Année politique Suisse 1989 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Alters- und Hinterbliebenenversicherung
Rund 15% der Bevölkerung sind heute schon über 65 Jahre alt, bis ins Jahr 2040 sollen es – gemäss einem Demographiebericht der OECD – 28% sein . Dies ist Anlass genug, sich grundlegend mit den Fragen der Altersvorsorge zu befassen. Dabei werden immer mehr Stimmen laut, die nicht nur eine Verbesserung des bestehenden Systems, sondern ein mehr oder minder radikales Umdenken fordern [4].
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Neue Modelle
Die ersten Vorstösse dazu kamen aus den Reihen der Linken. Im Frühjahr diskutierte eine Arbeitsgruppe der SP und der Gewerkschaften die Lancierung von zwei parallelen Volksinitiativen, welche zugleich den Schutz der Umwelt und die AHVRenten entscheidend verbessern sollten. Kernstück der Idee war die Einführung einer "Umweltumlage", die auf ökologisch und gesundheitlich gefährlichen Produkten erhoben würde und der AHV zugute käme. Durch die Zusatzeinnahmen für die AHV könnten die Beiträge an die 2. Säule und deren übermassige Kapitalbildung reduziert werden. Der Gedanke einer Öko-Steuer wurde aber – da selbst in den eigenen Reihen nicht unumstritten und im jetzigen Zeitpunkt politisch nicht durchsetzbar – wieder fallengelassen [5].
Im September wurde bekannt, dass eine vom VPOD eingesetzte Gruppe, in der neben eigenen Experten auch andere linke Organisationen vertreten waren, ebenfalls ein neues Altersvorsorge-Modell ausgearbeitet hatte. Nachdem die Arbeitsgruppe zuerst von der Idee einer "Volkspension" ausgegangen war, welche die 2. Säule überflüssig machen würde, liess sie den Gedanken wieder fallen. Dies geschah aus der Einsicht heraus, dass die Pensionskassen bereits zu sehr etabliert seien und – da von der Alterung der Gesellschaft und der Wirtschaftsentwicklung unabhängig – trotz ihrer evidenten Mängel eine gewisse Berechtigung hätten. Doch sollte die AHV derart aufgestockt werden, dass sie nicht mehr nur das Existenzminimum, sondern den eigentlichen Grundbedarf decken würde; die berufliche Vorsorge sollte dementsprechend redimensioniert werden [6].
Ebenfalls im September kündigte die PdA an, dass sie im Frühjahr 1990 eine neue Initiative "für eine zeitgemässe Volkspension" zu lancieren gedenke, die durch eine Verdoppelung der niedrigsten Bezüge alle Alters- und IV-Renten auf ein "würdigeres Niveau" anheben möchte. Auch sie will aber auf eine gänzliche Aufhebung der 2. Säule verzichten [7].
Unerwarteten Sukkurs erhielten die linken Gruppierungen als im Oktober die vier SVP-Ständeräte Gadient (GR), Seiler (SH), Uhlmann (TG) und Zimmerli (BE) in einem in der Wintersession überwiesenen Postulat den Bundesrat aufforderten, einen Bericht über die zukünftige Finanzierung der Altersvorsorge vorzulegen, und dabei laut über die Einführung einer eigentlichen "Volkspension" nachdachten, welche nicht durch zusätzliche Lohnprozente, sondern über die Mehrwertsteuer finanziert werden sollte [8]. Der Bundesrat erklärte sich bereit, eine Gewichtsverlagerung zwischen der ersten und zweiten Säule zu prüfen, wollte aber das in der Verfassung verankerte Prinzip der drei Säulen nicht grundsätzlich in Frage stellen [9].
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Konjunkturelle Anpassungen
Doch auch am Bestehenden wurden mögliche Verbesserungen vorgeschlagen oder vorgenommen. Im Hinblick auf die 10. AHV-Revision standen Themen wie Kostenneutralität, Rentenalter, Splitting, Erziehungsbonus weiterhin im Raum, doch war man allgemein der Ansicht, dass für die grundsätzliche Diskussion erst das Vorliegen der bundesrätlichen Botschaft abgewartet werden müsse [10]. Einzig die SP legte eine gewisse Aktivität an den Tag und erwog im Dezember, gemeinsam mit den Gewerkschaften eine Volksinitiative "für höhere AHV-Renten" zu lancieren [11]. Eine parlamentarische Initiative Spielmann (pda, GE) für eine einmalige 13. Auszahlung der AHV/IV-Renten per Ende 1989 scheiterte – da so kurzfristig nicht realisierbar und zudem finanziell nicht klar genug abgestützt – bereits in der vorberatenden Nationalratskommission, doch nahm sich diese vor, in einer ihrer nächsten Sitzungen materiell auf dieses Anliegen zurückzukommen [12].
Dem üblichen zweijährigen Anpassungsmodus gemäss wurden die AHV/IV-Renten auf den 1.1.1990 um 6,6% erhöht und im Gleichschritt die neuen Grenzwerte im BVG festgesetzt [13]. Ebenfalls auf dieses Datum hat der Bundesrat eine Verordnungsänderung vorgenommen, welche die im Zug der 9. AHV-Revision eingeführte strikte Rentenkürzung bei Beitragslücken, die über ein Jahr dauerten, wieder mildert: künftig werden Lücken bis zu drei Jahren wieder toleriert, sofern sie vor 1979 entstanden sind [14].
Auf dem Gebiet der Ergänzungsleistungen (EL) gerieten die Dinge, wenn auch nur geringfügig, ebenfalls in Bewegung. Obgleich die vorberatende Nationalratskommission einer parlamentarischen Initiative Spielmann (pda, GE), welche die Rückgängigmachung der mit der 2. EL-Revision 1987 eingeführten Leistungskürzungen für gewisse Bezüger forderte, nicht zustimmen mochte, beschloss sie doch oppositionslos eine entsprechende Motion, die vom Bundesrat eine revidierte Gesetzesvorlage verlangte [15]. Im Juni legte der Bundesrat Antrag und Botschaft zu einer Gesetzesänderung vor, welche für Bezüger von EL-Leistungen bei der Vergütung der Krankheitskosten den Selbstbehalt wieder abschafft [16]. National- und Ständerat stimmten ohne Gegenstimme zu [17]. Zusammen mit ihrer Motion deponierte die nationalrätliche Kommission ebenfalls ein Postulat mit der Bitte, die Information der Rentenbezüger zu verbessern [18]. Dem Bündner Ständerat Ulrich Gadient (SVP) ging dies offenbar zu wenig weit, verlangte er doch in einer Motion, AHV- und IV-Ergänzungsleistungen seien jenen, die sie nötig hätten, automatisch und nicht erst auf Antrag auszurichten. Der Bundesrat bestritt den schlechten Informationsstand der Rentnerinnen und Rentner und lehnte das Ansinnen mit dem Hinweis auf den hohen Verwaltungsaufwand ab. Der Rat überwies die Motion als Postulat [19].
 
[4] BA für Sozialversicherung (BSV), Die AHV- und IV-Renten im Lichte der Statistik, Bern 1989; "Auswirkungen der Überalterung auf die Sozialpolitik", in wf, Dok, 17, 24.4.89, S. 6 ff. (Zusammenfassung der OECD-Studie).
[5] NZZ und Vr, 29.5.89; TA, 29.5. und 27.9.89.
[6] TA, 27.9.89; SP-VPOD, Nr. 40-41, 5.10., Nr. 44, 2.11., Nr. 49, 7.12. und Nr. 50-52, 14.12.89; Bund, 21.10.89.
[7] NZZ und Suisse, 11.9.89; VO, 14.9.89.
[8] Verhandl. B. vers., 1989, IV, S. 122 f.; Bund, 22.9.89; Suisse, 25.9.89; TA, 27.9.89; SHZ, 5.10.89. Die FDP zeigte sich von diesem Vorschlag völlig überrascht. Bei der SP wurde er mit gemischten Gefühlen aufgenommen; deutlich abgelehnt wurde dabei der Vorschlag zur Prüfung eines erwerbsunabhängigen Finanzierungskonzepts, weil dadurch die Arbeitgeberbeiträge entfallen würden (BZ, 22.9.89).
[9] Amtl. Bull. StR, 1989, S. 839 ff.; BZ und Vat., 15.12.89.
[10] Siehe auch SPJ 1988, S. 202 f.
[11] NZZ, 18.12.89.
[12] NZZ und Vr, 17.11.89.
[13] AS, 1989, S. 1233 ff. und 1901. Gleichzeitig wurden auch die Referenzbeträge bei den Ergänzungsleistungen angehoben (AS, 1989, S. 1241 f.).
[14] AS, 1989, S. 1230 ff.
[15] Verhandl. B.vers., 1988, IV, S. 20 und 1989, I/ II, S. 40.
[16] BBl, 1989, II, S. 1101 ff.
[17] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1394 f. und 2280; Amtl. Bull. StR, 1989, S. 789 und 846; BBl, 1989, III, S. 1675.
[18] Verhandl. B.vers., 1989, I/II, S. 22.
[19] Amt. Bull. StR, 1989, S. 783 ff.; Presse vom 13.12.89.