvp, FR) zurückgehende Änderung im Bundesgesetz über die
politischen Rechte der Auslandschweizer gut. Bisher mussten sich Auslandschweizerinnen und -schweizer alle vier Jahre neu registrieren lassen, um an Abstimmungen und Wahlen teilnehmen zu können. Neu gilt die Teilnahme an einer Abstimmung oder Wahl automatisch als Registrierung für vier Jahre. Auch im Ständerat als Zweitrat war das vom Bundesrat unterstützte Anliegen unbestritten. In der Schlussabstimmung nahmen beide Räte den Entwurf einstimmig an
[62].
Mehrere Vorstösse zielten im Berichtsjahr auf die
Rahmenbedingungen im Vorfeld von Volksabstimmungen. Die staatspolitische Kommission hatte noch im Jahr 2010 die parlamentarische Initiative Mörgeli (svp, ZH), die ein Verbot von
Meinungsumfragen vor Wahlen und Abstimmungen fordert, abgelehnt und ihrerseits eine Motion eingereicht, mit der Rahmenbedingungen für die Publikation von solchen Umfragen geschaffen werden sollen. Der Bundesrat empfahl die Motion zur Ablehnung, da er auf die Selbstregulierung der Branche vertraue. Nach einem Wortgefecht zwischen SVP-Vertretern und dem Kommissionssprecher Gross (sp, ZH) wurden sowohl die parlamentarische Initiative (mit 83 zu 73 Stimmen) als auch die Motion (mit 80 zu 72 Stimmen) abgelehnt. Die unabhängige Beschwerdeinstanz (UBI) hatte im Juni fünf von neun Beschwerden gegen Beiträge zu Meinungsumfragen abgelehnt. Auf eine trat sie nicht ein und bei den restlichen dreien rügte sie, dass zu wenig deutlich unterschieden worden sei zwischen klar Ja/Nein-Stimmenden und eher Ja/Nein-Stimmenden. Die Beschwerden im Zusammenhang mit der Minarettinitiative, bei welcher Umfragen deutliche Nein-Mehrheiten prognostiziert hatten, die schlussendlich aber angenommen wurde, wurden alle abgewiesen
[63].
Eine Verbesserung der
Regelung von Abstimmungskampagnen hatte auch die Motion der staatspolitischen Kommission des Ständerates zum Ziel: Finanzierungsquellen für solche Kampagnen sollen offengelegt werden müssen. Dabei solle es weder um Verbote noch um Zusatzfinanzierung des Bundes, sondern um die Transparenz des vielfach ungleichen Kampagnenbudgets gehen. Eine informierte Stimmbürgerschaft müsse wissen, woher die Gelder der Pro- und Kontrakomitees stammten. Gegen die Motion, die letztlich relativ knapp mit 22 zu 18 Stimmen angenommen wurde, argumentierten vor allem die Vertreter der SVP, die vor stärkerer Regulierung und Bürokratisierung des Abstimmungskampfes warnten und die Praktikabilität in Zweifel zogen. Auch der Bundesrat, der auf eine Reihe von anstehenden Berichten verwies, darunter der OSZE-Wahlbeobachter-Bericht, hatte die Ablehnung der Motion beantragt
[64].
Das Angebot an Möglichkeiten für die elektronische Stimmabgabe (E-Voting) wurde im Berichtsjahr erneut langsam erweitert. Anlässlich der Volksabstimmung vom 13. Februar 2011 hatten rund 177 500 Stimmbürgerinnen und Stimmbürger die Möglichkeit, elektronisch abzustimmen, darunter alle stimmberechtigten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer der Kantone LU, SO, BS, SH, SG, AG, TG. In den Kantonen ZH, FR, GR, NE und GE hatten neben den Auslandschweizern auch Stimmberechtigte ausgewählter Testgemeinden die Möglichkeit, ihre Stimme elektronisch abzugeben. Insgesamt hatte rund ein Siebtel der Stimmberechtigten, welche die Möglichkeit für E-Voting besassen, davon auch Gebrauch gemacht (25 600; 14.4%). Im Vergleich zum gesamten Elektorat entspricht dies etwa 0.5%.
Zum ersten Mal bewilligte der Bundesrat auch E-Voting bei nationalen Wahlen. Bei den Parlamentswahlen vom Herbst konnten die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer der Kantone AG, BS, GR und SG ihren Wahlentscheid elektronisch abgeben. Dieser neue Kanal wurde aber – wie bisher auch – lediglich für in sogenannten Wasenaar-Staaten und in EU-Staaten Wohnhaften geöffnet. Die total rund 22 000 Individuen entsprachen etwa 0.4% des gesamtschweizerischen Elektorates. Von E-Voting Gebrauch machten schliesslich 3 562 Personen, was als Erfolg gewertet wurde. Bei den Wahlen 2015 soll dem Grossteil der im Ausland wohnhaften Schweizerinnen und Schweizer die elektronische Wahlstimmenabgabe ermöglicht werden.
Um die geplanten, weiteren Umsetzungen von E-Voting zu begleiten und zu beraten wurde im Sommer des Berichtjahres ein Steuerungsausschuss konstituiert, der aus vier Vertretern und Vertreterinnen des Bundes – darunter die Bundeskanzlerin Corina Casanova – und fünf Vertreterinnen und Vertretern der Kantone besteht. Der Ausschuss soll in Zukunft mindestens zwei Mal pro Jahr tagen und die Fortschritte der so genannten Roadmap (Strategische Planung Vote électronique) evaluieren. In einem Bericht zu E-Demokratie und E-Partizipation hatte die Bundeskanzlei den Einfluss des Internets auf die Volksrechte analysiert und mögliche Zukunftsszenarien entwickelt.
Der
Jugendsession ging diese Entwicklung zu wenig rasch. Per Petition forderte sie eine flächendeckende Einführung der elektronischen Stimmabgabe zusammen mit einer Online-Hilfe. Zurzeit ist das Angebot auf Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer und in einigen Testgemeinden auf maximal 10% der Stimmberechtigten beschränkt. Das Begehren hatte in beiden Räten allerdings keine Chance. Die Risiken wurden von den staatspolitischen Kommissionen als noch zu hoch eingeschätzt. Die schrittweise, langsame Umsetzung sei deshalb zu bevorzugen
[65].
[55] Referendum: BBl., 2011, S. 6405 f.; Exp., 24.6.11; LT, 10.11.11; Blick, 11.11.11; Presse vom 29.12.11.
[56] NZZ, 19.11.11.; vgl. SPJ 2010, S. 48 f.; zur Abzockerinitiative vgl. Teil I, 4a, Gesellschaftsrecht.
[57] BBl. 2011, S. 5517; AZ, 9.8.11; siehe SPJ 2010, S. 50.
[58] BRG 10.090: AB NR, 2011, S. 669 ff., S. 2084 ff. und S. 2281, AB SR, 2011, S. 844 ff. und S. 1308; SPJ 2010, S. 74 f. Zur Frage der Vereinbarkeit von direkter Demokratie und Übernahme des EU-Rechts vgl. die abgelehnte Motion der SP-Fraktion (11.3434); Presse vom 14.4. und 20.10.11.
[59] BBl, 2011, S. 3613 ff.
[60] Pa.Iv. Moret 09.521 und Po. SPK-NR 10.3885: AB NR, 2011, S. 696 ff.; Pa.Iv. Vischer 07.477: AB SR, 2011, S. 849 ff.; Mo. SPK-SR 11.3751: AB SR, 2011, S. 849 ff., AB NR, 2011, S. 2166 ff.; Mo. SPK-NR 11.3468: AB NR, 2011, S. 2166 ff.; NLZ, 3.1.11; Presse vom 1.4., 14.4., 20.5. und 21.12.11; WW, 20.4.11.
[61] NZZ, 5.3.11 und 14.5.11, TA, 13.4., 14.4. und 20.12.11; zur Debatte in den Räten vgl. Teil I, 5, direkte Steuern.
[62] Pa.Iv. 08.522: AB NR, 2011, S. 90 f. und S. 1287, AB SR, 2011, S. 363 f. und S. 706; BBL, 2011, S. 697 ff. (Kommission) und S. 4839 (Bundesgesetz); vgl. dazu auch unten, Teil I, 2 (Leitlinien). .
[63] Pa.Iv. Mörgeli 09.524: AB NR, 2011, S. 93 ff.; Mo. SPK-NR 10.3642: AB NR, 2011, S. 93 ff. UBI: Medienmitteilung, 17.6.11; BZ, 18.6., 20.7. und 3.12.11.
[64] Mo. 11.3467: AB SR, 2011, S. 915 ff.; vgl. dazu auch die Ip. sozialdemokratische Fraktion und die entsprechende Antwort des Bundesrates (10.3900); Presse vom 11.5.11: WOZ, 12.5.11: Presse vom 27.9.11.
[65] Medienmitteilungen Bundeskanzlei vom 13.2., vom 22.6. vom 22.8., sowie vom 24.10.11; Bericht:
Lit. BK;
BZ, 8.4.11,
NLZ, 9.4.11,
NZZ, 17.5.11;
SoS, 10.9.11;
BZ, 17.9.11;
SoS, 19.9.11.
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