Année politique Suisse 1990 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
 
Gesundheitspolitik
Die im Vorjahr initiierte interkantonale Zusammenarbeit mit dem Ziel einer koordinierten Gesundheitspolitik zeitigte erste Resultate: im September stellten die im Gesundheitsindikatorenprojekt (IGIP) zusammengeschlossenen Institutionen ein System von rund hundert Indikatoren vor. Deren Untersuchung und Auswertung soll Aufschluss geben über den Gesundheitszustand der Bevölkerung und über die zahlreichen Faktoren, welche die Gesundheit wesentlich beeinflussen, wie die Gesundheitsversorgung, die Lebensweise und insbesondere das Gesundheitsverhalten, das soziale Umfeld und schädliche Umwelteinflüsse [1].
Der letzte Punkt steht für eine allgemeine Tendenz: Obgleich nach wie vor grösster Wert auf die individuelle Prävention und das Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung gelegt wird, treten immer mehr die vom einzelnen Menschen nicht beeinflussbaren kollektiven Gesundheitsbedrohungen in den Vordergrund. Die Vereinigung der "Ärzte für den Umweltschutz", welcher jeder vierte Mediziner mit eigener Praxis angehört, weist schon seit längerem auf den ihrer Ansicht nach engen kausalen Zusammenhang zwischen der wachsendenLuftverschmutzung und den ständig zunehmenden Erkrankungen der Atemwege hin. Genauere Kenntnis soll hier in den nächsten Jahren die im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 26 angelaufene und mit 5 Mio Fr. dotierte Studie "Sapaldia" bringen [2].
Pointiert äusserten sich die in der Organisation "Ärzte und Ärztinnen für soziale Verantwortung" engagierten Mediziner auch zu den Gefahren einer Umweltkatastrophe, insbesondere einer atomaren Verstrahlung. An einer nationalen Kundgebung wiesen sie darauf hin, dass die Schweiz für einen Ernstfall völlig ungenügend gerüstet sei, und sie nicht in der Lage wären, die Bevölkerung medizinisch adäquat zu versorgen. Der Berner Arzt und Nationalrat P. Günter (ldu) verdächtigte die Landesregierung, eine im Auftrag der Schweizerischen Sanitätsdirektorenkonferenz (SDK) erstellte Studie über Hilfeleistung bei nuklearen und strahlenbedingten Unfällen, welche auf Koordinationsprobleme und mangelnde Kapazitäten hinweist, mit Absicht über Monate hinweg nicht zu publizieren — und er witterte dabei ein 'Manöver' im Vorfeld der Atom-Abstimmungen vom September. Ebenfalls lange unter Verschluss gehalten wurde eine Untersuchung, die Mängel in der Jod-Prophylaxe der Bevölkerung auflistet. In Beantwortung einer Einfachen Anfrage Bührer (sp, SH) zur Notfallplanung bei Atomunfällen verwies der Bundesrat darauf, dass das Gesundheitswesen primär eine kantonale Angelegenheit sei, zeigte sich jedoch zuversichtlich und versprach, der Jod-Prophylaxe in den kommenden Monaten die nötige Beachtung zu schenken [3].
Die föderalistische Struktur unseres Gesundheitswesens erscheint Kritikern denn auch gerade im Hinblick auf diese globalen Gesundheitsbedrohungen als problematisch. Etwas breiteren Spielraum für die Landesregierung könnte eine im Ständerat eingereichte parlamentarische Initiative Jagmetti (fdp, ZH) bringen, die anregt, in die Bundesverfassung sei eine Bestimmung aufzunehmen, welche vorsieht, dass der Bund zum Schutze der Gesundheit und zur Verhütung von Unfällen Vorschriften erlassen und den Vollzug regeln kann [4].
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Kostenentwicklung
Als Gründe für die Kostenexpansion im Gesundheitswesen nennen Fachleute das immer grössere Leistungsangebot in den Spitälern, die starke Zunahme der Zahl der Ärzte, den vermehrten Medikamentenkonsum, die steigenden Lohnkosten, die erhöhte Nachfrage nach therapeutischen Leistungen und die Alterung der Bevölkerung. Sie verweisen darauf, dass das Gesundheitswesen nicht nach Marktprinzipien funktioniert, ein Umstand, der preistreibend wirke, da sowohl für die Patienten wie für die Leistungsanbieter ein echter Anreiz zu kostengünstigeren Behandlungen fehlt [5] .
Lösungen, die aus der Kostenspirale herausführen sollen, sind nur in Ansätzen vorhanden und teilweise politisch recht brisant. Alternative Krankenkassenmodelle (HMO und Bonus-Versicherung) möchten die Patienten zu gesundheitsund kostenbewussterem Handeln anleiten, könnten aber auch zu einer wachsenden Entsolidarisierung zwischen den Versicherten führen. Eine Rationierung der Leistungen — beispielsweise die Verweigerung aufwendiger Therapien bei Patienten mit geringen Heilungschancen oder in fortgeschrittenem Alter — mag ökonomisch sinnvoll erscheinen, würde aber die Gesellschaft vor kaum lösbare menschliche und soziale Probleme stellen [6] .
Dass gerade auch die Leistungsanbieter nicht ohne weiteres zu Sparübungen bereit sind, zeigte sich in den teilweise sehr schwierigen Tarifverhandlungen zwischen Krankenkassen und Spitälern, die in mindestens drei Kantonen zu einem vertragslosen Zustand führten [7] . Noch deutlicher wurde dies im Streit um die Zürcher Arzttarife. Nachdem der Kanton diese entgegen den Empfehlungen des Preisüberwachers erhöht hatte, reichte das Konsumentinnenforum Beschwerde beim Bundesrat ein. Die Landesregierung wies die Einsprache zwar ab, widersetzte sich aber im Gegenzug dem aus dem bürgerlichen Lager stammenden Ansinnen, die Kompetenzen des Preisüberwachers im Medizinalbereich zu beschneiden. Er legte Wert auf die Feststellung, Arzttarife hätten klar kartellistischen Charakter und seien deshalb in Zukunft nicht nur auf Missbräuche, sondern auch unter wettbewerbspolitischen Aspekten zu überprüfen [8] .
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Spitex
Erstmals seit fast zwanzig Jahren wiesen 1989 die Ausgaben für die stationäre Behandlung einen kleineren Zuwachs auf (+ 5,2%) als jene für die ambulante Behandlung (+ 8,1%). Dieser Trend dürfte auch auf den zunehmenden Ausbau der Spitex-Betreuung zurückzuführen sein. Anlässlich des 2. Spitex-Kongresses versprach Bundesrat Cotti, der Bund werde in den nächsten Jahren darauf hinwirken, dass Spitex den ihm gebührenden Stellenwert im Gesundheitswesen erhält. Dies verlangt auch die Petition des 1. Spitex-Kongresses, welche nun ebenfalls vom Ständerat diskussionslos überwiesen wurde [9].
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Sanfte Medizin
Die parlamentarische Initiative Hafner (gp, BE), welche verlangte, der Bund solle umgehend seine Beteiligung an der Impfkampagne gegen Masern, Mumps und Röteln einstellen, hatte im Nationalrat wenig Chancen. Dennoch zeigte die ausführliche und engagiert geführte Debatte, dass Zweifel an den traditionellen Methoden der Schulmedizin nicht mehr so einfach vom Tisch zu wischen sind [10]. Dies kam auch einem Anliegen von Nationalrat Fierz (gp, BE) zugute, der in einem in der Herbstsession überwiesenen Postulat anregte, die Schirmbilduntersuchung der Rekruten sei angesichts der hohen Strahlenbelastung und des praktischen Verschwindens von Tuberkulose umgehend einzustellen. Bereits ab Anfang 1991 werden diese Untersuchungen nun nicht mehr durchgeführt [11].
Auch der Bundesrat ist offenbar der Ansicht, die alternativen Heilmethoden verdienten eine eingehendere Abklärung und Würdigung. In Beantwortung einer Einfachen Anfrage Humbel (cvp, AG) gab er bekannt, im Rahmen der 6. Serie der Nationalen Forschungsprogramme ein eigenständiges, mit 6 Mio Fr. dotiertes Forschungsprogramm in Auftrag gegeben zu haben, welches die Wirkung von alternativen Behandlungsmethoden und deren Beziehungen zur Schulmedizin abklären soll. Gleichzeitig wies er aber darauf hin, dass er aufgrund der kantonalen Vorrechte im Hochschulwesen keine Möglichkeit habe, auf.die Schaffung eines Lehrstuhls für Naturheilverfahren hinzuwirken. Diesen Schritt könnte der Kanton Zürich als erster tun, beschloss doch die Zürcher Regierung im Herbst, an ihrer Universität einen Lehrstuhl für Naturheilkunde einzurichten. Da sich der Zentralvorstand der FMH bereits für einen Einbezug alternativ-medizinischer Ansätze ins Medizinstudium ausgesprochen hat, sollte von dieser Seite kein allzu heftiger Widerstand entstehen [12]. Mit einer von links-grünen Abgeordneten unterstützten Motion möchte Nationalrat Hafner (gp, BE) erreichen, dass die vom Bund für Komplementärmedizin eingesetzten Mittel innerhalb von zehn Jahren denjenigen für die Schulmedizin anzugleichen sind [13] .
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Medikamente
Das im Vorjahr angenommene Pharmakopöegesetz konnte nach Ablauf der Referendumsfrist in Kraft gesetzt werden. Gleichzeitig wurden mit einer Pharmakopöeverordnung einerseits die Vorschriften der Pharmakopöe erlassen und andererseits die organisatorischen und technischen Einzelheiten zum Erlass und zur Änderung der Pharmakopöe geregelt. Mit den beiden Erlassen besteht nun eine klare Rechtsgrundlage für die Übernahme der europäischen Pharmakopöevorschriften ins schweizerische Recht. In Anwendung dieser neuen Bestimmungen konnte das Supplement 1991 zur Pharmakopöe verabschiedet werden, mit welchem zahlreiche Änderungen und Ergänzungen der Europäischen Pharmakopöe übernommen wurden [14].
Nur zögerlich erfolgt der Beitritt der Kantone zum revidierten Heilmittelkonkordat. In Basel beantragte der Regierungsrat dem Grossen Rat einen befristeten Beitritt bis spätestens zum Jahr 2000, in Bern bewegte sich die vorberatende Parlamentskommission in dieselbe Richtung. In beiden Fällen wurde die Zurückhaltung damit begründet, dass in diesem Bereich eine Bundesregelung dringend notwendig wäre. Dies auch im Hinblick auf eine Annäherung an Europa, da die Schweiz als einziges westeuropäisches Land keine Medikamentenkontrollstelle mit staatlichem Charakter hat [15].
Erneut gerieten die Medikamentenpreise ins Kreuzfeuer der Kritik. Ein von der Stiftung für Konsumentenschutz (SKS) publizierter internationaler Preisvergleich zeigte, dass dieselben Arzneimittel in der Schweiz durchschnittlich fast doppelt so teuer sind wie in den EG-Staaten. Die von den Herstellern vorgebrachte Rechtfertigung, wonach die allgemeinen Lebenshaltungskosten, die staatliche Preiskontrolle sowie Wechselkursschwankungen dafür verantwortlich seien, vermochte den Preisüberwacher nicht zu überzeugen. In Absprache mit dem Bundesamt für Sozialversicherung und der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) sprach er sich dafür aus, der gesamte Medikamentenmarkt, d.h. auch die wichtigen Medikamente auf der sogenannten Spezialitätenliste, sei dem Preisüberwachungsgesetz zu unterstellen [16].
Auf Vermittlung der Kartellkommission wurde hingegen bei den Generika eine gewisse Annäherung der Positionen erzielt, insofern als die Handelsmargen der Generika etwas angehoben wurden, was dazu führen dürfte, dass vermehrt preisgünstige Nachahmerprodukte verschrieben werden [17].
Mit dem sinnvollen Einsatz von Arzneimitteln befassten sich zwei vom jeweiligen Rat als Postulat überwiesene Motionen, welche – angeregt durch eine wissenschaftliche Erhebung der "Erklärung von Bern" – ein Exportverbot für Medikamente fordern, die in der Schweiz nicht zugelassen sind, da deren Einsatz vor allem in den Ländern der Dritten Welt zumindest nicht unproblematisch sei [18].
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Aids
Es gibt erste Anzeichen dafür, dass die Schätzungen für die weitere Verbreitung von Aids zu hoch waren: im Berichtsjahr wurden 459 neue Krankheitsfälle registriert – 850 waren projiziert worden. Das Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG) warnte aber, diese scheinbare Abflachung der Kurve dürfe nicht zu euphorischer Stimmung oder einem Nachlassen der Präventionsbemühungen verleiten, da allenfalls auch ein Meldeverzug oder fehlende Meldungen zu dieser Diskrepanz zwischen erwarteten und erfassten Fällen geführt haben könnten [19].
Das Bundesgericht fällte einen Grundsatzentscheid, der nicht ohne Folgen für die Sozialversicherungen und den Arbeitsbereich bleiben dürfte. Das BAG und die Eidgenössische Fachkommission für Aids-Fragen hatten immer wieder betont, HIVSeropositivität sei wohl ein behandlungsbedürftiger Zustand, nicht aber eine eigentliche Krankheit. Der Kassationshof des Bundesgerichts bestätigte nun die Verurteilung eines, HIV-Positiven mit der Begründung, die Ubertragung des Aids-Virus auf einen ahnungslosen Intimpartner bedeute eine vorsätzliche schwere Körperverletzung und eine vorsätzliche Verbreitung einer gefährlichen übertragbaren menschlichen Krankheit (Art. 122 und 231 StGB) [20].
Dieselbe Haltung nahm auch das Eidgenössische Versicherungsgericht ein, welches entschied, der Vorbehalt einer Krankenkasse gegenüber einer HIV-positiven Frau sei zulässig gewesen. Fachleute befürchteten, mit diesen beiden Urteilen werde der für die Betroffenen überaus schmerzlichen Ausgrenzung noch weiter Vorschub geleistet. Um zumindest die versicherungsrechtliche Diskriminierung zu verhindern, reichte der Genfer SP-Nationalrat Longet eine Motion ein, die sicherstellen soll, dass HIV-positive Personen in der Krankenversicherung und der beruflichen Vorsorge nicht benachteiligt werden [21].
Der Bundesrat beantragte dem Parlament, allen durch kontaminierte Blutpräparate mit dem HIV-Virus infizierten Hämophilen oder Bluttransfusionsempfängern sei eine einmalige Leistung von 50 000 Fr. zu entrichten, unabhängig davon, ob die Krankheit bereits ausgebrochen ist oder nicht. Die Räte stimmten dieser Regelung zu, dehnten aber den Kreis der Anspruchsberechtigten auch auf den HIV-infizierten Ehepartner — nicht aber den infizierten Lebensgefährten — aus [22].
Da der Aids-Forschung kurzfristig der finanzielle Kollaps drohte, sprach der Bundesrat einen Zusatzkredit von 5 Mio Fr. und beschloss, für 1991 das Forschungsbudget ebenfalls um 5 auf 8 Mio Fr. zu erhöhen und die Aids-Forschung analog der Krebsforschung in seine Botschaft über die Förderung der wissenschaftlichen Forschung 1992 bis 1995 zu integrieren [23]. Mit dem Argument der wissenschaftlichen Relevanz begründete Bundesrat Cotti auch die Teilnahme der Schweiz an der Internationalen Aids-Konferenz in San Francisco. Das BAG hatte vorgehabt, die Konferenz — gleich wie die EG-Länder — zu boykottieren, um so gegen die restriktive Einreisepolitik der USA gegenüber Aids-Kranken zu protestieren. Diesen Entscheid hatte das BAG allerdings ohne Rücksprache mit dem Departementsvorsteher getroffen; dieser zeigte sich erstaunt ob dem Vorgehen des BAG und betonte vor dem Nationalrat, dass in derartigen Fällen nur ihm allein die Entscheidungskompetenz zustehe. Wie weit dieser Vorfall zum Rücktritt von BAG-Direktor Beat Roos beitrug, wurde nicht publik [24]..
Emotionsloser verlief der Internationale Kongress über Aids-Prävention, der anfangs November in Montreux (VD) stattfand. Die Fachleute aus aller Welt waren sich dabei einig, dass Evaluation ein wichtiger Bestandteil jeder Prävention sei und deshalb unbedingt zuverlässigere Daten über die Verbreitung der HIV-Infektion erhoben werden müssten. Das BAG möchte so im Einvernehmen mit der Verbindung der Schweizer Ärzte FMH die Bevölkerung mit unverknüpfbaren anonymen Stichproben auf ihre Seropositivität testen lassen. In diesem Sinn reichte Nationalrat Günter (ldu, BE) eine Motion ein, welche die Durchführung anonymer HIV-Tests bei Rekruten verlangt [25].
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Gentechnologie und Fortpflanzungsmedizin
Als Erstrat befasste sich die kleine Kammer mit der Volksinitiative "gegen Missbräuche der Fortpflanzungs- und Gentechnologie beim Menschen". Gleich wie der . Bundesrat empfahl auch der Ständerat, die Initiative abzulehnen. Er stimmte dem Gegenvorschlag des Bundesrates zwar zu, wollte aber in stärkerem Masse die Anliegen der Initianten berücksichtigen und beschloss, im Humanbereich bereits auf Verfassungsstufe konkrete Verbote festzuschreiben. Unter anderem sollen Manipulationen am Erbgut menschlicher Keimzellen, die Beeinflussung der künstlichen Fortpflanzung mit dem Ziel, nach bestimmten Selektionskriterien besondere Eigenschaften herbeizuführen, sowie alle Arten von Leihmutterschaft untersagt werden. Gemäss dem Ständerat darf das Erbgut einer Person nur mit deren Zustimmung oder auf gesetzliche Anordnung hin untersucht, registriert oder offenbart werden, und ihr muss Zugang zu den Daten über ihre Abstammung gewährt werden. Nicht gestattet wären die Verschmelzung von menschlichem und tierischem Keim- und Erbgut sowie die Kommerzialisierung des Keim- und Erbgutes. Die pränatale Diagnostik soll weiterhin gestattet sein, ebenso die In-vitro-Fertilisation, letztere aber nur als ultima ratio, wenn die Unfruchtbarkeit nicht anders behandelt werden kann [26].
Die vorberatende Nationalratskommission ging noch weiter. Sie verstärkte die Bestimmungen insofern, als neben der Leihmutterschaft auch deren Vermittlung sowie die Embryonenspende untersagt werden sollen. Zudem dehnte sie auch die Grundsatzklausel aus: Der Bund hat nicht nur Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen zu erlassen, sondern auch der Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung zu tragen und die genetische Vielfalt zu schützen.
Die Kommission beschloss gleichzeitig, ihre Arbeiten an der umstrittenen Revision des Patentrechts zu sistieren bis der Nationalrat Gelegenheit habe, sich zu den Grundsätzen der Initiative und des Gegenvorschlags zu äussern. Bis dahin setzte sie auch ihre Beratungen über die Parlamentarische Initiative Ulrich (sp, SO) aus, die Genomanalysen verbieten will. Da sich die Arbeiten des Parlaments voraussichtlich noch über einen längeren Zeitraum erstrecken werden, forderte Nationalrat Nussbaumer (cvp, SO) den Bundesrat in einem Postulat auf, den Räten einen Überbrückungsbeschluss vorzulegen [27].
Fragen der Sicherheit bei der Genmanipulation und der Freisetzung von genetisch veränderten Lebewesen standen im Zentrum der neu im Nationalrat eingereichten Vorstösse. Mit drei Motionen will der Basler Nationalrat Baerlocher (poch) ein Verbot von gentechnologisch hergestellten Lebensmitteln, ein Verbot der Freisetzung von gentechnisch manipulierten Lebewesen und eine Umweltverträglichkeitsprüfung für bio- und gentechnologische Anlagen erreichen [28].
Wichtig im Hinblick auf die kommenden Weichenstellungen dürfte sein, dass sich die drei grossen Bundesratsparteien ausführlich zur Gentechnologie äusserten. Die liberalste Position nahm dabei erwartungsgemäss die FDP ein. Grundtenor ihrer zwölf Thesen war, dass die positiven Aspekte der Gentechnologie zurzeit eher unterschätzt würden. Eine deutlich restriktive Haltung vertrat demgegenüber die SP. Ihrer Ansicht nach sollte die Gentechnologie nur dort erlaubt sein, wo sie nachweislich die Lebensbedingungen vieler Menschen verbessert und jede Gefährdung von Mensch und Umwelt ausgeschlossen ist. Die CVP wollte strenger reglementieren als die FDP, aber weniger verbieten als die SP.
Konsens herrschte weitgehend in der Humangenetik, wo alle drei Parteien jede Veränderung am Erbmaterial und an frühen Keimzellen ablehnten. Die SP ging hier allerdings noch weiter und wollte jeden Zugriff auf menschliche Eizellen, also auch die In-vitro-Fertilisation und den Embryonentransfer verbieten. Bedingt ja sagten die Parteien zur pränatalen Diagnostik, zur somatischen Gentherapie und zur Genomanalyse, allerdings nur auf freiwilliger Basis und unter der Bedingung, dass diese Untersuchungen nicht als Mittel zur Auswahl von Stellenbewerbern oder zur Risikoverminderung im Versicherungswesen missbraucht würden.
Die Forschung und Anwendung der Gentechnologie bei Tieren und Pflanzen wollten die FDP und die CVP grundsätzlich zulassen, doch müssten vom Bund verbindlich geregelte Sicherheitsvorschriften und Bewilligungs- und Kontrollverfahren den Schutz von Mensch, Tier und Umwelt garantieren. Die SP war auch hier zurückhaltender. Insbesondere forderte sie ein Anwendungs- und Forschungsmoratorium, um den Rückstand der Okosystemforschung aufzuholen, sowie den Erlass eines strengen Gentechnologiegesetzes, dessen zentrale Punkte die Umkehr der Beweislast und das Verursacherprinzip sein müssten [29].
Interessant war die Entwicklung in einzelnen Kantonen deshalb, weil hier die Bevölkerung erstmals die Gelegenheit erhalten wird, ihre Meinung zur Gentechnologie an der Urne kundzutun. Der Basler Grosse Rat verabschiedete ein sehr restriktives Gesetz zur Fortpflanzungsmedizin und unterstellte es mit knapper Mehrheit dem obligatorischen Referendum [30]. Im Kanton Thurgau wurde von einem Initiativkomitee bestehend aus EVP, GP, LdU und Nationalrepublikanischer Aktion Thurgau eine Gen-Initiative eingereicht, die jegliche gentechnologischen Eingriffe in die menschlichen Keimbahnen und damit ins Erbgut verhindern will [31].
 
[1] Projet intercantonal sur les indicateurs de santé, Aarau 1990. Siehe dazu auch SPJ 1989, S. 192.
[2] "Ärzte für den Umweltschutz": NZZ, 7.5.90. Ärzteprotest gegen Sommersmog: Woz, 26.10.90. NFPStudie: AT, 6.10.90; NF, 17.10.90; TW, 22.12.90. Zur Luftqualität allgemein und den dazu eingereichten parlamentarischen Vorstössen siehe oben, Teil I, 6 d (Qualité de l'air).
[3] Kundgebung: LNN und NZZ, 23.4.90. Studie SDK: Baz, 26.4.90; Bund, 31.7.90 (Ausserungen von NR Günter). Die Studie wurde anfangs September in Auszügen veröffentlicht: JdG und NZZ, 10.9.90. Jod-Prophylaxe: SGT, 16.8.90. Ausführungen BR: Amtl. Bull. StR, 1990, S. 861 f. Zum Strahlenschutz allgemein siehe oben, Teil 1, 6 a (Energie nucléaire).
[4] Verhandl. B. vers., 1990, IV, S. 38.
[5] Bund, 31.1.90; Schweiz.. Krankenkassen-Zeitung, Juni 1990. Den - wenn auch nicht ausschliesslichen - Zusammenhang zwischen steigenden Gesundheitskosten und zunehmender Ärztedichte belegte eine Studie der Universität Lausanne, welche die Entwicklung im Kanton Jura in den Jahren 1983-1987 untersucht: S. Rossini, Caisses-maladie et médecins, Lausanne 1989; Dém., 19.1. und 31.1.90. Für die Gesundheitskosten im internationalen Vergleich siehe die neueste OECD-Studie: Health care systems in transition, Paris 1990; Gesundheitspolitische Informationen GPI, 1990, Nr. 1, S. 9 und 31; NZZ, 30.3.90.
[6] Alternative Krankenkassenmodelle: siehe SPJ 1989, S. 210. Zu den möglichen Massnahmen gegen die fortschreitende Entsolidarisierung siehe unten, Teil I, 7 c (Krankenversicherung). Rationierungen im Gesundheitswesen: NZZ, 19.5.90; Bund, 24.8.90 und TA, 25.8.90 (Bericht über eine Tagung der Schweiz. Gesellschaft für Gesundheitspolitik, SGGP).
[7] Wallis: Lib., 28.6.90. Bern: Bund, 4.1., 21.12. und 22.12.90. Schaffhausen: SN, 31.8. und 5.9.90.
[8] TA, 21.4.90; NZZ, 29.5. und 8.6.90; Prüf mit, 1991, Nr. 1; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1987 f. (Einfache Anfrage Spoerry); Verhandl. B.vers, IV, S. 148 (Interpellation Huber). Siehe auch SPJ 1989, S. 193.
[9] Zahlen des Bundesamtes für Sozialversicherung für 1989: BZ, 14.1.91. 2. Spitex-Kongress: TA 8.9. und 10.9.90; Spitex-Petition: Amtl. Bull. StR, S. 177 ff. Siehe auch SPJ 1989, S. 192 f. Zum Spitex-Ausbau in den Kantonen siehe unten, Teil II, 5h.
[10] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 16551T.; SoZ, 23.9.90; BZ, 26.9.90; SGT, 27.9.90; LNN, 28.9.90. Siehe dazu auch SPJ 1989, S, 193. Das Anliegen einer zurückhaltenden MMR-Impfung wurde in einem Postulat Früh (fdp, AR) wieder aufgenommen (Verhandl. B.vers., 1990, S. 90).
[11] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1918; siehe auch Amtl. Bull. NR., 1990, S. 1999; BZ, 8.2.91.
[12] Amtl Bull. NR, 1990, S. 1998 f. Zürich: SoZ, 28.10.90; Ww, 8.11.90. Der FMH-Zentralvorstand wies darauf hin, dass heute bereits rund ein Drittel aller Allgemeinpraktiker eine oder mehrere alternativmedizinische Methoden anwende; die wissenschaftlich anerkannten unter ihnen sollten seiner Ansicht nach durch die Kranken- und Unfallversicherung gedeckt werden: TW, 22.6.90.
[13] Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 95.
[14] Gesch.ber., 1990, S. 131 und SPJ 1989, S. 193.
[15] Vr, 18.5.90; NZZ, 14.8.90; BaZ, 25.8.90 und 10.1.91; BZ, 28.11.90. Für die übrigen Kantone siehe unten, Teil II, 5h.
[16] BZ, 30.1.90; NZZ, 31.1., 5.2. und 8.2.90; DP, 22.2.90. Presse vom 21.4.90.
[17] TA, 25.1.90; BZ, 21.8.90. Siehe dazu auch SPJ 1989, S. 193.
[18] Motion Jaggi (sp, VD): Amtl. Bull. StR, 1990, S. 788 f.; SGT, 15.6.90; BZ, 3.10.90. Motion Dormann (cvp, LU): Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1249 f.
[19] Presse vom 30.1.91.
[20] Presse vom 3.7.90; TA, 19.7.90; "Strafbarkeit der vorsätzlichen Ansteckung mit dem HIV-Virus", in Zeitschrift für öffentliche Fürsorge, 87/1990, S. 157 ff. Für eine entgegengesetzte Auffassung, die bei einem Prozess vor einem Bezirksgericht im Kanton St. Gallen zum Zug kam, siehe Plädoyer, 1990, Nr. 5, S. 67 f.
[21] Presse vom 2.10.90; TA, 26.11.90. Motion Longet: Verhandl. B. vers., 1990, IV, S. 108.
[22] BBI, 1990, II, S. 225 ff. und III, S. 1781; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1585 ff. und 2497; Amtl. Bull. SIR, 1990, S. 922 ff. und 1102.
[23] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1272 f.; Presse vom 29.1.90; LNN, 2.2.90; Suisse, 16.2.90; Presse vom 20.3.90. Siehe auch SPJ 1989, S. 194.
[24] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 316; JdG, 21.1. und 21.4.90; NZZ und Suisse, 3.3.90; SoZ, 17.6.90. Rücktritt Roos: BZ und TA, 9.7.90. An der Spitze des BAG wurde Roos durch Thomas Björn Zeltner ersetzt (BZ, 28.6.90).
[25] Konferenz von Montreux: Presse vom 30.10 und 2.11.90. Anonyme Stichproben: BaZ, 19.3.90; NZZ, 20.3.90. Motion Günter: Verhandl. B. vers., 1990, IV, S. 483; LNN und Suisse, 12.2.90.
[26] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 477 ff.; Presse vom 14.2.90; TA, 18.6.90; Presse vom 21.6.90. Siehe auch SPJ 1989, S. 195 f. Stellungnahme der Eidg. Frauenkommission zu den Vorschlägen des StR: Frauenfragen, 1991, Nr. 1, S. 3 ff. Neue Richtlinien der Akademie der medizinischen Wissenschaften: TA, 9.6.90.
[27] Bund, 31.8.90; LNN, NZZ und TW, 15.11.90; Verhandl. B. vers., 1990, IV, S. 114. Zum Patentrecht siehe oben, Teil I, 4a (Strukturpolitik).
[28] Verhandl. B. vers., 1990, IV, S. 66 f. In Basel, wo Ciba-Geigy ein Biotechnikum errichten will, wurden die Diskussionen über mögliche Sicherheitsrisiken besonders intensiv geführt: Ww, 11.1.90; BaZ, 12.1. und 31.1.90; LNN, 10.1 1.90. Aber auch gegen den für 1991 von der Eidg. Forschungsanstalt in Changins (FR) geplanten ersten Freisetzungsversuch wurden schon früh Bedenken laut (TA, TW und Vr, 2.11.90). Für die Fragen der Gentechnologie bei der Revision des Umweltschutzgesetzes und der Lebensmittelverordnung siehe oben, Teil I, 4c (Produits alimentaires) und 6d (Législation sur la protection de l'environnement).
[29] CVP: Bio- und Gentechnologie. Ehrfurcht vor der Schöpfung!, Bern 1990; Presse vom 3.8.90. FDP: Politische Rundschau, 69/1990, Nr. 1/2; Presse vom 14.2. und 12.11.90. SP: Politische Grenzen der Gentechnologie, Bern 1990; U. Ulrich-Vögtlin, "Kein Zugriff auf die Schöpfung", in Rote Revue, 69/1990, Nr. 3, S. 14f.; Presse vom 3.3.90. Haltung der Gewerkschaften: Gewerkschaftliche Rundschau, 82/1990, S. 185 ff.
[30] BaZ, 3.3., 27.6., 19.9., 20.9., 27.9. und 19.10.90. Aus Kreisen der FDP und der LDP wurde beim Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde gegen das Gesetz eingereicht, da es mit seinem Verbot der In-vitro-Fertilisation nicht den 1989 vom Bundesgericht erlassenen Grundsätzen entspreche: BaZ, 27.11.90; siehe dazu auch SPJ 1989, S. 196. Die Abstimmung wird anfangs März 1991 stattfinden (BaZ, 28.12.90). Siehe auch Lit. Schiesser.
[31] SGT, 7.2. und 14.11.90.