Année politique Suisse 1986 : Eléments du système politique / Structures fédéralistes
Beziehungen zwischen Bund und Kantonen und zwischen den Kantonen
Zum Thema Föderalismus, das in der Schweiz bisher wissenschaftlich eher am Rande bearbeitet worden ist, erschienen 1986
grundlegende Untersuchungen. Neben dem zweiten Band von M. Frenkels rechtsvergleichendem Werk über Föderalismus und Bundesstaat, das die Grundzüge der Verfassungen moderner Bundesstaaten vorstellt und auf aktuelle Probleme des Föderalismus eingeht, wurde der dritte Band des «Handbuchs politisches System der Schweiz» publiziert, der dem Föderalismus gewidmet ist. Dieses von der Schweizerischen Vereinigung für Politische Wissenschaft herausgegebene Grundlagenwerk vereinigt Aufsätze namhafter Wissenschaftler zu den rechtlichen und historischen Voraussetzungen des Föderalismus, zu den wichtigsten territorialen Komponenten des Bundesstaates, den Kantonen, Gemeinden und Sprachgruppen, sowie zu den Beziehungen zwischen den einzelnen Gliedern des föderalistischen Staates
[1]. So zeigt beispielsweise R.E. Germann, dass entgegen landläufiger Ansicht der Zentralstaat nicht unbedingt an Gewicht gewonnen hat. Jedoch führte die Verflechtung und die Arbeitsteilung zwischen Bund und Gliedstaaten, welche die Kantone in vielen Bereichen zu Vollzugsorganen des Bundes degradiert, nach Germann dazu, dass der Föderalismus in der Schweiz weitgehend zu einer Verwaltungsangelegenheit geworden ist. Die Reform des Föderalismus durch die beabsichtigte Totalrevision der Bundesverfassung einerseits und durch die Aufgabenneuverteilung andererseits drohe aber, in eine Sackgasse zu münden, weil keine Übereinstimmung über die eigentlichen Reformziele mehr herrsche
[2].
Der Bundesrat nahm Kenntnis vom Ergebnis des Vernehmlassungsverfahrens über das
zweite Paket von Massnahmen zur Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen. Zur Diskussion stand eine Reihe von Vorschlägen, mit denen die Abrundung von Zuständigkeiten im Rahmen grösserer Aufgabengebiete bezweckt und insbesondere ein Abbau unnötiger administrativer und finanzieller Verflechtungen anvisiert wird. Während die allgemeinen Ziele der zweiten Aufgabenneuverteilung mehrheitlich Zustimmung fanden, lösten die vorgeschlagenen Massnahmen im Bereich der Invalidenversicherung (IV) vehemente Kritik aus. Vorab die Behindertenorganisationen wehrten sich gegen diese Reorganisation der IV, da sie befürchteten, einzelne Kantone könnten das bisherige Niveau der Invalidenbetreuung nicht halten. Aber auch die linken wie die bürgerlichen Parteien sowie acht Kantone verlangten, dass die IV-Neuregelung aus dem zweiten Paket ausgeklammert werde. Die meisten Kantone sind demgegenüber nicht bereit, ersatzlos auf die 25 Mio Fr., die ihnen die IV-Entflechtung nach dem Vernehmlassungsentwurf einbringen würde, zu verzichten und beharrten auf der Zielvorgabe von höchstens 70 Mio Fr. Mehrbelastung. Bis Ende 1987 soll nun das EJPD eine Botschaft über das zweite Massnahmenpaket zur Aufgabenneuverteilung ausarbeiten und deren Konzeption mit dem Kontaktgremium der Kantone absprechen
[3].
Die beiden Basel setzten ihre Bemühungen um eine Verstärkung der interkantonalen Zusammenarbeit fort und nahmen dabei Standortbestimmungen vor. Ihre grenzüberschreitende Partnerschaft gilt als beispielhaft für die Kooperation zwischen Zentren und Agglomerationsgürteln
[4]. Ähnliche Probleme in der Region Genf veranlassten die Kantone Genf und Waadt, ihre traditionelle Rivalität in den Hintergrund zu schieben und erstmals eine engere Zusammenarbeit auf Regierungsebene an die Hand zu nehmen. Primär wird es darum gehen, Verkehrs- und Raumplanungsfragen abzusprechen, welche sich mit der Ausdehnung der Agglomeration Genf in den Bezirk Nyon (VD) ergeben haben
[5].
Der Leiter der Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit mit Sitz in Solothurn, Max Frenkel, geriet unter Beschuss wegen angriffiger Kolumnen gegen Regierung und Verwaltung des Kantons Solothurn, worauf er seinen Rücktritt erklärte. Die Kritik richtete sich nicht gegen die Institution, die als Stabsstelle im Dienste der Kantone und als Instrument zur Förderung des Föderalismus anerkannt ist
[6]. Das von der Stiftung in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg ins Leben
gerufene Institut für Föderalismus wird ausser von den Kantonen neu auch vom Bund unterstützt. Als Dokumentationszentrum für kantonales Recht legt es eine umfassende Sammlung über die kantonalen Gesetzgebungen an und erteilt Bund, Kantonen, Gemeinden und Privaten Auskunft zu rechtsvergleichenden Fragen und Föderalismusproblemen
[7].
Da die Schweiz im Ausland oft als Beispiel für die Autonomie der Gemeinden erwähnt wird, hielt der Bundesrat eine Ratifizierung der «
Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung», die vom Ministerkomitee des Europarates im Mai 1985 angenommen worden war, für wünschenswert. Die Charta enthält Grundsätze über die Zuweisung von Aufgaben an die Gemeinden, verlangt die verfassungsmässige Anerkennung der Gemeindeautonomie und stärkt dadurch die Rechtsstellung der Kommunen zu Lasten der Zentralgewalt. In der vom EDA durchgeführten Vernehmlassung wendeten sich verschiedene Kantone sowie die FDP jedoch gegen eine Unterzeichnung, da das Vertragswerk die besondere föderalistische Struktur der Schweiz zu wenig berücksichtige und die Organisationshoheit der Kantone sowie die Stellung der Gemeinden beschneide. Bedenken wurden namentlich auch in bezug auf die Bestimmungen der Charta über die Zuweisung von Finanzmitteln an die Gemeinden geäussert, die einen zeitgemässen Finanzausgleich nicht zuliessen
[8]. Im Zusammenhang mit der Aufgabenneuverteilung auf Bundesebene hatten zahlreiche Kantone eine Neuordnung des Verhältnisses zu ihren Gemeinden an die Hand genommen. 1986 stimmte der Schwyzer Souverän einem neuen Finanzausgleichsgesetz zu, und im Kanton Zürich wurde das letzte Teilstück der Lastenausgleichsvorlage, das Verwaltungsvereinfachungen beinhaltet, in der Volksabstimmung angenommen
[9].
[1] M. Frenkel, Föderalismus und Bundesstaat, Bd. 2: Bundesstaat, Bern 1986 ; vgl. NZZ, 16.10.86. R. E. Germann / E. Weibel (Hg.), Handbuch politisches System der Schweiz, Bd. 3: Föderalismus, Bern 1986 (im folgenden zitiert als Handbuch, Bd. 3); vgl. Bund, 24.5.86 ; 24 Heures, 24.5.86 ; Presse vom 26.5.86 (Kongress der Schweiz. Vereinigung für Politische Wissenschaft); BaZ, 5.7.86; L. Neidhart in NZZ, 14.7.86. Vgl. auch G.-A. Chevallaz, «Geschichte und Aktualität des schweizerischen Föderalismus», in Stiftung für eidg. Zusammenarbeit, Jahresbericht 1986, Solothurn 1987. Siehe ferner oben, Teil I, 1a (Wissenschaftliche Darstellungen).
[2] R. E. Germann, « Die Beziehungen zwischen Bund und Kantonen im Verwaltungsbereich», in Handbuch, Bd. 3, S. 343 ff. Zum Thema Vollzugsprobleme siehe oben, Teil 1, Ic (Regierung); Gesch.ber., 1986, S. 163 und 170 f.; EJPD, Bericht der Arbeitsgruppe «Gesetzesevaluation», Bern 1985; vgl. H. Tschäni in TA, 8.11.86.
[3] NZZ, 3.7.86; 1.9.86; Vat., 3.7.86; zur Vernehmlassung vgl. auch SPJ, 1985, S. 27 und 147 f. Nach den Richtlinien der Regierungspolitik 1983-1987 hätte das 2. Massnahmenpaket noch in der laufenden Legislaturperiode dem Parlament unterbreitet werden sollen (BBl, 1984, I, S. 182 f.). Zum 1. Massnahmenpaket siehe SPJ, 1985, S. 26 f. und 82 f. Siehe ferner J. Coderey, «Die föderalistische Herausforderung», in SKA-Bulletin, 1986, Nr. 8/9, S. 2 ff.; W. Bussmann, Mythos und Wirklichkeit der Zusammenarbeit im Bundesstaat, Bern 1986; J. Geiger, Konsultation der Kantone im Vernehmlassungsverfahren des Bundes, Winterthur 1986.
[4] Partnerschaft BS/BL : BaZ, 2.1.86 ; 24.1.86 ; 12.6.86. Standortbestimmungen : BaZ, 16.1.86 (BS) ; 22.12.86 (BL); P. Nyffeler / N. Schassmann / P. Wyss, Partnerschaft zwischen Basel-Stadt und Basel-Landschaft, Liestal 1986. Allg. zur interkantonalen Zusammenarbeit siehe M. Frenkel, « Interkantonale Institutionen und Politikbereiche», in Handbuch, Bd. 3, S. 323 ff.
[5] Suisse, 21.1.86; 24.6.86; 24 Heures, 21.1.86; 24.6.86; 20.10.86. Mit einer Streitschrift Genève doit-elle rester suisse? (Lausanne 1986) machte der Journalist M. Baettig auf verschiedene wirtschaftliche und politische Benachteiligungen Genfs aufmerksam und stellte die Loslösung des Kantons aus dem schweizerischen Bundesstaat zur Diskussion. Dabei ging es ihm jedoch kaum um ein ernsthaftes Plädoyer für einen unabhängigen Zwergstaat, sondern vielmehr darum, auf das Genfer Malaise aufmerksam zu machen (vgl. Suisse, 7.12.86 ; Bund, 9.12.86; siehe auch SPJ, 1984, S. 32).
[6] SZ, 11.7.86; 20.9.86 (Rücktritt); Presse vom 9.8.86; BZ, 21.10.86; vgl. H. Tschäni in TA, 30.8.86.
[7] Vat., 11.8.86 ;NZZ, 28.8.86; BaZ, 8.9.86. Das Institut für Föderalismus an der Universität Freiburg gibt eine zweimonatlich erscheinende Publikation, Gesetzgebungs-Bulletin, heraus.
[8] NZZ, 16.1.86 ; 25.7.86 ; SGT, 6.5.86 ; BaZ, 26.11.86 ; vgl. SPJ, 1982, S. 19 sowie unten, Teil I, 2 (Intégration européenne).
[9] Vgl. unten, Teil II, 2 c. Siehe ferner J. Meylan, « Les communes », in Handbuch, Bd. 3, S. 137 ff. ; U. Cavelti, « Aufgabenteilung Kanton/Gemeinden aus der Sicht des Kantons St. Gallen », in Schweiz. Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung, 87/ 1986, S. 425 ff.; M. Schenker, Das Recht der Gemeindeverbände unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse in den Kantonen BE, LU, NW, ZG, SG, GR, AG, VD, NE und JU, St. Gallen 1986; D. Thürer, Bund und Gemeinden. Eine rechtsvergleichende Untersuchung zu den unmittelbaren Beziehungen zwischen Bund und Gemeinden in der BRD, den USA und der Schweiz, Berlin 1986.
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