Année politique Suisse 1977 : Chronique générale / Politique étrangère suisse
Europa
Die
Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hatte 1975 in ihrem Schlussdokument vereinbart, 1977 in Belgrad eine erste Folgekonferenz abzuhalten, um den eingeleiteten multilateralen Prozess fortzusetzen und einen vertieften Meinungsaustausch über die Durchführung der Bestimmungen zu pflegen. Obwohl zwar die Resultate des in Helsinki begonnenen Dialogs zwischen West- und Osteuropa vor allem in bezug auf die Entspannung bescheiden blieben und auch die Erleichterungen im zwischenmenschlichen Bereich sowie im Informationsaustausch zu wünschen übrigliessen, zeitigten die Schlussakte ein politisches Potential ganz anderer Art und Richtung, als von abendländischen Skeptikern ursprünglich befürchtet worden war. Nicht der Westen sah sich einem politischen Druckmittel ausgeliefert, sondern verschiedene Oststaaten bekamen unversehens Rückwirkungen zu spüren; da die KSZE oppositionelle Bürgerrechtsbewegungen vor allem in der Tschechoslowakei und in der Sowjetunion ermutigt und gefördert hat
[34]. Diese veränderte Konstellation rief nun gerade auch die ehemaligen Skeptiker wieder auf den Plan, die verlangten, die Schweiz solle die sozialistischen Staaten an die in Helsinki getroffenen Abmachungen über die Menschenrechte und Grundfreiheiten gemahnen und die Kampagne des amerikanischen Präsidenten zugunsten der osteuropäischen Dissidenz aktiv unterstützen
[35]. In diesem Zusammenhang spielte ebenfalls die unerlaubte Nachrichtentätigkeit osteuropäischer Diplomaten auf Schweizer Boden eine gewichtige Rolle, da auch sie den Intentionen der KSZE zuwiderlief
[36]. Der Bundesrat wurde aufgefordert, dieses Problem in Belgrad zur Sprache zu bringen und wirksame Massnahmen gegen die Spionage zu ergreifen
[37]. Er verwahrte sich gegen die sowjetische Behauptung, der Jeanmaire-Prozess sei ein Manöver entspannungsfeindlicher Kräfte, gab aber zu bedenken, dass der Ost-West-Dialog nicht durch ein allzu forsches Auftreten in Belgrad gefährdet werden dürfe. Eine Motion Fischer (rep., AG), die eine schweizerische Teilnahme an der Folgekonferenz überhaupt unterbinden wollte, wurde im Nationalrat mit grossem Mehr abgelehnt
[38].
Sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der Durchführung der Belgrader Konferenz, die sich in zähflüssigen Verhandlungen bis ins Jahr 1978 hineinzog, bewährte sich erneut die intensive Zusammenarbeit der neutralen und der nichtverpflichteten Staaten, denen eine zentrale Rolle als Vermittler zwischen den Blöcken zukam. Die Schweiz tat sich insbesondere mit ihren Vorschlägen für eine Konvention zur Regelung der Arbeitsbedingungen ausländischer Journalisten und für ein System der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten hervor, das anlässlich eines speziellen Expertentreffens weiter diskutiert werden soll
[39].
Zwischen den Europäischen Gemeinschaften (EG) und den Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) sind nun'auch die letzten Zollhürden für praktisch alle industriellen und gewerblichen Güter gefallen. Damit ist die
Integration Westeuropas, über deren wirtschaftliche Aspekte wir an anderer Stelle ausführlicher berichten, ihrem Ziel mindestens einen Schritt nähergerückt
[40]. Trotz dieses Erfolgs machten sich gleichzeitig auch Ratlosigkeit und Kleinmut bezüglich der Zukunft Europas breit, was zu einem guten Teil mit den dauernden Krisen innerhalb der EG und mit den für viele Beobachter bedrohlichen Erfolgschancen des Eurokommunismus zusammenhing
[41]. Während gewisse Kreise angesichts solcher Unsicherheit einem helvetischen Nationalismus das Wort redeten und sich gar zur Empfehlung verstiegen, die Schweiz solle auf jegliche Europapolitik verzichten, betonte Bundesrat Graber das direkte Interesse unseres Landes an einem rechtsstaatlichen und sozialen Europa, das sich an den Menschenrechten orientiere. Das politische Handeln der Schweiz sei als Teilnahme an einer künftigen europäischen Innenpolitik zu verstehen, wenn wir auch aus neutralitätspolitischen Gründen keine Souveränitätsrechte an supranationale Behörden abtreten könnten
[42].
Um gleichwohl der zunehmenden Interdependenz Rechnung zu tragen, beteiligt sich die Schweiz im Rahmen des Europarates an einer internationalen Zusammenarbeit, welche die notwendige Vereinheitlichung verschiedener Rechtsmaterien nicht durch Mehrheitsbeschluss, sondern über den freien Beitritt souveräner Staaten zu multilateralen Verträgen zustande bringen will
[43]. Doch auch die Anwendung solcher völkerrechtlichen Verträge kann die bisherige Praxis innerstaatlicher Rechtssprechung tangieren, wie das vieldiskutierte Beispiel der Europäischen Menschenrechtskonvention bewies. Insbesondere die. Gegner der Europäischen Sozialcharta warnten deshalb vor fremden Richtern, .unter deren politischen Pressionen das innere Gefüge der Schweiz Schaden leiden könnte. Strassburg sei nicht Habsburg, machten demgegenüber gesellschaftspolitisch eher fortschrittliche Kreise geltend, und unserem Land stünde es wohl an, nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in sozialer Hinsicht mit der europäischen Entwicklung schrittzuhalten. Der Bundesrat sah sich aufgrund dieser Kontroverse veranlasst, die von ihm 1976 mit Vorbehalten unterzeichnete Sozialcharta noch nicht in die parlamentarische Beratung zu schicken, sondern vorerst einmal ein Vernehmlassungsverfahren einzuleiten
[44]. Demgegenüber rief die Unterzeichnung der Europäischen Konvention zur Bekämpfung des Terrorismus infolge der sich häufenden Gewaltakte nur spärlicher Kritik; das übereinkommen, zu dessen Formulierung die Schweiz massgeblich beigetragen hatte, verpflichtet die Signatarstaaten zur Auslieferung von Terroristen, Flugzeugentführern und Geiselnehmern, auch wenn diese politische Motive geltend machen
[45].
Entsprechend einem vom Nationalrat überwiesenen Postulat Reiniger (sp, SH) legte der Bundesrat einen Bericht über sämtliche von der Schweiz noch nicht ratifizierten Übereinkommen des Europarates vor, der auch über die vertragspolitischen Absichten der Regierung informiert und zu Beginn jeder Legislaturperiode auf den neuesten Stand gebracht werden soll. Von den insgesamt 92 übereinkommen hat die Schweiz bisher lediglich deren 39 ratifiziert und liegt damit deutlich unter dem Durchschnitt aller Mitgliedstaaten des Strassburger Gremiums
[46]. Das Parlament ermächtigte den Bundesrat für weitere fünf Jahre, im Rahmen der Europäischen Zusammenarbeit auf dem Gebiete der wissenschaftlichen und technischen Forschung (COST) Vereinbarungen mit anderen europäischen Staaten und den Europäischen Gemeinschaften abzuschliessen
[47].
[34] Vgl. BR Graber in LNN, 61, 14.3.77; BR Gnägi, «Die Schweiz und die europäische Sicherheit», in Documents, 1977, Nr. 6, S. 10 ff.; A. Weitnauer, «Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa», in Documents 1977, Nr. 4, S. 24 ff.; A. Riklin, Beurteilung der KSZE-Schlussakte, St. Gallen 1977 (Beiträge und Berichte, 49); Schweizer Monatshefte, 56/1976-77, S. 1031 f.; 57/1977, S. 337 f.; Europa 44/1977, Nr. 7-8, S. 4 ff.; TA, 1, 3.1.77; 3, 5.1.77; SP-Information, 1, 13.1.77; 6, 243.77; 8, 21.4.77; 11, 2.6.77; Ww, 24, 15.6.77; NZZ, 141, 18.6.77; 230, 1.10.77. Vgl. auch Amt!. Bull. NR, 1977, S. 44 ff. (Interpellation Gut, fdp, ZH) und Presse vom 9.3.77. Vgl. ferner SPJ, 1975, S. 47; 1976, S. 41.
[35] Vgl. Amtl. Bull. NR, 1977, S. 783 f. (Interpellation Oehler, cvp, SG); Ostschw., 45, 23.2.77; 73, 28.3.77; NZZ, 230, 1.10.77. Vgl. auch SPJ, 1975, S. 47.
[36] Vgl. Gesch.ber., 1977, S. 124 und Tat, 226, 27.9.77.
[37] Vgl. Amtl. Bull. NR, 1977, S. 105 ff. (Postulat Soldini, rep., GE); S. 1277 ff. (Interpellation Bommer, cvp, TG); S. 1390 f. (Einfache Anfrage Hofer, svp, BE).
[38] Vgl. Amt. Bull. NR 1977, S. 37 ff. (Motion Fischer, rep., AG) und Presse vom 9.3.77 und 2.4.77.
[39] Vgl. NZZ, 23, 28.1.77; 293, 14.12.77; Vorwärts, 14, 7.4.77; SZ, 109, 11.5.77; Presse vom 4.6.77; 5.-6.8.77; 4.-8.10.77; 1.11.77.
[40] Vgl. unten, Liberalisierung des Welthandels.
[41] Vgl. Schweizerische Gesellschaft für Aussenpolitik / Forum Helveticum, Die Schweiz in Europa, (Lenzburg) 1977 sowie Presse vom 24.1.77 (Lenzburger Seminar) und 5.-6.5.77 (Europatag). Vgl. auch A. Künzli, Eurokommunismus, Basel 1477; H. Timmermann in Schweizer Monatshefte, 57/1977, S. 277 ff.; Europa, 44/1977, Nr. 10-12; SP-Information, 1, 13.1.77; 3, 10.2.77; 5, 10.3.77; 20, 23.11.77. Vgl. ferner StR Aubert (sp, NE) in Europa, 44/1977, Nr. 3; VO, 138, 28.6.77.
[42] Vgl. BR Graber, «Europa - wohin?», in Documenta, 1977, Nr. 1, S. 25 ff. Vgl. auch F. Blankart, Grundlagen und Grenzen einer künftigen westeuropäischen Zusammenarbeit, St. Gallen 1977 (Beiträge und Berichte, 50) und D. Goldstein, «Schweizerische Europapolitik in Bewegung», in Schweizer Monatshefte, 57/1977, S. 427 ff.
[43] Vgl. Gesch.ber., 1977, S. 14 und 108 f. sowie Amtl. Bull NR, 1977, S. 446 (Einfache Anfrage NR Schürch, fdp, BE).
[44] Vgl K. Sovilla, «Die Europäische Sozialcharta», in Wirtschaftspolitische Mitteilungen, 33/1977, Nr. 9; Europa, 44/1977, Nr.9; TA, 88, 16.4.77; 125, 1.6.77; TW, 112, 14.5.77; wf, Artikeldienst, 21, 23.5.77; NZZ, 164, 15.7.77; Volk + Heimat, 20, Oktober 1977; SP-Information, 19, 3.11.77; Presse vom 20.12.77. Vgl. auch oben, Teil I, 1b (Menschenrechte).
[45] Vgl. NR Schürch (fdp, BE) in Europa, 44/1977, Nr. 1/2 und in Ldb, 97, 28.4.77. Vgl. auch Presse vom 20.1.77 und 28.1.77; Focus, 83, März 1977. Vgl. ferner oben, Teil I, 1b (Öffentliche Ordnung).
[46] Vgl. Amtl. Bull. NR, 1977, S. 107; BBI, 1977, III, S. 870 ff. und Presse vom 20.12.77.
[47] Vgl. BBI, 1977, II, S. 661; Amtl. Bull. NR, 1977, S. 1251; Amtl. Bull. StR, 1977, S. 611 f.; BBI, 1977, III, S. 913 f. Vgl. auch BR Graber, «Le Supercern», in Documenta, 1977, Nr. 3, S. 16 f.
Copyright 2014 by Année politique suisse
Ce texte a été scanné à partir de la version papier et peut par conséquent contenir des erreurs.