Année politique Suisse 1988 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
Volksrechte
Nachdem im Vorjahr die Rekordzahl von 9 Volksinitiativen zustandegekommen war, wurde 1988 — zum erstenmal seit 1968 — keine einzige eingereicht. Da zudem der Souverän vier Initiativen in der Volksabstimmung ablehnte (AHV-Alter, Stadt/Land, 40-Stunden-Woche und Überfremdung) und zwei Begehren von den Initianten zurückgezogen wurden (Kündigungsschutz im Arbeitsrecht und Konsumentenschutz/Kartellverbot) reduzierte sich die Anzahl der am Jahresende hängigen Initiativen von 26 auf 20. Neu lanciert wurden im Berichtsjahr 3 Volksinitiativen (1987: 6); zwei davon fordern Werbeverbote für Alkohol resp. Tabakprodukte, die dritte verlangt in der Form einer allgemeinen Anregung die volle Freizügigkeit bei der beruflichen Vorsorge.
Bei drei Volksbegehren lief 1988 die Einreichefrist ungenutzt ab (Hundekot, Friedenspolitik und Begrenzung der Aufnahme von Asylsuchenden). Die Zahl der Ende 1988 angemeldeten, aber noch nicht zustandegekommenen Volksinitiativen betrug sieben, effektiv Unterschriften gesammelt wurde aber bloss noch zu den drei im Berichtsjahr lancierten Begehren. Referenden gegen Parlamentsbeschlüsse kamen im Berichtsjahr keine zustande
[32].
Die Freisinnigen hatten 1986 mit einer Motion die Einführung von
Karenzfristen für die Lancierung von Volksinitiativen, die ein eben an der Urne abgelehntes Begehren in gleicher oder ähnlicher Form wieder aufnehmen, gefordert. Nachdem sich der Bundesrat gegen diese Beschränkung der Volksrechte ausgesprochen und der Ständerat den Vorstoss bloss in Postulatsform überwiesen hatte, reichte die FDP-Fraktion im Nationalrat eine neue Motion ein. Diese verlangt nun nicht mehr eine Karenzfrist für die Lancierung, sondern die Möglichkeit der Verdoppelung der Zeit, welche Bundesrat und Parlament zur Behandlung der Initiative zur Verfügung steht
[33].
Der Ständerat überwies eine Motion des Nationalrats (Segmüller, cvp, SG) und eine des Freisinnigen Rhinow (BL), welche die Vereinheitlichung und die
Erleichterung der brieflichen Stimmabgabe bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen verlangen. Der Bundeskanzler hatte mit der Abklärung dieser und weiterer Fragen im Zusammenhang mit den politischen Rechten bereits eine Studienkommission beauftragt. Deren Vorentwurf zur
Teilrevision des Bundesgesetzes über die politischen Rechte wurde gegen Jahresende in die Vernehmlassung gegeben. Neben Vorschlägen für die erleichterte briefliche Stimmabgabe regen die Experten an, die Nationalratswahlen vom Oktober auf Ende November zu verschieben, damit die Wahlvorbereitung und -kampagne nicht mehr in die Sommer- bzw. Herbstferien fallen. Sie befürworten zudem die von Nationalrat Stucky (fdp, ZG) 1987 mit einer Motion geforderten Massnahmen gegen die exzessive Nutzung des passiven Wahlrechts durch sogenannte Jux-Listen. Als Mittel wird eine Kautionszahlung für das Einreichen von Listen vorgeschlagen, die beim Erreichen eines bestimmten Stimmenanteils zurückerstattet würde
[34].
Der Vorstoss von Nationalrat Günter (ldu, BE) für die
Einführung des Finanzreferendums vermochte keine Mehrheit auf sich zu vereinigen. Mit einer parlamentarischen Initiative hatte er Bundesbeschlüsse, welche Verpflichtungskredite im Umfang von mehr als 2% des letztjährigen Bundesbudgets zur Folge haben, dem fakultativen Referendum unterstellen wollen. Eine von den Linken und Grünen unterstützte allgemeiner gehaltene Motion der Kommissionsminderheit vermochte sich ebenfalls nicht durchzusetzen. Die bürgerlichen Gegner dieser Neuerung argumentierten damit, dass die Kreditvorlagen auf Bundesebene komplexer seien als auf Kantons- und Gemeindeebene.– wo in der Regel das Finanzreferendum existiert –, und dass die Neuerung in diversen Bereichen (z.B. Entwicklungszusammenarbeit und Rüstung) eine langfristige Politik verunmöglichen würde
[35].
Die heftigen Auseinandersetzungen um die Kernenergie und insbesondere die blockierte Situation in Kaiseraugst führten zur Forderung, in diesem Bereich gewisse Kompetenzen vom Parlament auf das Volk zu übertragen. Die Motionen der Freisinnigen Steinegger (UR) und Villiger (LU), welche den Grundsatzentscheid über die
Bewilligung von Kernkraftwerken und Endlagern für radioaktive Abfälle dem fakultativen Referendum unterstellen wollten, wurden jedoch von beiden Räten nur in Postulatsform überwiesen. Die Opposition gegen die vorgeschlagene Erweiterung der Volksrechte kam sowohl von seiten der Befürworter als auch der Gegner der Kernenergie. Erstere befürchteten davon eine Verhinderung der weiteren Nutzung der Nuklearenergie, letztere argwöhnten, dass mit eidgenössischen Volksabstimmungen der Bau von Kernkraftanlagen gegen den Widerstand der betroffenen Regionen legitimiert werden könnte
[36].
Ein weiterer Vorstoss, der verlangt, dass nicht bloss Kernenergieanlagen, sondern alle grossen Bauprojekte des Bundes und wichtige Konzessionserteilungen dem fakultativen Referendum zu unterstellen seien, wurde von Nationalrat Meier (gp, ZH) in Form einer parlamentarischen Initiative eingebracht. Die Mehrheit der vorberatenden Kommission sprach sich dagegen aus, eine Minderheit übernahm jedoch die Ziele der Initiative und reichte eine entsprechende Motion ein
[37].
[32] Verhandl. B.vers., 1988, IV, S. 120 f., 1989, I/II, S. 128 f.; Gesch.ber. 1988, S. 17; wf, Initiativen + Referenden. Stand 1. Januar 1989, Zürich 1989; A. Gross, "1988 — ein Jahr erfolgloser Volksbegehren", in TA, 5.1.89; SPJ 1987, S. 31 f. Zu den einzelnen Initiativen und Volksabstimmungen siehe die jeweiligen Sachzusammenhänge.
[33] Amtl. Bull. NR, 1988, S. 1475; BZ, 3.8.88; SPJ 1986, S. 25.
[34] Amtl. Bull. StR, 1988, S. 6 und 940 f.; Bund, 3.12.88; TA, 13.12.88; SPJ 1987, S. 32. Zum Stimm- und Wahlrecht für Frauen, Jugendliche und Ausländer siehe oben, Teil I, 1b (Bürger- und Stimmrecht).
[35] Amtl. Bull. NR, 1988, S. 848 ff.; TA, 24.6.88; SPJ 1987, S. 33.
[36] Amtl. Bull. NR, 1988, S. 1189 ff. und 1278; Amtl.Bull. StR, 1988, S. 731 ff.; SPJ 1987, S. 33. Siehe auch unten, Teil I, 6a (Energie nucléaire).
[37] Verh. B.vers., 1988, IV, S. 20.
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