Année politique Suisse 1989 : Politique sociale / Assurances sociales
Krankenversicherung und Mutterschaftsversicherung
1977 hatte der Bund im Rahmen der nach dem Konjunktureinbruch 1974/75 beschlossenen Sparprogramme seine Subventionen an die Krankenkassen auf dem Stand von 1976 eingefroren und so seither rund 7 Mia Fr. eingespart. Da in vielen kantonalen Gesetzen die Beiträge der Kantone zudem an die Höhe der Bundesbeiträge gekoppelt sind, entstanden den Kassen noch weitergehende Mindereinnahmen, während sich die Krankenpflegekosten deutlich stärker als das Wirtschaftswachstum entwickelten. Den Versicherten brachte dies fast jährlich
Prämienerhöhungen um die 10%, was deutlich über der allgemeinen Teuerung liegt
[41]. Gleichzeitig bewog es gewisse Kassen dazu, durch gezielte Abwerbung Jagd auf "gute Risiken" (Junge, Männer) zu machen oder gar zu diesem Zweck eigene Tochterkassen zu gründen
[42]. Von Nationalrat Rychen (svp, BE) im Parlament darauf angesprochen, erklärte der Bundesrat, dass er aufgrund der Bestimmungen im Kranken- und Unfallversicherungsgesetz (KUVG) keine Möglichkeit habe, gegen derartige Neugründungen, die erwiesenermassen die Solidarität unter den Versicherten aushöhlten, vorzugehen. Ein diesbezügliches Postulat Leutenegger Oberholzer (gb, BL), das 1988 an der Opposition von Nationalrat Allenspach (fdp, ZH) gescheitert war, konnte in der Wintersession doch noch überwiesen werden
[43].
Eine Möglichkeit, die Last der Krankenkassenprämien für die Versicherten wieder erträglicher zu gestalten, könnte die Annahme der
Volksinitiative "für eine finanziell tragbare Krankenversicherung" sein, welche vom Bund eine
massive Erhöhung seiner Subventionen fordert. Der Initiant, das Konkordat der Schweizerischen Krankenkassen (KSK), würde sich davon einen Prämienrabatt von ca. 20% versprechen
[44].
Doch gleich wie im Ständerat 1988, hatte die Vorlage auch im Nationalrat keine Chance. Die vorberatende Kommission beschloss aber, wie zuvor schon die kleine Kammer, der Volksinitiative entgegen dem Willen des Bundesrates nicht mit leeren Händen entgegenzutreten. Bei ihren Beratungen ging die Kommission vorerst vom ständerätlichen Gegenvorschlag aus, der das 1987 in der Volksabstimmung gescheiterte Sofortprogramm ohne Mutterschaftstaggeld wiederaufgenommen hatte. Dabei schuf sie aber so zahlreiche und gewichtige Differenzen — so etwa mit der Einführung des Bonussystems und der Prämiengleichheit für Frauen und Männer —, dass bald einmal erkannt wurde, dass auf dieser Grundlage kein Konsens mehr zu erzielen war
[45].
Als dann im Spätsommer noch bekannt wurde, dass der Bundesrat eine Expertenkommission mit einer Totalrevision des KUVG betrauen werde, schloss sich die Nationalratskommission einem Vorschlag des Freisinnigen Früh (AR) an, wonach auf eine materielle Revision des Gesetzes verzichtet und dem Rat nur vorgeschlagen wurde, die Bundesbeiträge an die Krankenkassen durch einen einfachen und auf fünf Jahre befristeten Bundesbeschluss von heute rund 950 Mio Fr. auf jährlich 1,3 Mia Fr. zu erhöhen
[46]. Noch etwas griffiger gemacht wurde dieser Antrag in letzter Stunde durch die Präzisierung einer Kommissionsminderheit, der mit Früh (fdp, AR), Haller (sp, BE), Rychen (svp, BE) und Segmüller (cvp, SG) alle Bundesratsfraktionen angehörten: Danach sollen die zusätzlich bewilligten Mittel gezielt dazu verwendet werden, die Entsolidarisierung zwischen den Geschlechtern und den Altersgruppen zu mildern
[47].
In der Wintersession lehnte der Nationalrat die Volksinitiative mit 116 zu einer Stimme ab, da das Begehren finanziell überrissen sei, derartige Bestimmungen nicht in die Verfassung gehörten, sondern auf Gesetzesebene geregelt werden müssten, und der Initiativtext keine Bremsmechanismen zur Eindämmung der Gesundheitskosten enthalte. Einstimmig genehmigte der Zweitrat den präzisierten Antrag Früh
[48].
Damit ist die Volksinitiative aber noch nicht vom Tisch. Die Räte haben nur mehr bis zum April 1990 Zeit, sich auf einen gemeinsamen Gegenvorschlag zu einigen. Weder der ständerätliche noch der nationalrätliche Weg scheinen zudem dazu zu führen, dass das KSK seine Initiative zurückziehen könnte. Das Volk wird sich also voraussichtlich spätestens im Juni 1991 zu dieser Frage an der Urne äussern müssen.
Dass im Krankenversicherungswesen Neues gefragt ist, ist seit Jahren allen Beteiligten klar. Der Bundesrat hatte denn auch schon vier "Weise" mit der Ausarbeitung von neuen Modellen beauftragt
[49]. Aufgrund ihres Schlussberichts veröffentlichte das EDI Ende August seine
Vorgaben für eine Totalrevision des KUVG: obligatorische Grundversicherung, Beibehaltung der individuellen Kopfprämie — also keine lohnprozentualen Beiträge, wie sie die noch hängige Initiative der SP und der Gewerkschaften will —, Prämiengleichheit für Männer und Frauen, für Junge und Alte, volle Freizügigkeit bei Kassenwechsel, höhere Kostenbeteiligung der Versicherten, Lastenausgleich zwischen den Kassen, Abgeltung von Spitex-Kosten, massvolle Erhöhung der Bundesbeiträge zugunsten der Schwächeren und Zulassung von alternativen Versicherungsangeboten. Die Revision soll ganz unter das Motto der Solidarität und der Kostensenkung gestellt werden. Das Thema Mutterschaftsversicherung wurde dabei tunlichst nicht erwähnt
[50].
Gleichzeitig kündigte Bundesrat Flavio Cotti die Einsetzung einer von Ständerat Otto Schoch (fdp, AR) präsidierten 26köpfigen Kommission an, die aufgrund dieser Vorgaben bis Ende September 1990 einen Vorentwurf ausarbeiten soll. Dieser Kommission gehören unter anderem drei der vier "Weisen" an, aber nur eine Vertreterin der Versicherten und nur gerade drei Frauen
[51]. Der vierte ursprüngliche Experte, der Zürcher Wirtschaftswissenschafter Peter Zweifel, mochte in der Kommission nicht mitmachen, weil er befürchtete, dass bei diesem "Interessen-Hickhack" ohnehin keine grundlegenden Anderungen erfolgen könnten
[52]. Damit drückte er die auch in der Presse am häufigsten geäusserte Befürchtung aus. Ende November zog die Kommission Schoch Zwischenbilanz. Sie erachtete die vom Bundesrat fixierten Grundsätze als geeignete Basis für ihre Arbeiten und gab beim BSV einen entsprechenden Gesetztesentwurf in Auftrag, dessen Details ab März 1990 in weiteren Expertenrunden geprüft werden sollen
[53].
Die Spitzenverbände des Gesundheitswesens, nämlich die Vereinigung der Arzte (FMH), der Apotheker (SAV), der Krankenhäuser (Veska) sowie der Chemischen Industrie (SGCI) stellten sich in einer gemeinsamen Stellungnahme hinter das Projekt Cotti, während das KSK bereits im Vorfeld erklärt hatte, nicht grundsätzlich gegen eine Totalrevision zu sein, einer Ubergangsregelung im Moment aber eindeutig den Vorzug zu geben
[54]. Die FDP begrüsste die angestrebte Wettbewerbssteigerung durch die volle Freizügigkeit und die Anerkennung alternativer Versicherungsformen, befürchtete aber, dass das Obligatorium und die Prämiengleichheit keinen Konsens finden würden. Für die SP bringen die bundesrätlichen Vorschläge zwar bedeutende Verbesserungen (Obligatorium, Prämiengleichheit, Freizügigkeit), enthalten aber auch viel Widersprüchliches (alternative Versicherungsmodelle, Kopfprämie)
[55].
Ziemlich überraschend schickte das BSV im Juni das bereits bewilligte Gesundheitskassenmodell
HMO (Health Maintenance Organization) und das bedeutend umstrittenere, von der Krankenkasse Grütli vorgeschlagene
Bonussystem in eine breite Vernehmlassung
[56]. Während die probeweise Einrichtung von HMO-Praxen in den Kantonen und bei den Parteien allgemein auf ein eher positives Echo stiess, lehnten viele Kantone, die SVP, die SP, die Gewerkschaften und die Invalidenverbände das Bonussystem zum Teil vehement ab, da es zu einer krassen Entsolidarisierung im Kassenwesen führe. FDP und CVP konnten sich mit einem befristeten Versuch unter gewissen Bedingungen einverstanden erklären, forderten aber dessen wissenschaftliche Begleitung. Die meisten Krankenkassen — mit Ausnahme der Helvetia, die sich dem Grütli-Modell angeschlossen hat — zeigten wenig Begeisterung, erklärten aber, bei Einführung des Versuchs aus Konkurrenzgründen ebenfalls Bonus-Versicherungen anbieten zu wollen
[57]. Ende Dezember beschloss der Bundesrat, die beiden Modelle versuchsweise bis Ende 1995 zuzulassen. Am 1.1.90 wurde in Zürich die erste HMO-Praxis eröffnet, weitere Praxen sind in Basel, Bern und Lausanne geplant. Das Bonus-System soll ab dem 1.7.90 erlaubt werden
[58].
Wie bereits erwähnt, wurde das heisse Eisen der Mutterschaftsversicherung in die bundesrätlichen Vorschläge für eine Totalrevision des KUVG nicht einbezogen. Ganz zur Seite schieben konnte man das Thema allerdings nicht, da seit 1988 eine
Standesinitiative des Kantons Genf in den Räten hängig ist, welche den Bund auffordert, unverzüglich einen von der Krankenversicherung unabhängigen Entwurf für eine Mutterschaftsversicherung auszuarbeiten. Ende 1988 beschloss die vorberatende ständerätliche Kommission, der Initiative in Form eines Postulates Folge zu geben und holte beim Bundesrat eine Stellungnahme zur Frage einer nicht durch Lohnprozente finanzierten Mutterschafts-Erwerbsausfallversicherung ein. Der im November 1989 vorgelegte Bericht zeigte vier theoretische Lösungen auf (Modell Ergänzungsleistungen, Modell der Familienzulagen in der Landwirtschaft, Ergänzung von Art. 324a Abs. 3 OR, Ergänzung dieses Artikels verbunden mit einer Versicherung). Der Bundesrat hielt aber weiterhin an seiner schon bei anderer Gelegenheit geäusserten Ansicht fest, dass dem Problem der Abgeltung des Mutterschaftsurlaubs nach der Ablehnung in der Volksabstimmung keine vorrangige Bedeutung zukomme. Die Kommission mochte diese Auffassung nicht teilen und wünschte, dass der Bundesrat den Räten einen Bericht darüber unterbreite, wie unverzüglich ein von der Krankenversicherung unabhängiger Entwurf für die Mutterschaftsversicherung ausgearbeitet werden könne. Der Ständerat folgte der Kommission und überwies ein entsprechendes Postulat
[59].
[41] Die Autoren P. Gygi und A. Frei (Das schweizerische Gesundheitswesen, Basel 1988) zeigen, dass die Schweizer heute zwar viermal mehr verdienen als vor 25 Jahren, dass sie aber für die Krankenkassenprämien zehnmal mehr ausgeben müssen; Presse vom 31.3.89; BaZ, 18.7.89; WoZ, 15.9.89; AT, 5.12.89. Zu der Wahrscheinlichkeit, dass sich die Prämien bis ins Jahr 2000 verdoppeln werden, siehe Traktandum Magazin, 1989, 2, S. 17ff.
[42] LNN, 12.8.89; SGT, 16.8.89; Ww, 14.12.89.
[43] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 880, 884 und 2228. In einer Verordnung hat der Bundesrat aber abschliessend festgehalten, in welchen Versicherungsarten und zu welchen Bedingungen die Krankenkassen ausser der Kranken- und Mutterschaftsversicherung tätig sein dürfen, ohne die Anerkennung gemäss KVUG zu verlieren (AS, 1989, S. 2430).
[44] SHZ, 16.11.89; AT, 5.12.89. Siehe auch SPJ 1984, S. 143 f., 1985, S. 150, 1987, S. 201 f., und 1988, S. 206 f.
[45] Presse vom 25.4.89; SGT, 19.5.89; BZ, 3.6.89.
[46] NZZ und BZ, 8.9.89; AT, SZ und TW, 9.12.89.
[47] BaZ, 13.12.89; SZ, 14.12.89.
[48] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 2213 ff.
[49] Siehe SPJ 1988, S. 194.
[51] TW, 29.8.89. Im Vorfeld der bundesrätlichen Informationskonferenz war noch von einer hälftigen Vertretung der Frauen die Rede (Bund, 19.8.89). Über die generelle Untervertretung der Frauen in Kommissionen siehe unten, Teil I, 7d (Stellung der Frau).
[54] JdG, 15.8.89; NZZ, 2.9.89.
[55] wf KK, 36, 4.9.89; SP, Pressedienst, 276, S. 3 f.; SGB, 1989, Nr. 40.
[56] BZ, 27.6.89. Für diese beiden und weitere zur Diskussion stehende Modelle siehe Bund, 23.2.89.
[57] TA, 20.10.89; Bund, 11.11.89. Weil sie auch hier die Gefahr einer steigenden Entsolidarisierung zwischen den Versicherten befürchteten, meldeten SP und SGB auch gegenüber dem HMO-Modell gewisse Vorbehalte an (SGB, Nr. 30, 5.10.89; Vat., 5.10.89).
[58] Presse vom 21.12.89. Bund, 4.1.90.
[59] Amtl. Bull. StR, 1989, S. 831 ff.; Presse vom 15.12.89; SPJ 1988, S. 208 f.; Mutterschaftshilfe in den Kantonen: LNN, 14.6.89; Vat., 8.8.89; SGT, 18.11.89.
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