Année politique Suisse 1977 : Chronique générale / Défense nationale
 
Landesverteidigung und Gesellschaft
Wie andere Sektoren der Staatstätigkeit geriet auch die Landesverteidigung 1977 unter erhöhten finanzpolitischen Druck. Die verbreitete Sparneigung gegenüber den Militärausgaben hinderte aber nicht, dass an der Allgemeinheit der Wehrpflicht zäh festgehalten wurde: die Einführung eines Zivildienstes für gewisse Militärdienstverweigerer drang in der Volksabstimmung nicht durch.
Unter den äusseren Voraussetzungen der schweizerischen Landesverteidigung trat als neues Element die Entwicklung der sog. Neutronenbombe durch die USA ins Bewusstsein. Von einer Einführung dieser Waffe erwartet man eine Erhöhung der Atomkriegsgefahr, da ein Angreifer sie einsetzen könnte, ohne seinen Vormarsch dadurch selber zu behindern. Die veränderte Situation wurde im EMD eingehend untersucht. Dem Militärpublizisten G. Däniker gab sie Anlass, erneut die atomare Ausrüstung der Schweizer Armee und ausserdem die Aufstellung einer permanenten Bereitschaftstruppe in die Diskussion zu werfen [1]. Von Einsätzen zur Wahrung der inneren Sicherheit des Landes möchte der Bundesrat die Armee so weit wie möglich freihalten; die Bekämpfung von Terrorismus und Unruhen («sektorielle Gewalt») ist aber auch Gegenstand militärischer Erwägungen und Vorbereitungen [2].
Als empfindliche Beeinträchtigung der inneren Voraussetzungen wird von militärischer Seite die Beschränkung der finanziellen Mittel gewertet. Obwohl sich hohe Repräsentanten der Armee wiederholt über Mängel im Rüstungsstand beklagten [3], wurde das Landesverteidigungsbudget ftlr 1978 gegenüber der ursprünglichen Planung um insgesamt 9% gekürzt: ein erstes Mal bei der Revidierung des Finanzplans zu Beginn des Jahres und ein zweites Mal bei der Aufstellung des Voranschlags nach dem negativen Finanzentscheid des Volkes am 12. Juni. Die budgetierten Verteidigungsausgaben fielen damit erneut unter diejenigen des Vorjahres, was wiederum vor allem durch Abstriche beim Zivilschutz erreicht wurde [4]. Jedoch nicht nur die äusserste Linke, auch die Sozialdemokraten strebten eine stärkere Beschränkung an. Sie konnten sich dabei auf eine Repräsentativumfrage berufen, nach welcher die Ansicht ziemlich allgemein vorherrscht, dass man bei den Verteidigungsaufwendungen am ehesten sparen könnte [5]. So verlangte die SP-Fraktion im März nach der Verabschiedung des revidierten Finanzplans durch den Nationalrat, die Regierung solle einen Bericht über die Entwicklung der Militärausgaben vorlegen. Dabei regte sie bestimmte Sparmöglichkeiten an und zog auch eine Festsetzung des Anteils des Militärsektors am Total der Staatsausgaben sowie die Einführung des Referendums für Rüstungsprogramme in Betracht. Der Bundesrat machte in seiner Antwort geltend, dass die Verteidigungsausgaben längere Zeit unterdurchschnittlich zugenommen hätten und dass das EMD mit der Einführung einer Finanzplanung den anderen Departementen vorausgegangen sei. Die Hinweise auf konkrete Sparobjekte (Wiederholungskurse, Zahl der höchsten Offiziere, Verfahren bei der Rüstungsbeschaffung, Motorisierung) beurteilte er als wenig ergiebig oder aber für die Kriegsbereitschaft nachteilig; von einem Referendum für Rüstungsprogramme und von einer prozentualen Begrenzung der Militärausgaben befürchtete er eine Beeinträchtigung des erforderlichen Ausbaus der Rüstung [6].
Die Oppositionsbewegung gegen den Dienstbetrieb machte sich nicht mehr stark bemerkbar. Dazu trugen innere Spannungen bei, die im Januar zur Auflösung der «Nationalen Koordination», des Dachverbandes der Soldatenkomitees, und zur Spaltung örtlicher Gruppen führten. Während die trotzkistische Richtung die schweizerische Armee grundsätzlich ablehnt, befürworten maoistisch orientierte Kreise eine nationale Verteidigung, wobei sie namentlich für eine grössere Aktionsfreiheit der Soldaten eintreten. Das entspanntere Klima wird neben der ungünstigeren Wirtschaftslage dem psychologisch geschickteren Verhalten der Vorgesetzten zugeschrieben. Die geringere Bereitschaft zu politischem Engagement bei den nachrückenden Rekrutenjahrgängen lässt aber auch die Aktivität des militärfreundlichen «Forums Jugend und Armee» nur wenig Echo finden [7].
Die Entwicklung neuer Atomwaffen einerseits und die deutliche Sparneigung in der Bevölkerung anderseits bedeuteten eine gewisse Belastung für die Konzeption der schweizerischen Verteidigungspolitik. Wenn die einen die Einführung einer atomaren Bewaffnung oder einer ständigen Truppe erwogen, so begegneten bei anderen die Auffassungen des österreichischen Generals Spannocchi einem gewissen Interesse. Ausgehend von der Überlegung, dass die Armee eines Kleinstaates einem qualitativ und quantitativ stärkeren Angreifer rasch unterliege, wenn sie sich diesem auf dem von ihm bevorzugten Felde stelle, empfiehlt der Oberbefehlshaber der Armee unseres östlichen Nachbarstaates die Verteidigung ohne Schlacht im Sinne der Theorie Mao Tse-tungs; die eigenen Kräfte sollen geschont und der Gegner durch einen hinhaltenden Kleinkrieg an der Erreichung seines Ziels gehindert werden [8]. Diesem Konzept, das an die Raumverteidigungsvorstellungen schweizerischer Offizierskreise aus den 50er Jahren erinnert, wurde vor allem entgegengehalten, dass es für einen Angreifer den hohen «Eintrittspreis» durch eine blosse «Kurtaxe» ersetze, wodurch es der Neutralitätsaufgabe nicht gerecht werde. Militärische Kreise betonten immerhin, dass man den Kleinkrieg als zweite Verteidigungsphase auch in der Schweiz ins Auge fasse, was wiederum der Frage rief, wieweit der Schweizer Soldat menschlich und politisch auf einen solchen vorbereitet sei [9].
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Affäre Jeanmaire
In der Affäre Jeanmaire fällte das zuständige Divisionsgericht im Juni ein überraschend hartes Urteil: mit 18 Jahren Zuchthaus ging es weit über den Strafantrag hinaus. In der Presse wurde die Strenge im allgemeinen anerkannt, wenn es auch an Rufen nicht fehlte, man müsse aus dem Fall Konsequenzen für die militärische Beförderungspraxis ziehen. Verbreitete Kritik erntete die äusserst restriktive Information durch das Gericht. Über den Inhalt des Geheimnisverrats erfuhr man nichts Neues [10]. Die schon im Vorjahr verbreitete These, der Verurteilte habe über geheime Beziehungen der Schweiz zur NATO Auskunft gegeben, trat wieder auf und gab Anlass zu einem neuen Dementi des EMD [11]. Von offizieller Seite wurde festgestellt, man bereite sich zwar in den Führungsstäben intern auf ein Zusammengehen mit einer Drittmacht im Fall eines Angriffs auf die Schweiz vor, schliesse aber eine vorsorgliche Verständigung aus [12]. Dass es allerdings in den Bereichen der Waffenbeschaffung und des Besuchs von Militärschulen aus verschiedenen Gründen Beziehungen zu Mitgliedern der NATO, nicht aber zu solchen des Ostblocks gibt, wurde in der Presse vermerkt. Immerhin konnten im Juli erstmals schweizerische Beobachter — aufgrund der Vereinbarungen der Europäischen Sicherheitskonferenz von 1975 — sowjetischen Manövern beiwohnen [13].
Die parlamentarische Arbeitsgruppe, die sich mit der Abklärung politischer und administrativer Aspekte der Affäre zu beschäftigen hatte, legte im Herbst ihren Bericht vor. Dieser bestätigt das Ungenügen des Auswahlverfahrens, das J.-L. Jeanmaire bis in den Generalsrang steigen liess, betont jedoch, dass Bundesrat Gnägi nach seinem Amtsantritt Verbesserungen einführte. Er verlangt aber weitere Reformen, namentlich eine sorgfältige Charakteranalyse. Insbesondere soll auch die Qualität des Instruktionskorps gehoben werden, damit die Instruktorenlaufbahn an Attraktivität gewinnt und sich die Auswahl für die höchsten Posten verbreitert. Zur Verstärkung der Spionageabwehr schlägt der Bericht einen Ausbau der zuständigen Organe und eine bessere Kontrolle der Kontakte zwischen Geheimnisträgern und ausländischen Funktionären vor, ebenso eine offenere Information über Spionagefälle trotz möglichen Vergeltungsmassnahmen der betroffenen Staaten gegenüber schweizerischen Missionen. Konkrete Anträge werden jedoch den Geschäftsprüfungs- und Militärkommissionen überlassen [14].
Bereits im Sommer verfügte das EMD Einschränkungen für die Ausländerkontakte von Militärpersonen. Gleichzeitig beunruhigten Funktionäre des Nachrichtendienstes die Öffentlichkeit, indem sie durch die Presse Verdächtigungen gegen leitende Beamte ihres Dienstzweiges verbreiten liessen. Während die Angelegenheit departementsintern untersucht wurde, äusserten Vertreter des EMD die Ansicht, dass der Wirbel im wesentlichen auf Unzufriedenheit über administrative Umdispositionen zurückzuführen sei. Von verschiedener Seite wurde überdies eine Reduktion des Personals überdotierter ausländischer Botschaften gewünscht; der Chef des EPD bezeichnete solche Begehren jedoch als unangebracht [15]. Zur Beförderungspraxis der Armee veröffentlichte ein Journalist eine pointierte Kritik, die sich auf Aussagen militärischer und politischer Persönlichkeiten berief, von diesen aber als zu einseitig zurückgewiesen wurde [16].
 
[1] EMD: BR Gnägi in Documenta, 1977, Nr. 6, S. 10 ff. Däniker: NZZ, 248, 22.10.77; vgl. G. Däniker, «Taktische Atomwaffen und schweizerische Landesverteidigung», in ASMZ, 143/1977, S. 528 ff und 144/1978, S. 17 ff., ferner D. Brunner in Ostschw., 184, 9.8.77 sowie SPJ, 1966. S. 35.
[2] Vgl. Interview des Generalstabschefs H. Senn in BüZ, 172, 23.7.77; ferner oben, Teil I, 1b (öffentliche Ordnung).
[3] So Generalstabschef H. Senn (Documenta, 1977, Nr. 1, S. 10; BüZ, 172, 23.7.77) und Korpskommandant Bolliger (NZZ, 13, 17.1.77). Vgl. auch LNN, 32, 8.2.77; Bund, 63, 16.3.77; 263, 9.11.77; NZZ, 299, 21.12.77.
[4] Vgl. Finanzplan des Bundes für die Jahre 1977 bis 1979, 1976; Finanzplan des Bundes für die Jahre 1978 bis 1980, mit Perspektiven des Bundeshaushahs für das Jahr 1981, 1977; Botschaft des Bundesrates... zum Voranschlag... für das Jahr 1978, S. 126*; ferner unten, Teil I, 5 (Finanzpaket, Budget des Bundes, Finanzplanung) sowie SPJ, 1976, S. 46.
[5] E. Gruner / H.-P. Hertig, Die Finanz- und Steuergesinnung des Schweizervolkes, Bern (1977), S. 13 ff.; Amtl. Bu!!. NR, 1977, S. 260 ff. Über die Einstellung der Bevölkerung zur Armee vgl. SAMS-Informationen, 2/1978, Nr. 1 (Vorträge der Tagung «Milizarmee und Gesellschaft»).
[6] Das Postulat der SP-Fraktion berief sich auf den Grundsatz der «Opfersymmetrie»; es wurde am 20.9. vom NR überwiesen (Amtl. Bull. NR, 1977, S. 999 f.). Zur Haltung der Fraktion vgl. auch unten, Rüstung, Infrastrukturanlagen. Bericht des BR: BBI, 1977, III, S. 470 ff. Vgl. auch A. Kaech, «Die Militärausgaben — Entwicklungstendenzen und Steuerungsmöglichkeiten», in Schweiz. Bankverein, Der Monat, 1977, Nr. 5, S. 8 ff.
[7] Nationale Koordination: Zeitdienst, 4, 28.1.77. Richtungsgegensätze: Zeitdienst, 8, 25.2.77; Focus, Nr. 83, März 1977; BaZ, 48, 19.3.77. Forum Jugend und Armee: BaZ, 70, 12.4.77. Vgl. auch IPZ-Information, S/16, Febr. 1977; Ldb, 35, 11.2.77; LNN, 163, 16.7.77; Zeitdienst, 43, 28.10.77; femer SPJ, 1974, S. 49; 1975, S. 57, Anm. 30; 1976, S. 46.
[8] E. Spannocchi, «Verteidigung ohne Selbstzerstörung», in Verteidigung ohne Schlacht, EinI. v. C.F. v. Weizsäcker, München-Wien 1976. S. 15 ff. Vgl. auch NZZ, 110, 12.5.77; ferner oben, Voraussetzungen.
[9] F. Seethaler in NZZ, 88. 16.4.77; G. Däniker in ASMZ. 143/1977, S. 303 ff.; H. Senn in Schweizer Journal, 43/1977, Aug., S. 12 ff.; TAM, 40, 8.10.77; BaZ, 291. 23.11.77 (Vortrag H. Senns in Basel). Vgl. dazu A. Ernst, Die Konzeption der schweizerischen Landesverteidigung 1815 bis 1966, Frauenfeld 1971, S. 191 ff., 220 ff., 322 ff.
[10] Presse vom 18.-20.6.77. Der Strafantrag lautete auf 12 Jahre. Jeanmaire legte Kassationsbeschwerde ein (Presse vom 21.6.77). Vgl. dazu SPJ, 1976, S. 47 f. Zur Information vgl. unten, Teil I, 8c (Information).
[11] These: Berner Tagblatt, 15. 19.1.77. Dementi: TA (ddp). 36, 12.2.77. Vgl. SPJ, 1976, S.47.
[12] Vgl. H.R. Kurz in TAM. 40, 8.10.77.
[13] Waffenbeschaffung und Militärschulen: T.4. 59, 11.3.77. Manöver: TLM, 204, 23.7.77; Gesch.ber., 1977, S. 149.
[14] BBI 1977, III, S. 726 ff. Vgl. SPJ. 1976, S. 48.
[15] Einschränkungen: TA, 205, 3.9.77. Verdächtigungen: Blick, 174, 28.7.77; Bund, 174, 28.7.77; Presse vom 29.7.77. Botschaften: vgl. Postulat Soldini (rep., GE) (Amtl. Bull. NR, 1977, S. 105 ff.); ferner Os7schw., 140, 18.6.77; TG, 259, 9.11.77. Vgl. auch oben, Teil I, 2 (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa).
[16] Tat, 18-20, 22, 24, 26; 28, 30, 21.1.-4.2.77. Für die Veröffentlichung in Buchform (F. Wagner, Militärische Karriere: Können, Kennen, Kriechen? Thalwil 1977) mussten verschiedene Passagen auf Verlangen der Gewährsleute gestrichen werden; vgl. Bund, 45-47, 23.-25.2.77.