Année politique Suisse 1984 : Eléments du système politique / Structures fédéralistes
 
Beziehungen zwischen dem Bund und den Kantonen und unter den Kantonen
Im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen über den föderativen Aufbau der Schweiz stand weiterhin der Versuch, die Staatsaufgaben zwischen dem Bund und seinen Gliedern klarer aufzuteilen. Er blieb aber von einem grundlegenden Zielkonflikt überschattet : dem Wunsch, die Autonomie der Kantone zu verstärken, steht das Bestreben gegenüber, einen sozialen Mindeststandard im ganzen Bundesgebiet zu gewährleisten. Trotzdem glaubte die neue Vorsteherin des EJPD, Elisabeth Kopp, gegen Jahresende von einer «Renaissance des Föderalismus» sprechen zu können, als sie der Eröffnung eines Instituts für Föderalismus an der Universität Freiburg beiwohnte [1]. Nüchterner äusserte sich ihr Vorgänger R. Friedrich zum Ergebnis der parlamentarischen Debatten. Über die wissenschaftliche Behandlung der föderalistischen Thematik, insbesondere am Schweizerischen Juristentag, haben wir schon berichtet [2].
Das erste Paket von Massnahmen zur Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen, das die Landesregierung 1981 vorgelegt hatte, passierte im März nun auch die grosse Kammer. Ihrer Kommission folgend, lehnte diese einen Rückweisungsantrag der Linksparteien ab, löste jedoch aus dem Komplex von Bereichen, die Bundesrat und Ständerat den Kantonen übertragen wollten, die Wohnbauförderung heraus. Die Linke, die jedem nennenswerten Abbau der sozialpolitischen Bundesaufgaben opponierte, fand bei diesem Punkt die Unterstützung der Christlichdemokraten und weiterer Abgeordneten des politischen Mittelfeldes. Eine ähnliche Koalition beschränkte die Entlastung des Bundes auf dem Gebiet des Straf- und Massnahmenvollzugs: während Regierung und Ständekammer für Erziehungsheime nur noch Bausubventionen des Bundes zuzulassen gedachten, hielt die Volkskammer auch an Betriebsbeiträgen fest, um die eingeleiteten Reformen nicht zu gefährden. Der Nationalrat fügte schliesslich die definitive Neuzuteilung der Stempelabgaben und des Ertrags der Alkoholverwaltung, auf welche der Ständerat nicht eingetreten war, dem Paket wieder bei. Im Laufe der Verhandlungen kam das Bestreben der Sozialdemokraten, vermehrt eine gewisse Oppositionshaltung zu markieren, zum Ausdruck: im Sinne einer Ankündigung der Parteileitung nach dem Februar-Parteitag verlangte die SP-Fraktion dreimal Abstimmung unter Namensaufruf. Bei der Differenzenbereinigung im Herbst setzte der Nationalrat alle erwähnten Beschlüsse durch.
Damit hatte das Parlament fünf Verfassungsänderungen und elf Gesetzesvorlagen genehmigt. Erstere bedurften allerdings noch der Sanktion durch eine Volksabstimmung, und unter den letzteren gab es deren vier, die ohne geänderte Verfassungsgrundlage nicht in Kraft treten konnten. Die gewichtigsten Neuerungen waren einerseits die Aufhebung der Bundesbeiträge an die kantonalen Stipendien (dem obligatorischen Referendum unterstehend) sowie die Reduktion entsprechender Beiträge an die Ergänzungsleistungen zur Alters- und Invalidenversicherung, anderseits die volle Übernahme der staatlichen Zuwendungen an AHV und IV durch den Bund; ausserdem wurde ein grösserer Prozentsatz des Anteils der Kantone an der direkten Bundessteuer für den Finanzausgleich bestimmt. Schliesslich sollten die Kantonsanteile an den Stempelabgaben und am Ertrag der Eidg. Alkoholverwaltung (mit Ausnahme von Beträgen für die Bekämpfung des Suchtmittelmissbrauchs), die 1980 provisorisch gestrichen worden waren, definitiv entfallen (gleichfalls dem obligatorischen Referendum unterliegend) [3]. Die finanzielle Entlastung des Bundes durch das erste Paket wurde auf 110 Mio Fr. geschätzt. Dabei war freilich vorausgesetzt, dass die Revision des Krankenversicherungsgesetzes, die 1981 dem Parlament in einer gesonderten Vorlage unterbreitet worden war, die Bundesausgaben um rund 500 Mio Fr. reduzieren würde. Um schwerwiegende Änderungen in den finanziellen Ergebnissen der Aufgabenteilungsreform vermeiden zu können, enthält der, die AHV betreffende Erlass eine Sicherheitsklausel. Diese ermöglicht es dem Bund, die Übernahme der Staatsaufwendungen für die AHV zu Lasten der Kantone einzuschränken, falls das erste Paket (einschliesslich der Krankenversicherungsrevision) infolge von abweichenden Parlaments- oder Volksentscheiden diè ursprünglich angestrebte Mehrbelastung der Kantone nicht herbeiführt [4]. Dass dem breitangelegten Entflechtungsunternehmen im Parlament nur teilweise Erfolg beschieden war, liess namentlich in welschen Kreisen Enttäuschung über den Mangel an föderalistischer Gesinnung laut werden [5].
Noch im Spätherbst gab das EJPD ein zweites Massnahmenpaket in die Vernehmlassung. Es enthält weniger gewichtige Umverteilungen von Kompetenzen und Finanzlasten als das erste und begnügt sich eher mit kleinen Verschiebungen zwischen den jeweiligen Anteilen des Bundes und der Kantone. Hauptsächlich betroffen sind Bildung, Kultur, soziale Sicherheit, Wirtschaft und Umwelt. Finanziell soll es den Bund um 70 Mio Fr. entlasten. Ähnlich wie beim ersten Paket spiegelte die öffentliche Kritik den erwähnten Zielkonflikt wider: einerseits vermisste man in den Vorschlägen ein grosszügiges Entflechtungskonzept, anderseits warnte man vor einer Senkung des Niveaus der Staatsleistungen in den ärmeren Kantonen [6].
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Interkantonale Beziehungen
Das bedeutsamste Ereignis im Bereich der interkantonalen Beziehungen war der Abschluss der Verhandlungen zwischen Bern und Jura über die Güterausscheidung aufgrund der Kantonstrennung. Im Frühjahr unterzeichneten die Regierungsräte Martignoni (BE) und Lachat (JU) in Anwesenheit von Bundesrat Friedrich die letzte Serie diesbezüglicher Verträge. Die Ausscheidung erfolgte einerseits nach dem Territorialprinzip (vor allem für Liegenschaften und Strassen auf dem von Bern abgetrennten Gebiet), anderseits nach Massgabe der vom neuen Kanton übernommenen öffentlichen Aufgaben, also nicht einfach aufgrund der Bevölkerungszahlen. Das Vertragswerk wurde in einem Konkordat zusammengefasst, das am 8. November die Zustimmung beider Kantonsparlamente erhielt. Auf jurassischer Seite vermochte eine Klausel, nach der das Verfahren bei Auftreten neuer Elemente wiederaufgenommen werden kann, laut gewordene Zweifel an den Bewertungen zu beschwichtigen. Dass die Vermögensteilung auf dem Weg einer gütlichen Einigung zustandegekommen war, wurde im allgemeinen begrüsst [7]. Das Verhältnis zwischen den beiden Ständen blieb freilich durch den Streit um die Gemeinden Vellerat (BE) und Ederswiler (JU) sowie durch die Bestrebungen für eine «Wiedervereinigung» zwischen Nord- und Südjura belastet. Wir werden darauf im folgenden näher eingehen.
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Gemeinden
Unter den Kantonen, die parallel zur Revision der Aufgabenteilung im Bundesstaat an die Neuordnung des Verhältnisses zu ihren Gemeinden gegangen sind, tat Zürich 1984 einen weiteren Schritt. Uber die Verstärkung des Finanzausgleichs vom Jahre 1979 hinaus wurde nun vor allem die Hauptstadt entlastet, die mit Abstand den höchsten Gemeindesteuerfuss aufweist und deren Steuerkraft schwächer zunimmt als diejenige der übrigen Gemeinden des Kantons. Die grossen Städte fühlen sich aber nicht nur finanziell überlastet, sondern insbesondere auch vom Bund in ihrer Autonomie beeinträchtigt; so verlangte der Schweizerische Städteverband ein Anhörungsrecht bei der Vorbereitung von eidgenössischen Erlassen [8].
Andere Kantone erleichterten durch Revision von Gemeindegesetzen die Bildung von Zweckverbänden. Auf Widerstände stösst jedoch weiterhin die Institutionalisierung von innerkantonalen Regionen. In der Waadt hatte sich der Grosse Rat im Rahmen von Prinzipien für die kantonale Richtplanung mit einem Regionalisierungskonzept zu befassen, das die Regierung 1982 in die Vernehmlassung gegeben hatte. Nach diesem sollten sich die Gemeinde zum Zwecke der Regionalplanung in öffentlichrechtlichen Verbänden gruppieren. Unter Berufung auf die Gemeindeautonomie wurde das Konzept, das starker Opposition begegnet war, zurückgestutzt [9].
 
[1] E. Kopp, «Renaissance des Föderalismus», in Documenta, 1984, Nr. 4, S. 9 f. Das Institut für Föderalismus an der Rechts, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg beruht auf einem Vertrag zwischen dieser und der Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit. Es löst das Forschungsinstitut für Föderalismus und Regionalstrukturen ab, welches die Stiftung zusammen mit der Regio Basiliensis 1975-1984 in Riehen (BS) unterhalten hatte, wobei aber letztere ihre finanziellen Verpflichtungen nicht erfüllen konnte. Direktor ist der Staatsrechtler Th. Fleiner (vgl. BaZ, 27.10.84; Lib., 13.12.84; NZZ, 14.12.84; Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit, Jahresbericht, 1982, S. 6 f.; 1983, S. 5 f. sowie SPJ, 1975, S. 23).
[2] Vgl. R. Friedrich, «Föderalismus und interkantonale Solidarität», in Documenta, 1984, Nr. 4, S. 24 ff. sowie oben, Teil I, la (Einleitung, Staatsrecht).
[3] Amtl. Bull. NR, 1984, S. 12 ff., 53 ff., 116 ff., 1256 ff., 1459; Amtl. Bull. StR, 1984, S. 435 ff., 587 f., 592 f. Vom Parlament verabschiedete Texte: BBl, 1984, III, S. 11 ff. u. 50 ff. Die auf verabschiedeten Verfassungsänderungen beruhenden Gesetzesrevisionen wurden nicht vor den erforderlichen Volksabstimmungen, die erst 1985 stattfanden, publiziert. Zum vorgezogenen Gesetz über Beiträge an die Kantone GR und TI für Kultur- und Sprachförderung vgl. SPJ, 1983, S. 174 f. Vgl. im übrigen TA, 13.3.84; SPJ, 1983, S. 27; ferner unten, Teil I, 4d (Sparmassnahmen, Finanzausgleich), 6c (Wohnungsbau), 7c (Assurance-vieillesse et survivants, Prestations complémentaires) und 8a (Stipendien). Zum Verhalten der SP vgl. Teil I, 1c (Parlament) sowie Teil III a (Sozialdemokratische Partei). Zum Straf- und Massnahmenvollzug vgl. SPJ, 1966, S. 13; zu den Kantonsanteilen an Stempelabgaben und Alkoholertrag SPJ, 1980, S. 76 f.
[4], Schätzung: Presse vom 21.11.84. Krankenversicherung: vgl. SPJ, 1981, S. 25 u. 138 sowie unten Teil I, 7c (Assurance-maladie). Die Sicherheitsklausel (BBl, 1984, III, S. 70) sieht für die Einschränkung der Übernahme der AHV-Lasten durch den Bund einen nichtreferendumspflichtigen Parlamentsbeschluss vor. — Die Schätzungen für die finanziellen Auswirkungen der einzelnen Massnahmen sind seit der Ausarbeitung der Botschaft revidiert worden, da auf verschiedenen Gebieten Änderungen in den Gesamtaufwendungen eingetreten sind.
[5] JdG, 12.3.84; 24 Heures, 26.3.84; ferner A.T, 14.3.84; SGT, 14.3.84; NZZ, 24.3.84. Zur Aufgabenverflechtung vgl. auch H.P. Fagagnini, «Politikverflechtung — eine Problemskizze aus dem Blickwinkel der Bundesaufgaben», in Zur Zukunft von Staat und Wirtschaft in der Schweiz. Festschrift für Bundesrat Dr. Kurt Furgler zum 60. Geburtstag, Zürich 1984, S. 73 ff.
[6] Presse vom 21.11.84. Vgl. dazu SPJ, 1982, S. 18; ferner 1981, S. 26.
[7] Unterzeichnung: Presse vom 21.4.84. Frühere Vereinbarungen: vgl. SPJ, 1978, S. 29; 1979, S. 32 f.; 1980, S. 28; 1981, S. 27; 1982, S. 20; 1983, S. 28, Anm. 7. Parlamentszustimmung: Presse vom 9.11.84; R. Béguelin enthielt sich der Stimme. Zum Inhalt vgl. auch FAN, 18.10.84; LM, 18.10.84; Bund, 19.10.84; NZZ, 7.11.84. Der dem Kanton JU zugefallene Anteil beläuft sich auf netto 214 Mio Fr. In einem Teil der Presse wurde ein höherer Betrag genannt, der auch Werte enthielt, die nicht offiziell geschätzt wurden (Liegenschaften, Strassen usw.). Zweifel: LM, 6.11.84; FAN, 8.11.84; Jura libre, 1695, 8.11.84.
[8] Zürich : NZZ, 29.10.84; 3.12.84; vgl. unten, Teil II, 2c sowie SPJ, 1979, S. 86. Städteverband: NZZ, 28.3.84; TA, 28.3.84.
[9] Zweckverbände: SN, 17.1.84; 29.5.84; 18.9.84 (SH, erst Parlamentsbeschluss); JdG, 14.4.84; 16.4.84 (GE); vgl. unten Teil II, 1 j. Waadt: TLM, 8.6.82, 13.2.84; 20.2.84; 24 Heures, 14.2.84; 22.2.84; 23.2.84. Zu den Widerständen gegen eine Regionalisierung vgl. T. Maissen, «Eine Regionalorganisation im Aufbau — ein Erfahrungsbericht», in Die Region, 1984, Nr. 3, S. 31 ff., insbes. S. 33 f. Vgl. auch SPJ, 1977, S. 25; 1978, S. 26.