Année politique Suisse 2011 : Allgemeine Chronik / Schweizerische Aussenpolitik
 
Europa: EU
Die EU forderte von der Schweiz eine Liberalisierung ihres Strommarktes und eine vollständige Integration in den europäischen Binnenmarkt. Entsprechend äusserte sich der EU-Kommissar für Energie Oettinger am Stromkongress Anfang des Jahres in Bern. Ein geplantes Energieabkommen zwischen der Schweiz und der EU stand dann auch im Zentrum der Gespräche zwischen Bundesrätin Leuthard und dem zuständigen Kommissar im April 2011 in Brüssel [14].
Nach dem Ständerat im Vorjahr genehmigte auch der Nationalrat das Eurojust-Abkommen zwischen der Schweiz und der EU. Dieser Vertrag regelt die Kooperation auf dem Gebiet der Justiz und insbesondere die Zusammenarbeit bei grenzüberschreitenden Ermittlungen und Strafverfolgungen. Explizit festgeschrieben ist auch der Umgang mit sensiblen, personenbezogenen Daten. Das Vertragswerk legt insbesondere die Zusammenarbeit bei schwerer Kriminalität fest, so beispielsweise bei Terrorismus, Menschenhandel, Drogenschmuggel, Geldwäscherei oder kriminellen Organisationen. Eine Minderheit Schwander (svp, SZ) stellte bei den Beratungen in der grossen Kammer den Antrag auf Nichteintreten. Begründet wurde dieser mit der unklaren Anwendung des Gesetzes beim Datenaustausch; so sei nicht eindeutig, welche Daten übermittelt werden müssten. Ebenso sollte nach Ansicht der Minderheit dieser Informationsaustausch nach wie vor ausschliesslich über die verfahrensmässig geordnete Rechtshilfe in Strafsachen abgewickelt werden. Dem entgegnete Bundesrätin Simonetta Sommaruga, dass das Abkommen eine effizientere Zusammenarbeit erlaube – was in Fällen schwerer Kriminalität oftmals entscheidend sei. Zudem fügte sie an, dass die Schweiz bei den konkreten Einzelfällen das Vertragswerk nur anwenden würde, wenn es das Schweizer Gesetz zulasse. Der Nationalrat folgte der Argumentation der Justizministerin und stimmte dem Abkommen zu. Einzig die SVP-Fraktion votierte dagegen [15].
Aufgrund des Konflikts zwischen der Schweiz und Italien über den Zugang von Schweizer Firmen zu öffentlichen Ausschreibungen in Italien schaltete sich im März die EU-Kommission ein, indem sie ein Vertragsverletzungsverfahren gegenüber Italien einleitete. Die Schweiz wirft dem südlichen Nachbarland Missachtung der Bestimmungen der bilateralen Verträge vor. Bis Ende des Berichtjahres hat das Verfahren noch zu keinem Ergebnis geführt [16].
Das Parlament überwies eine Motion Markwalder (fdp, BE) zur Unterstützung des europäischen Jahres der Freiwilligenarbeit. Darin wurde der Bundesrat aufgefordert, dieses Projekt aufgrund der grossen Bedeutung der Freiwilligenarbeit für die Schweiz finanziell zu fördern. Die Regierung empfahl die Motion zur Annahme. Im Nationalrat wurde der Antrag vonseiten Mörgeli (svp, ZH) bekämpft, welcher sich an der staatlichen Finanzierung störte. Der Nationalrat folgte diesem Argument grossmehrheitlich nicht und nahm die Motion an. Der Ständerat fällte in der Herbstsession den gleichen Entschluss [17].
Nach dem Nationalrat im Vorjahr nahm auch der Ständerat vom Bericht des Bundesrates zum Verhältnis der Schweiz zu den europäischen Agenturen Kenntnis. Dieser war in Erfüllung eines Postulats David (cvp, SG) verfasst worden und analysierte die Beziehungen der Schweiz zu den über dreissig Agenturen der Europäischen Union [18].
Der Bundesrat entschied im Juni, dass die Schweiz mit der EU über das Kabotage-Recht verhandeln soll. Dieses würde Schweizer Fluggesellschaften erlauben, im Landesinnern der einzelnen EU-Länder Linienflüge durchzuführen. Die zuständigen Minister aus den EU-Mitgliedsländern hatten bereits im April signalisiert, zu Verhandlungen über die Ausweitung des Luftverkehrsabkommens bereit zu sein. Das Verhandlungsmandat des Bundes wurde in den Kommissionen der beiden Parlamentskammern und von den Kantonen beraten und führte anschliessend zur Aufnahme der Verhandlungen per Ende November des Berichtjahres [19].
Im Juni diskutierte der Nationalrat im Rahmen der ausserordentlichen Session Europapolitik und Bilaterale III Vorstösse in verschiedensten thematischen Feldern mit europapolitischem Bezug. Die parlamentarischen Vorstösse stammten zu über der Hälfte aus der SVP-Fraktion [20].
Gleich zu Beginn stand die Debatte der FDP-Fraktionsmotion an, welche vom Bundesrat Verhandlungen mit der EU im Bereich der Finanzdienstleister forderte. Zurzeit könnten die Schweizer Finanzdienstleister nicht von einem weitreichenden, europäischen Marktzugang profitieren. Als einzige gemeinsame Bestimmung bestehe das Versicherungsabkommen von 1989, welches keine Auflagen im Bereich der Lebensversicherungen enthalte. Dabei sei die gegenseitige Dienstleistungsfreiheit nicht geregelt. Nur das Recht auf Niederlassung und die Erbringung von Leistungen im Rahmen von Schadensversicherungen seien darin festgehalten. Der Bundesrat empfahl die Motion zur Ablehnung, da die Verwaltung derzeit Abklärungen für verschiedene, alternative Kooperationsmechanismen treffe. Daher sei die Aufnahme von Verhandlungen verfrüht. Der Nationalrat folgte jedoch der Argumentation der FDP-Fraktion und stimmte mit grosser Mehrheit für die Motion. Die 49 Gegenstimmen stammten allesamt von SVP-Parlamentariern [21].
Im Nationalrat abgelehnt wurde hingegen eine Motion Prelicz-Huber (gp, ZH) mit der Forderung nach einer unverzüglichen Beteiligung der Schweiz am Kulturprogramm der EU. Die Zusammenarbeit im Rahmen dieses Programms würde den Austausch mit der europäischen Kulturszene intensiieren, es Schweizer Kulturschaffenden aber auch ermöglichen, von EU-Fördergeldern zu profitieren. Der Vorstoss erhielt fast ausschliesslich Unterstützung aus dem links-grünen Lager und wurde nicht überwiesen [22].
Keine Mehrheit fand auch die umstrittene Motion der SP-Fraktion, welche den automatischen Informationsaustausch mit der EU im Rahmen der europäischen Zinsertragssteuerrichtlinie verlangte. Die sozialdemokratische Fraktion begründete ihr Anliegen mit dem unter Druck geratenen Finanzplatz Schweiz. Nur eine konsequente Weissgeldstrategie würde diesen langfristig stärken. In der Begründung des Vorstosses nahmen die SP-Vertreter ein potenzielles Gegenargument vorweg, indem sie erklärten, dass der automatische Informationsaustausch nicht zum ‚gläsernen Bürger‘ führen werde, da ausschliesslich Auskünfte über die Identität des Kontoinhabers, der Bank und den Zinsertrag weitergegeben würden. Die sozialdemokratische Partei führte als ein weiteres Argument auf, dass die Schweiz durch einen solchen Vorschlag der EU in den Verhandlungen Konzessionen im Bereich des Marktzugangs abverlangen könnte. Damit konnte die SP den Nationalrat aber nicht überzeugen und der Vorstoss wurde mit 124 zu 60 Stimmen abgelehnt [23].
Ebenfalls im Bereich der Zinsbesteuerung forderte die SVP-Fraktion den Bundesrat mit einer Motion auf, Zinserträge von deutschen Staatsbürgern zurückzubehalten. Sie begründete dies mit dem Handeln der deutschen Regierung im Zusammenhang mit illegal erworbenen Schweizer Bankdaten. In seiner Stellungnahme kritisierte der Bundesrat das Verhalten der deutschen Regierung scharf, entgegnete aber auf den SVP-Vorstoss, mit dem wichtigsten Handelspartner der Schweiz sei primär eine Verhandlungslösung anzustreben. Zudem würde ein solcher Rückbehalt von Geldern eine völkerrechtliche Vertragsverletzung bedeuten. Eine Nationalratsmehrheit folgte der Landesregierung und lehnte die Motion mit 117 zu 60 Stimmen ab [24].
Ein ähnlicher Vorstoss der SVP-Fraktion forderte den Rückbehalt der Zinserträge von italienischen Bankkunden, da Italien die Schweiz auf eine Liste der Steuerparadiese gesetzt hatte. Aber auch diese Motion fand im Nationalrat keine ausreichende Zustimmung und wurde mit 102 zu 77 Stimmen verworfen [25].
Ebenfalls in der Sondersession wurde der SVP-Vorstoss für einen Rückzug des EU-Beitrittsgesuchs beraten. Nebst einer prinzipiellen Ablehnung eines Schweizer Beitritts argumentierte die Partei, dass sich auch der Bundesrat für die Weiterführung der bilateralen Beziehungen mit der EU ausgesprochen und sich damit klar gegen das 1992 in Brüssel deponierte Beitrittsgesuch positioniert hätte, was den Rückzug des Gesuchs zur folgerichtigen Handlung machen würde. Der Bundesrat riet dennoch zur Ablehnung des Vorstosses, der Rückzug des Antrags sei unnütz und das hängige Beitrittsgesuch beeinträchtige den Bilateralismus nicht. Die Mehrheit des Nationalrates war derselben Ansicht und lehnte die Motion deutlich ab [26].
Eine etwas aussergewöhnliche Motion reichte Nationalrat Freysinger (svp, VS) ein. Er forderte ein Verbot der EU-Flagge auf sämtlichen öffentlichen Gebäuden der Schweiz sowie am Sitz des EU-Botschafters in Bern. Diese Untersagung sollte auch die Verwendung des EU-Logos betreffen. Die Motion wurde immerhin von 52 Parlamentariern aus der SVP-Fraktion unterstützt, insgesamt aber mit 129 Gegenstimmen abgelehnt [27].
Der Bundesrat lehnte das Angebot der EU zur Verhandlung über die Übernahme der EU-Unionsbürgerrichtlinie für die Schweiz ab. Die Regierung begründete diese Absage unter anderem mit der Befürchtung, dass eine zunehmende Zahl von EU-Bürgern in der Schweiz Sozialhilfe beziehen könnte [28].
Anfang Juli entschied der Bundesrat, dass die Schweiz mit der europäischen Agentur für gesamteuropäische Asylfragen, dem European Asylum Support Office (EASO), Verhandlungen über die Erteilung des Beobachterstatus aufnehmen soll. Die selbständige Institution fördert die Zusammenarbeit der europäischen Staaten im Bereich des Asylwesens, verfügt aber nicht über eine Weisungskompetenz an nationale Behörden [29].
Im Auftrag eines Postulates der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats veröffentlichte der Bundesrat einen Bericht über die Unterzeichnung und Ratifikation der Europäischen Sozialcharta (ESC). Darin wurde der Übereinstimmungsgrad der Schweizer Rechtsordnung mit den Bestimmungen der ESC dargelegt [30].
Der Nationalrat hiess als erstbehandelnder Rat eine Motion Favre (fdp, NE) mit der Forderung nach Ausschluss des Tabak-Dossiers aus den Verhandlungen mit der EU im Bereich der öffentlichen Gesundheit gut. Detaillierter erläutert ist dieses Geschäft in Teil I, Kapitel 7b (Tabac) [31].
Der Nationalrat behandelte im Berichtsjahr diverse Motionen und Postulate, die sich mit verschiedenen Aspekten und möglichen Folgen eines Agrarfreizügigkeitsabkommens mit der EU befassen. Diese Anliegen sind detailliert in Teil I, Kapitel 4c (Accord de libre-échange agricole) beschrieben.
Die Thematik Cassis de Dijon wird in Teil I, Kapitel 4a (Wettbewerb) behandelt.
top
 
print
Bilateraler Weg und Bericht zur schweizerischen Europapolitik
Volkswirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann sprach sich Ende Januar ausdrücklich für die Weiterführung des bilateralen Weges und eine Weiterentwicklung dieser Beziehungen im Rahmen eines Verhandlungspakets Bilaterale III aus. Thematisch würde sich eine solche Zusammenarbeit mit der EU beispielsweise im Strombereich, beim CO2-Emissionshandel, in der Landwirtschaft oder bei den Steuern anbieten. Bundesrat Schneider-Amman würde einer solchen Vertiefung des bilateralen Weges einem Rahmenabkommen mit der EU, welches die automatische Übernahme von EU-Recht beinhalten würde, den Vorzug geben. Im Parlament stiess die Idee mehrheitlich auf Zustimmung [32].
Die europapolitischen Leitlinien, die der Bundesrat einige Tage später veröffentlichte, zielten ebenfalls in die Richtung einer bilateralen Verhandlungslösung, welche die Verknüpfung verschiedener Dossiers vorsah. Jedoch kam der Bundesrat aufgrund seiner Informationspolitik in dieser Sache vonseiten verschiedener Medien unter Druck. Diese warfen der Landessregierung vor, über die Beschlüsse des Bundesrats keine klare Auskunft gegeben zu haben. Im Rahmen der traditionellen Von-Wattenwyl-Gespräche zwischen der Regierung und den Bundesratsparteien von Anfang Februar stand dann auch das Thema EU im Zentrum der Diskussionen [33].
Der Besuch von Bundespräsidentin Calmy-Rey in Brüssel war mit Spannung erwartet worden, da auch EU-Kommissionspräsident Barroso von der Aussenministerin eine klare Stellungnahme zur weiteren Entwicklung des Verhältnisses Schweiz-EU erwartete. Das Treffen zwischen beiden Seiten verlief ohne konkrete Ergebnisse. Die EU forderte von der Schweiz die automatische Übernahme von europäischem Recht bei neuen Abkommen, ein Vorschlag, welcher bei der Schweizer Delegation auf Ablehnung stiess. Die selektive Weiterentwicklung des Bilateralismus sei für die Union kein Thema, hiess es in Brüssel. Aber auch Bundesrätin Calmy-Rey machte in ihrer Erklärung klar, dass die Beibehaltung des Status quo für die Schweiz nicht von Vorteil sei. Damit war man sich nach dem Treffen zumindest „einig über die Uneinigkeit“. Aufgrund der Kontroverse um ein mögliches drittes bilaterales Verhandlungspaket forderten die Aussenpolitischen Kommissionen beider Räte eine Klarstellung der Bundesräte Calmy-Rey und Schneider-Ammann bezüglich der Sichtweise der Schweizer Exekutive auf die Weiterentwicklung des Verhältnisses mit der EU. Nachdem sich abzeichnete, dass die Blockade der Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU von längerer Dauer sein würde, kritisierte die Aussenministerin in der Schweizer Presse das Verhalten der EU als zu passiv. Deren Vorgehen sei keiner Lösung förderlich. Die Aussagen der Bundesrätin wurden von Politikern sämtlicher Lager kritisiert. EU-Botschafter Reiterer konterte, dass nach Ansicht Brüssels der Ball bei der Schweiz liege. Beim Besuch des EU-Ratspräsidenten Van Rompuy in Zürich im November bekräftigen beide Parteien nochmals ihre Sicht auf die zukünftigen Verhandlungen. Während die EU nach wie vor eine institutionelle Lösung mit automatischer Rechtsübernahme durch die Schweiz forderte, sprach sich Aussenministerin Calmy-Rey für sektorielle Abkommen aus [34].
Der Bericht zur Evaluation der schweizerischen Europapolitik in Erfüllung des Postulates Markwalder (fdp, BE) stand im März im Ständerat zur Debatte. Dieses Begehren hatte vom Bundesrat eine detaillierte Darstellung der Vor- und Nachteile der bilateralen Zusammenarbeit mit der Europäischen Union sowie eine Skizzierung der zukünftigen Europapolitik mit konkreten Vorschlägen zur Zusammenarbeit gefordert. Die Landesregierung würdigte darin die Bedeutung Europas für die Schweizer Aussen- und Wirtschaftspolitik und beschrieb das bilaterale Vertragswerk als zielführendstes europapolitisches Instrument, das es fortzuführen gelte. Sie anerkannte aber auch, dass der Bilateralismus zukünftig von Seiten der EU weiter unter Druck geraten könnte, auch aufgrund der gestiegenen Anzahl an EU-Mitgliedsländern. Zudem unterstrich der Bundesrat auch die Schwächen des bilateralen Weges wie beispielsweise die mangelnde Mitsprache in EU-Entscheidungsprozessen und der nicht immer garantierte EU-Binnenmarktzutritt. Daher solle der Dialog mit der EU in verschiedenen Dossiers, jedoch insbesondere in Steuerfragen, aktiv geführt werden. Der Bundesrat anerkannte, dass für eine erfolgreiche Verhandlungsführung der Schweiz eine bessere Abstimmung zwischen Bund und Kantonen sowie zwischen Regierung und Parlament nötig sei. Der Nationalrat hatte den Bericht bereits im Dezember des Vorjahres nach ausführlicher Debatte zur Kenntnis genommen. In der kleinen Kammer wurde die Diskussion der europapolitischen Evaluation mit der Debatte anderer aussenpolitischer Berichte und der Ereignisse rund um die politischen Unruhen in arabischen Ländern verknüpft. Der Bericht zur Europapolitik wurde wenig umstritten angenommen, da die Mehrheit des Ständerates dem bilateralen Weg grundsätzlich zustimmte [35].
Im Rahmen der nationalrätlichen Sondersession zur Europapolitik und zu den Bilateralen III im Juni nahm die grosse Kammer eine Motion Bänziger (gp, ZH) an, durch welche der Bundesrat aufgefordert wurde, dem Parlament jährlich eine Analyse zur Kooperation des Gemischten Ausschusses vorzulegen. In diesem koordinierenden Gremium berät die Schweiz mit der EU über die Funktionsweise der bilateralen Verträge. Die Motion erhielt 124 Stimmen aus allen Lagern, obwohl sich Teile der FDP- und CVP-Fraktion dagegen aussprachen. Bei der Beratung im Ständerat empfahl die zuständige Aussenpolitische Kommission die Motion jedoch zur Ablehnung, da der bestehende Informationsfluss über die Arbeit des Ausschusses genüge. Die kleine Kammer folgte dieser Argumentation und lehnte die Motion ab [36].
Die Kantone forderten im Rahmen der Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) im Juli mehr Mitsprache an Entscheidungsfindungsprozessen in der Europapolitik. Ansonsten drohe dem Bund eine Blockade des bilateralen Weges durch die Kantone. Die Kantonsvertreter präsentieren via Medien einen Forderungskatalog, welcher unter anderem den Einbezug ihrer Vertreter ab dem Beginn neuer Verhandlungen beinhaltete [37].
Der Gemischte Ausschuss der Schweiz und der EU traf sich im Dezember in Brüssel, um die Funktionsweise des Freihandelsabkommens zwischen den beiden Parteien zu evaluieren. Beide Seiten anerkannten die Bedeutung des Abkommens; so entsprach das Handelsvolumen 2010 rund CHF 260 Mia. Während die EU für die Schweiz der wichtigste Exportmarkt darstellt, ist die Schweiz für den EU-Wirtschaftsraum immerhin der zweitwichtigste Handelspartner. Das Gremium stellte der Funktionsweise des Abkommens von 1972 ein gutes Zeugnis aus und erachtete in seiner Erklärung das Vertragswerk als essentiell in der bilateralen Handelsbeziehungen. Aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen standen ebenfalls auf der Agenda des Treffens, so die Frankenstärke, die Schuldenkrise im Euroraum und diverse Probleme im gegenseitigen Marktzugang. Vonseiten der EU wurde zudem Kritik an den kantonalen Unternehmenssteuerpraxen geäussert. Die Schweizer Delegation vertrat dabei die Meinung, dass diese mit dem Vertragswerk vereinbar seien [38].
top
 
print
Personenfreizügigkeit
Der Bundesrat entschied Anfang Mai, den Zugang von bulgarischen und rumänischen Staatsangehörigen zum Schweizer Arbeitsmarkt weiterhin zu begrenzen. Somit bleiben die beschränkenden Richtlinien wie der Inländervorrang, die Kontingente für Aufenthaltsbewilligungen sowie die Kontrolle der Löhne und Arbeitsbedingungen bis Ende Mai 2014 in Kraft [39].
Seit dem 1. Mai 2011 gilt die vollständige Personenfreizügigkeit für die Bürger der EU-8-Staaten (Polen, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Ungarn sowie Estland, Lettland und Litauen). Damit können sich Arbeitnehmer aus diesen Ländern ohne Beschränkungen in der Schweiz niederlassen. Die Schutzklausel, welche bis Ende Mai 2014 gilt, erlaubt es dem Bundesrat aber weiterhin, im Falle einer übermässigen Zuwanderung aus diesen Staaten erneut Niederlassungsbeschränkungen einzuführen [40].
Eine vom SECO bestellte Evaluation der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit durch das zuständige Observatorium, welcher ebenfalls im Mai publiziert wurde, zeigte das beträchtliche Ausmass an Lohndumping in der Schweiz auf. Vor allem im Bau- und Reinigungsgewerbe wurden die in den Gesamtarbeitsverträgen festgesetzten Löhne in beinahe 40 Prozent der kontrollierten Fälle von EU-Firmen unterschritten. Sowohl Gewerkschaften als auch Parteien forderten daraufhin klare Massnahmen, um diese Entwicklung zu bekämpfen. Dennoch zog das SECO eine insgesamt positive Bilanz der Funktionsweise der Verträge über die Personenfreizügigkeit für die Schweiz [41].
Die SVP teilte im Mai mit, sie wolle eine Initiative zur Begrenzung der Zuwanderung lancieren, welche möglicherweise eine Neuverhandlung der Personenfreizügigkeit mit der EU mit sich bringen könnte. Die Partei begründete ihr Vorhaben mit der mangelnden Steuerung der Zuwanderung durch die Schweiz und der verlorenen Souveränität in diesem Bereich. Der Entscheid der Parteileitung wurde an der Delegiertenversammlung Ende Mai einstimmig angenommen. Die Initiative „gegen Masseneinwanderung“ wurde daraufhin offiziell Ende Juli lanciert und diente der Volkspartei als wichtiges Mittel im Wahlkampf [42].
In der Herbstsession überwies der Nationalrat ein Postulat der CVP/EVP/glp-Fraktion zur Arbeitslosigkeit und zur Erneuerung der Aufenthaltsbewilligungen von EU-/EFTA-Bürgern. Der Vorstoss wurde mit der liberalen Vergabe respektive Verlängerung von Aufenthaltsbewilligungen an arbeitslose, europäische Bürger begründet. Insbesondere wurde bemängelt, dass für eine solche Verlängerung lediglich eine Arbeitsbestätigung vorgelegt werden muss. Die Verfasser des Postulats forderten die Vorlage eines Arbeitsvertrags zur Erteilung der Bewilligung. Zudem sollte die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch zwischen dem Migrationsamt und den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) verbessert werden. Der Bundesrat wurde durch das Postulat zudem aufgerufen, Stellung zu einer potenziellen Einschränkung des Familiennachzugs für EU-/EFTA-Bürger zu beziehen, welche ohne Arbeit sind oder nur über eine Teilzeitanstellung verfügen. Ebenfalls sollte sich die Landesregierung zur Möglichkeit des Entzugs der Aufenthaltsbewilligung dieser Bürger nach zweijähriger Arbeitslosigkeit äussern. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung des Postulats. Bei der Debatte im Nationalrat setze sich jedoch eine knappe Mehrheit aus Mitte-Rechts mit 94 zu 86 Stimmen durch und überwies das Postulat an die Landesregierung [43].
Der Ständerat diskutierte im Dezember eine Motion seiner Kommission für Wirtschaft und Abgaben, welche den Bundesrat auffordert, die Ausarbeitung des Massnahmenpakets über die Modifikation der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit zu beschleunigen. Damit sollen diese Anpassungen möglichst rasch angewandt werden können. Der Ständerat gab dieser Motion seine Zustimmung und überwies sie, auch auf Empfehlung des Bundesrates, zur Behandlung an die grosse Kammer, wo sie am Ende des Berichtsjahres noch pendent war [44].
top
 
print
Schengen/Dublin
Ein Postulat Fehr (svp, ZH), welches den Bundesrat verpflichtete, einen Bericht zur Rechtsübernahme aus dem Abkommen seit dem Schengen-Beitritt vorzulegen, wurde vom Nationalrat mit einer knappen Mehrheit von 86 zu 82 Stimmen überwiesen. Detailliert dargelegt werden sollen darin die Anpassungen der Schweizer Gesetze und Verordnungen an den Schengen-Acquis sowie die Kosten dieser Übernahme. Zusätzlich soll der Bericht die Folgen der Übernahme des Schengener Abkommens für die direkte Demokratie und den Schweizer Föderalismus beleuchten. Dem Postulat stimmten Parlamentarier aus sämtlichen Fraktionen zu [45].
Der Nationalrat lehnte eine Motion Geri Müller (gp, AG) ab, welche den Ausstieg der Schweiz aus der europäischen Agentur Frontex forderte. Nach Ansicht des Motionärs gefährdet die Arbeit der Agentur zum Schutz der europäischen Aussengrenzen das Wohl der Flüchtlinge. Sein Anliegen erhielt in der grossen Kammer Unterstützung von der gesamten SVP-Fraktion sowie der Mehrheit der Grünen Fraktion. Aufgrund der Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat wurde die Motion jedoch mit 118 zu 66 Stimmen abgelehnt [46].
Aufgrund der durch die Demokratiebestrebungen in Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens entstandenen Flüchtlingsströme beteiligte sich die Schweiz erstmals an Vorhaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex mit personellen Ressourcen im Umfang von drei Spezialisten [47].
Laut Presseberichten kostet die Teilnahme der Schweiz am Schengen/Dublin-Vertragswerk wesentlich mehr als vor der Volksabstimmung 2005 durch den Bund vorhergesagt wurde. Anstatt der prognostizierten CHF 7.4 Mio. belaufen sich die tatsächlichen Kosten auf CHF 43 Mio. jährlich. Im Namen des Bundesrates verteidigte Justizministerin Sommaruga in einer Stellungnahme aber die Gesamtbilanz des Abkommens für die Schweiz und hob positive Aspekte wie die zusätzliche Sicherheit und die Reisefreiheit für Schweizer Bürger hervor [48].
Im Rahmen der ausserordentlichen Session zur Europapolitik und den Bilateralen III stand im Nationalrat im Juni eine Motion der SVP zur Diskussion, mit welcher der Bundesrat zu einer ausführlichen Analyse der Folgen des Schengen/Dublin-Beitritts für die Schweiz verpflichtet werden sollte. Darin hätten insbesondere die Konsequenzen in den Bereichen Finanzen und Personal dargelegt werden müssen. Bis zur Vorlage dieser Studie durch den Bundesrat sollte nach Ansicht der SVP-Nationalräte ein Moratorium für Weiterentwicklungen im Schengener Vertragsbereich gelten. Der Vorstoss wurde mit 95 zu 86 Stimmen knapp abgelehnt. Die unterlegenen Befürworter setzten sich sowohl aus SVP- und Mitte-Parlamentariern als auch aus der Mehrheit der Grünen Fraktion zusammen [49].
Ebenfalls keine Mehrheit fand eine andere Motion der SVP-Fraktion, welche von der Landesregierung eine rechtliche Anpassung im Bereich der Visumserteilung forderte, um die staatliche Souveränität wieder herzustellen. Bei Bedarf sollte nach Ansicht der Schweizer Volkspartei auch das Schengener Abkommen gekündigt werden. Der Partei gelang es aber nicht, über die Parteigrenze hinaus Parlamentarier für ihr Anliegen zu gewinnen, weshalb die Motion verworfen wurde [50].
In der Herbstsession debattierte die grosse Kammer über eine Motion Philipp Müller (fdp, AG) zur Schaffung einer gesetzlichen Grundlage, mit der Asylsuchende mit einem Vermerk im Eurodac-System direkt ab dem Empfangszentrum in den für die Durchführung des Asylgesuches zuständigen Dublin-Staat zurückgeführt werden können. Damit soll verhindert werden, dass die betreffenden Personen auf die Kantone verteilt werden, obwohl vonseiten der Schweiz keine Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens besteht. In seiner Stellungnahme wies der Bundesrat darauf hin, dass die Kapazitäten in den vom Bund geführten Empfangs- und Verfahrenszentren dafür stark erhöht werden müssten, was die davon betroffenen Kantone so kaum hinnehmen würden. Trotz dieser Einwände wurde die Motion mit 120 zu 62 Stimmen an den Zweitrat überwiesen. Zustimmung erhielt der Motionär ausschliesslich aus dem bürgerlichen Lager, während die SP und die Grünen geschlossen dagegen votierten [51].
Trotz der Empfehlung durch den Bundesrat wurde ein Postulat Humbel (cvp, AG) abgelehnt, dass die Regierung aufforderte, einen Bericht zur Stärkung des Schengen/Dublin-Systems vorzulegen. . Aufgrund der Mehrbelastung durch die verstärkten Migrationsbewegungen aus Nordafrika und dem Nahen Osten sollte der Bericht verschiedene Verbesserungsmöglichkeiten und das Potenzial einer Effizienzsteigerung bei der Umsetzung der Abkommen des Schengen/Dublin-Systems aufzeigen. Erfolgreich bekämpft wurde das Postulat sowohl von linker als auch von rechter Seite [52].
 
[14] LT, 11.1.11; SN, 20.4.11.
[15] BRG 09.096: AB NR, 2011, S. 263 ff und 556; AB SR, 2011, S. 339; BBl, 2011, S. 2763 ff.; vgl. SPJ 2010, S. 76.
[16] NZZ, 18.3.11; TA, 7.12.11.
[17] Mo. 10.3231: AB NR, 2011, S. 28 ff.; AB SR, 2011, S. 818.
[18] Po. 08.3141: AB SR, 2011, S. 57 ff.
[19] Medienmitteilungen UVEK vom 22.6. und 25.11.11; SGT, 1.4.11.
[20] Presse vom 10.6.11.
[21] Mo. 09.3811: AB NR, 2011, S. 1039.
[22] Mo. 09.4092: AB NR, 2011, S. 1040.
[23] Mo. 10.3150: AB NR, 2011, S. 1041.
[24] Mo. 10.3190: AB NR, 2011, S. 1041; vgl. SPJ 2010, S. 87.
[25] Mo. 10.3959: AB NR, 2011, S. 1044.
[26] Mo. 10.3960: AB NR, 2011, S. 1044; BZ, 7.6.11.
[27] Mo. 10.4068: AB NR, 2011, S. 1045.
[28] NLZ, 15.6.11.
[29] Medienmitteilung EDA vom 6.7.11; NZZ, 7.7.11.
[30] NZZ, 16.9.11.
[31] Mo. 10.3195: AB NR, 2011, S. 1020 ff. und 1041.
[32] LT und AZ, 25.1.11.
[33] Medienmitteilung EDA vom 26.1.11; NZZ, 27.1.11; Presse vom 5.2.11.
[34] BaZ, 9.2.11 (Zitat); Presse vom 8.2. und 9.2.11; SoZ, 27.2.11; Presse vom 11.7.11; AZ, 12.7.11; NZZ, 10.11.11.
[35] Po. 09.3560, BRG 10.086: AB SR, 2011, S. 57 ff.; BBl, 2010, S. 7239 ff.; vgl. SPJ 2010, S. 77.
[36] Mo. 10.3863: AB NR, 2011, S. 1044; AB SR, 2011, S. 820 ff.
[37] NLZ, 6.7.11.
[38] Medienmitteilung EDA vom 7.12.11.
[39] Medienmitteilung EDA vom 4.5.11; Presse vom 5.5.11.
[40] Presse vom 30.4.11.
[41] Presse vom 4.5., 21.5. und 27.5.11.
[42] Presse vom 24.5.11; BZ, 30.5. und 26.7.11; vgl. auch oben, Teil I, Kapitel 1e (Wahlen).
[43] Po. 10.3064: AB NR, 2011, S. 1724.
[44] Mo. 11.4048: AB SR, 2011, S. 1070 ff.
[45] Po. 10.3857: AB NR, 2011, S. 1043.
[46] Mo. 11.3033: AB NR, 2011, S. 1046; AZ, 5.3.11.
[47] BZ, 21.2.11.
[48] NZZ, 7.5.11; BZ, 21.5.11.
[49] Mo. 10.3557: AB NR, 2011, S. 1042.
[50] Mo. 11.3005: AB NR, 2011, S. 1046.
[51] Mo. 10.3174: AB NR, 2011, S. 1726; vgl. dazu ausführlich Teil I, Kapitel 7d (Flüchtlingspolitik).
[52] Po. 11.3220: AB NR, 2011, S. 1734.