Année politique Suisse 2011 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
Ausländerpolitik
Das Parlament beschloss, auf den durch die 2010 erfolgte Annahme der
Volksinitiative „Für die Ausschaffung krimineller Ausländer“ hinfällig gewordenen indirekten Gegenvorschlag nicht einzutreten. Der von einer Arbeitsgruppe unter der Leitung des ehemaligen Direktors des Bundesamtes für Justiz, Heinrich Koller, verfasste Schlussbericht zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative wurde dem Bundesrat im Juni mit vier Varianten präsentiert. In der Arbeitsgruppe zeigten sich fundamentale inhaltliche Differenzen zwischen der SVP, welche auf einer wortwörtlichen Umsetzung der Initiative beharrte, und den Vertretern von Bund und Kantonen. Die Konflikte bezogen sich in erster Linie auf die Frage nach der Gewichtung des Völkerrechts gegenüber dem durch die Annahme der Initiative ausgedrückten Volkswillen. Die erste, von der SVP favorisierte Variante beinhaltet einen automatischen Landesverweis für Ausländer nach einer Verurteilung aufgrund eines im Verfassungstext genannten Delikts. Die weiteren drei Varianten sehen – je nach Strafmass und Delikt – verschiedene Ausnahmen von einer Ausschaffung vor, was dem vom Volk in der Abstimmung abgelehnten Gegenentwurf inhaltlich näher kommt. Die SVP befürchtete – noch bevor überhaupt ein Entscheid des Bundesrats anstand – dass die Ausschaffungsinitiative durch Bund und Parlament verwässert werden könnte. Sie kündigte deshalb an, mit einer neuen Volksinitiative den Wunschtext in der Verfassung verankern zu wollen. Im September nahm der Bundesrat den Bericht der Arbeitsgruppe zur Kenntnis. Die Varianten zur Umsetzung dieses Verfassungstextes sollen bis Mitte 2012 in die Vernehmlassung gegeben werden
[1].
In der Frühjahrssession verlängerte der Nationalrat die Frist für die Behandlung zweier
parlamentarischer Initiativen Müller (fdp, AG) um je zwei Jahre. Das erste Begehren will Ausländern, die Ergänzungsleistungen beziehen zukünftig keinen Familiennachzug mehr gewähren. Die zweite Initiative fordert ebenfalls eine Änderung im Ausländergesetz (AuG). Diese soll es möglich machen, Ausländern bei erheblicher und langfristiger Sozialhilfeabhängigkeit die Niederlassungsbewilligung auch nach über fünfzehn Jahren Aufenthalt in der Schweiz zu entziehen
[2].
Im Rahmen der Sondersession des Nationalrates im April wurde eine Motion Brändli (svp, GR) diskutiert, mit welcher Mittel zur Eindämmung der
grossen Zuwanderung der letzten Jahre und Möglichkeiten zur Stabilisierung derselben auf geringerem Niveau aufgezeigt werden sollen. Der Motionär begründete sein Begehren mit Belastungen, welche die Zuwanderung verursachten; so strapaziere diese die Sozialwerke, die Infrastruktur und das Bildungswesen und fördere die Zersiedlung. Im Ständerat wurde die Motion im Dezember 2010 mit einer Stimme Differenz knapp angenommen. Im Nationalrat standen sich bei der Behandlung zwei Anträge gegenüber: Der Mehrheitsantrag der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats (SPK-NR) warb für die Annahme der Motion, während eine Minderheit Tschümperlin (sp, SZ) deren Ablehnung forderte. Die zuständige Bundesrätin Sommaruga empfahl ebenfalls die Ablehnung der Motion, da die bestehenden Instrumente zur Eindämmung der Zuwanderung, wie beispielsweise die flankierenden Massnahmen oder die Ventilklausel, bei einer effektiveren Nutzung ausreichend seien. Der Bundesrat habe erkannt, dass dieser Spielraum besser ausgenutzt werden müsse und in Erfüllung diverser anderer Vorstösse würden gegenwärtig Berichte erstellt, welche Massnahmen zur Effektivitätssteigerung darlegen sollen. Die Bundesrätin fand in der grossen Kammer aber kein Gehör und die Motion wurde mit einer rechtsbürgerlichen Mehrheit von 96 zu 59 Stimmen überwiesen
[3].
Die Schweizer Demokraten lancierten im Sommer eine eidgenössische Volksinitiative
„Für eine Stabilisierung der Gesamtbevölkerung“. Sie fordert eine Anpassung der Bundesverfassung mit der expliziten Verankerung der Regulierungsfunktion des Bundes zur Bekämpfung der Überbevölkerung. Das Ziel des Begehrens ist unter anderem die Vermeidung eines positiven Wanderungssaldos, wobei die Auslandschweizer ausgenommen seien
[4].
Zahlreiche Vorstösse wurden im Herbst im Rahmen der ausserordentlichen Session des Nationalrates zur Zuwanderung und dem Asylwesen behandelt, welche in den einzelnen Unterkapiteln, respektive in der Flüchtlingspolitik, unten dargestellt sind, sofern sie nicht die Ausländerpolitik im Allgemeinen betreffen.
Ein Postulat, welches vom Nationalrat im Rahmen dieser ausserordentlichen Session überwiesen wurde, sprach die Migrationsaussenpolitik an. Konkret forderte Pfister (cvp, ZG) einen Bericht vom Bundesrat, der darlegen soll, wie die im Ausländergesetz enthaltenen
Migrationspartnerschaften spezifischer auf die Berufsbildung ausgelegt werden könnten. So sollten Berufsbildungsprojekte mit Partnern vor Ort gefördert und die Zusammenarbeit durch Stagiaire-Abkommen zwischen der Schweiz und den ausgewählten Ländern abgeschlossen werden, um die Ausbildung der Arbeitskräfte in gewissen Sektoren weiter zu fördern. Der Bundesrat beantragte die Ablehnung des Postulates mit der Begründung, dass die zuständigen Amtsstellen in diesem Bereich bereits aktiv seien und kein weiterer Bericht dazu nötig sei. Im Nationalrat wurde dieses Begehren hingegen als notwendig angesehen und mit aussergewöhnlicher Einigkeit von 181 zu 4 Stimmen überwiesen
[5].
Eine unabhängige
Studie zur Zuwanderung forderte ein durch den Nationalrat angenommenes Postulat Girod (gp, ZH). Diese soll darlegen, welchen Spielraum die Schweiz bei der Steuerung der Zuwanderung hat, ohne dabei vertragliche Bestimmungen des Völkerrechts oder humanitäre Verpflichtungen zu verletzen
[6].
Im Rahmen der ausserordentlichen Session überwies die grosse Kammer zudem mit einer Mitte-Rechts-Mehrheit die Motion Wehrli (cvp, SZ) für eine
Gesetzesrevision im Bereich der Sozialversicherungen. Diese soll den Behörden zukünftig vollständigen Zugriff auf das Personenregister erlauben, womit sich auch überprüfen liesse, ob sich eine bei den Sozialversicherungen angemeldete Person legal in der Schweiz aufhält. Die Motion wird detailliert in Teil I, Kapitel 7c (Questions fondamentales) besprochen
[7].
Die Botschaft des Bundesrats zur
Totalrevision des Bundesgesetzes über das Schweizer Bürgerrecht wurde im Berichtsjahr vom Parlament behandelt. Ebenfalls hat der Nationalrat in diesem Themenbereich eine Motion der CVP/EVP/glp-Fraktion mit der Forderung nach einer
Einbürgerungscharta angenommen, die für Einbürgerungswillige die Unterzeichnung eines Grundsatzdokuments verlangt, in welchem sie sich zu fundamentalen Werten unseres Rechtsstaats bekennen. Vergleiche zu beiden Geschäften die Ausführungen in Teil I, Kapitel 1b (Bürgerrecht)
[8].
Der Bundesrat ernannte Nationalrätin Martine Brunschwig Graf (fdp, GE) zur neuen
Präsidentin der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Sie löst per Anfang 2012 Georg Kreis ab, welcher die Kommission während sechzehn Jahren präsidierte
[9].
Per Ende 2011 betrug die Zahl der in der Schweiz wohnhaften Ausländer rund
1.82 Mio., was einem Anteil von 22.8 Prozent der Gesamtbevölkerung entsprach. Gegenüber dem Vorjahr wuchs die Anzahl ausländischer Staatsangehöriger um 48 500. Wie bereits in den Vorjahren stammte mit über 1.1 Mio. der grösste Teil der Ausländer aus dem EU/EFTA-Raum und fiel damit unter das Personenfreizügigkeitsabkommen. Bezüglich der Herkunft der Zuwanderer stellten deutsche, portugiesische und kosovarische Staatsangehörige die grössten Anteile, die Einwanderung aus den Balkanstaaten Serbien, Bosnien-Herzegowina und Kroatien ist hingegen stark zurückgegangen
[10].
Im Rahmen der ausserordentlichen Session zu Migration überwies der Nationalrat ein Postulat der CVP/EVP/glp-Fraktion betreffend der
Erneuerung von Aufenthaltsbewilligungen von EU/EFTA-Bürgern im Falle von Arbeitslosigkeit. In einem Bericht soll die Landesregierung darlegen, wie die nach Ansicht der Verfasser der Motion zu liberale Vergabe von Aufenthaltsbewilligungen eingeschränkt werden könnte. Die Verfasser des Postulats störten sich insbesondere daran, dass auch Ausländer, welchen die Arbeitslosigkeit droht, die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung relativ einfach erhalten
[11].
Die Ende des Vorjahres eingereichte Motion Tschümperlin (sp, SZ) mit der Forderung nach
Berücksichtigung der Integration von Kindern bei Härtefallprüfungen kam im Juni in der grossen Kammer zur Erstbehandlung. Der Motionär begründete sein Anliegen damit, dass die Situation von Kindern bei Härtefällen nicht beachtet würde und der Entscheid von den Behörden oftmals ausschliesslich aufgrund der Integration der Eltern gefällt werde. Störend und nach Ansicht des Motionärs gegen das durch die UNO-Kinderrechtskonvention geschützte Kinderwohl verstossend sei dies besonders in Fällen, wo Kinder und Jugendliche seit Jahren in der Schweiz sind, hier die Schulen absolviert haben und über einen hohen Integrationsgrad verfügen. Im Nationalrat stimmte die SVP geschlossen gegen das Anliegen. Zusammen mit marginaler Unterstützung von FDP- und CVP-Parlamentariern kam die Opposition aber nur auf 63 Stimmen und die Motion wurde mit 113 Stimmen an den Ständerat überwiesen, wo sie im Herbst zur Diskussion stand. Die vorberatende Staatspolitische Kommission empfahl den Ständevertretern mit 8 zu 1 Stimme, die Motion anzunehmen. Kommissionssprecher Schwaller (cvp, FR) unterstrich die Notwendigkeit des Begehrens damit, dass – obwohl das Bundesamt für Migration den Kantonen bereits empfehle, die Kindesintegration bei Härtefällen ebenfalls zu berücksichtigen – dies noch nicht schweizweite Praxis sei. Der Ständerat folgte seiner Kommission und überwies die Motion an den Bundesrat
[12].
Die SVP lancierte im Juli im Rahmen ihres Wahlkampfs für die eidgenössischen Wahlen vom Herbst des Berichtsjahres eine
Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“. Sie möchte die Artikel 121 und 197 der Bundesverfassung dahingehend abändern, dass die Schweiz die Zuwanderung unabhängig von internationalen Verträgen durch Kontingente regeln kann. Eine Annahme dieser Initiative würde aller Voraussicht nach die bilateralen Verträge mit der EU über die Personenfreizügigkeit gefährden
[13].
In der Herbstsession nahm der Nationalrat, trotz gegenteiliger Empfehlung des Bundesrates, ein Postulat Aubert (sp, VD) mit parteiübergreifender Zustimmung von 179 zu 6 Stimmen an. Das Begehren verlangt vom Bundesrat eine
Prospektivstudie zum detaillierten Fachkräftebedarf in einzelnen Berufsfeldern. Diese soll der Weiterentwicklung der Zulassungs-, Bildungs- und Arbeitspolitik dienen. Siehe dazu auch die Erläuterungen in Teil I, Kapitel 7a (Marché de l’emploi)
[14].
Für Staatsbürger der EU-8 gilt seit Mai des Berichtsjahres die vollständige Personenfreizügigkeit. Ausführlich berichten wir darüber im Teil I, Kapitel 2 (Personenfreizügigkeit).
In der Frühjahrssession wurde die Motion der Staatspolitischen Kommission des Nationalrates für die Ausarbeitung eines
Integrationsrahmengesetzes vom Ständerat beraten. Da die Integration von Ausländern eine Querschnittsaufgabe darstellt, legte der Bundesrat in seinem Bericht dar, dass nicht nur das Ausländergesetz, sondern 16 weitere, sehr diverse Gesetzestexte – vom Jugend- und Kulturförderungsgesetz bis hin zum Raumplanungsgesetz – einer Ergänzung bedürften. Trotz Widerstand seitens der SVP wurde der Vorstoss Ende des Vorjahres vom Nationalrat gutgeheissen. Bei den Beratungen im Ständerat gab es zwei Anträge. Die ständerätliche Sicherheitspolitische Kommission (SPK-SR) forderte eine Anpassung des Motionstextes, so dass die Integration auch im Ausländergesetz festgeschrieben werden könnte. Wie Kommissionssprecher Büttiker (fdp, SO) betonte, berücksichtige dieser Vorschlag die Bedenken der Kantone, die eine Beschränkung ihrer Kompetenzen im Integrationsbereich befürchteten. Der zweite Antrag im Ständerat stammte von der Minderheit Reimann (svp, AG) und forderte die Ablehnung der Motion. Nach Ansicht dieser Minderheit habe das Volk seinen Willen klar kundgetan, indem es den Gegenentwurf zur Ausschaffungsinitiative verworfen hatte, der verschiedene Integrationsmassnahmen vorgesehen hätte. Bei der eingehenden Diskussion in der kleinen Kammer erhielt der Entwurf der SPK-SR sowohl von Bundesrätin Sommaruga als auch von links-liberalen Rednern Zustimmung. Ständeräte, welche den Minderheitsantrag begrüssten, taten dies im Namen der Kantone, welche sich, wie durch die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) kommuniziert, gegen neue Bundeskompetenzen im Integrationsbereich wehrten. Deren ablehnende Haltung gegenüber dem Gesetzesvorschlag sei zu respektieren und zudem seien sie bereits heute im Bereich der Integration sehr aktiv. Dennoch wurde der abgeänderte Motionstext mit 22 zu 12 Stimmen angenommen. Ende des Berichtsjahres fand im Nationalrat die Differenzenbereinigung statt. Die Mehrheit forderte die Zustimmung zum abgeänderten Entwurf des Ständerates, während die Minderheit Fehr (svp, ZH) die Ablehnung befürwortete, da die Bemühungen der Schweiz im Bereich der Integrationsförderung bereits ausreichend seien und die Hauptverantwortung zur Integration bei den Ausländern selbst liege. Dieser Minderheitsantrag erhielt jedoch nur 42 Stimmen, praktisch ausschliesslich aus der SVP-Fraktion, und wurde zugunsten des Antrags der Mehrheit, welcher 108 Stimmen erhielt, verworfen. Damit wurde die abgeänderte Motion an den Bundesrat überwiesen. Gleichzeitig wurde im Nationalrat eine parlamentarische Initiative der FDP-Fraktion mit ähnlichem Wortlaut zurückgezogen
[15].
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) eröffnete gegen Jahresende das Vernehmlassungsverfahren für die Teilrevision des Ausländergesetzes (AuG). Laut EJPD seien die Bestimmungen dieses Gesetzes an den
Integrationsplan des Bundes anzupassen, welcher eine verbindlichere Integration nach dem Grundsatz „Fördern und Fordern“ festschreiben möchte
[16].
[1] BRG 09.060:
AB SR, 2011, S. 189 f.;
AB NR, 2011, S. 833;
AZ, 29.6.11;
NZZ, 9.7. und 24.9.11; vgl.
SPJ 2010, S. 257 f.
[2] Pa.Iv. 08.428:
AB NR, 2011, S. 527. und Pa.Iv. 08.450:
AB NR, 2011, S. 527 f.
[3] Mo. 10.3721:
AB NR, 2011, S. 702 ff.
[4]
BBl, 2011, S. 6273 ff.
[5] Po. 11.3699:
AB NR, 2011, S. 1737.
[6] Po. 11.3710:
AB NR, 2011, S. 1737.
[7] Mo. 10.3206:
AB NR, 2011, S. 1726.
[8] BRG 11.022:
BBl, 2011, S. 2825 ff.; Mo 10.3067:
AB NR, 2011, S. 1725.
[10] Medienmitteilungen BFM vom 20.2. und BFS vom 26.4.12.
[11] Po. 10.3064:
AB NR, 2011, S. 1724; Detailliert wird die Vorlage in Teil I, Kapitel 2 (Personenfreizügigkeit) beschrieben.
[12] Mo. 10.4043:
AB NR, 2011 S. 1262;
AB SR, 2011, S. 719 f.
[13]
BBl, 2011, S. 6269 ff.
[14] Po. 11.3044:
AB NR, 2011, S. 1733.
[15] Mo. 10.3343, Pa.Iv. 09.505:
AB SR, 2011, S. 190 ff.;
AB NR, 2011, S. 2096 f.
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