Année politique Suisse 1991 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
Gesundheitspolitik
Der Bundesrat beauftragte das Bundesamt für Statistik (BfS), ab 1992 alle vier Jahre eine
Gesundheitsbefragung bei der Schweizer Bevölkerung durchzuführen. Im Blickpunkt sollen soziodemographische Merkmale stehen, der physische und psychische Gesundheitszustand, Behinderungen und ihre sozialen Auswirkungen, die Inanspruchnahme von Dienstleistungen im Gesundheitsbereich, gesundheitsbeeinflussende Verhaltensweisen, berufliche und soziale Lebensbedingungen, Versicherungsverhältnisse, Aspekte der Gesundheitsförderung sowie Gesundheitsprobleme von Jugendlichen und Rentnern. Als Rechtsgrundlage für diese Befragung – mit Stichproben bei mindestens 16 000 Freiwilligen – erliess der Bundesrat eine Verordnung, die auch den Datenschutz regelt und festschreibt, dass die Informationen nur für statistische Zwecke verwendet werden dürfen
[1].
Der Nationalfonds präsentierte erste Ergebnisse der grössten bisher in der Schweiz durchgeführten Untersuchung über einen allfälligen
Zusammenhang zwischen Atemwegserkrankungen und Luftbelastung ("Sapaldia"). Laut den Aussagen von mehr als 10 000 Personen in je vier ländlichen und städtischen Gemeinden leiden bis zu einem Drittel der Befragten unter einer Beeinträchtigung ihrer Atemfunktion bzw. unter einer erhöhten Anfälligkeit für Allergien der Atemwege. Eine differenzierte Auswertung dieser Zahlen nach den für die verschiedenen Orte typischen Schadstoff- und Klimadaten wird in den nächsten zwei Jahren erfolgen
[2].
Ständerat Jelmini (cvp, TI) zog seine parlamentarische Initiative für einen Artikel 24octies BV zurück, welcher ermöglichen sollte, dass der Bund zum Schutz der Gesundheit und zur Verhütung von Unfällen Vorschriften erlassen und den Vollzug regeln kann
[3].
Mehr als fünf Jahre nach der Auftragserteilung veröffentlichte das Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG) zwei
Informationsbroschüren über Chemie und Radioaktivität. Die Initiative dazu geht auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und das Chemieunglück in Schweizerhalle (BL) zurück. Die beiden Schriften enthalten Informationen über die Gefahren beim Austritt radioaktiver oder giftiger Substanzen in die Atmosphäre und geben Anweisungen, wie man sich bei einem Störfall zu verhalten hat. Ebenfalls fünf Jahre musste der Berner LdU-Nationalrat Günter warten, bis der Bundesrat dem ihm mit seiner Motion erteilten Auftrag nachkam und das EDI anwies, die Rechtsgrundlagen für eine breite Jodabgabe an die Bevölkerung im Fall einer atomaren Katastrophe auszuarbeiten
[4].
Zusammen mit Nationalrat Bonny (fdp, BE) reichte Ständerat Jelmini (cvp, TI) eine Motion ein, welche den Bundesrat beauftragt, die Leistungen des Schweizerischen Samariterbundes zugunsten des koordinierten Sanitätswesens, des Zivilschutzes und anderer Bereiche des Gesundheits- und Sozialwesens durch den Bund finanziell abzugelten. Der Nationalrat überwies die Motion in Form eines Postulates
[5].
Ein gut funktionierendes
Rettungswesen könnte in der Schweiz jedes Jahr rund 1500 Todesfälle vermeiden helfen. Dies schrieb die Vereinigung Schweizer Notärzte (VSN) in einer Pressemitteilung, in der sie die ihrer Ansicht nach gravierenden Mängel im Schweizer Rettungswesen anprangerte. Sie verlangte, die Rettungsdienste seien auf kantonaler und regionaler Ebene zu organisieren und koordinieren und müssten allgemein professioneller arbeiten. Gleichentags wie die Notärzte startete auch der Landesring eine breite Aktion zur Verbesserung des Rettungswesens. Im Parlament forderte Nationalrat Günter (ldu, BE) den Bundesrat in einem Postulat auf, sich bei den Sanitätsdirektoren der Kantone für eine Koordination und Verbesserung der Bodenrettung einzusetzen
[6].
Eine Motion Cavadini (fdp, TI) für höhere
Bundesbeiträge an die Krebsforschung wurde abgeschrieben, da vom Bundesrat in seiner Botschaft über die Förderung der Wissenschaft 1992-95 bereits berücksichtigt. Im Ständerat wurde eine analoge Motion Huber (cvp, AG) aus denselben Gründen zurückgezogen. Hingegen überwies die grosse Kammer diskussionslos ein von Baumberger (cvp, ZH) übernommenes Postulat Eisenring (cvp, ZH), welches den Bundesrat einlädt, seine Mittel im Bereich der Erforschung der Multiplen Sklerose (MS) deutlich zu erhöhen
[7].
Eine periodisch durchgeführte Meinungsumfrage ergab, dass immer mehr Schweizerinnen und Schweizer der Ansicht sind, ein unheilbar kranker Mensch solle den Zeitpunkt seines Todes wählen können. Zwischen 1974 und 1991 nahm der Anteil der Befürworter einer freiwilligen Euthanasie von 63% auf 70% zu, wobei sich die Männer leicht positiver dazu äusserten; die vehementen Gegner sanken von 22% auf 10%. Allerdings unterschied die Umfrage nicht zwischen aktiver und passiver
Sterbehilfe. Mit einer breitangelegten Pressekampagne kündigte die Vereinigung "Exit" an, im bernischen Aeschi werde im Herbst das erste Sterbehospiz der Schweiz eröffnet. Wegen der erbitterten Opposition der Anwohner musste sich "Exil" dann allerdings auf die Suche nach einem anderen Standort machen, den sie in Burgdorf (BE) fand
[8].
In ihrem Bericht über die Wirtschaftslage in der Schweiz widmete die
OECD ein umfangreiches Sonderkapitel den komplexen Problemen, die sich in der Schweiz bei den Bemühungen um eine
Reform des Gesundheitswesens stellen. Die Verfasser der Studie kamen zum Schluss, dass die medizinische Versorgung in der Schweiz ein sehr hohes Qualitätsniveau erreicht hat und dass sich die damit verbundenen Gesamtkosten pro Kopf der Bevölkerung im Rahmen vergleichbarer Industrieländer bewegen. Sie warnten aber vor den Kostenschüben, welche die steigende Überalterung der Bevölkerung auslösen wird, sowie vor den Folgen der praktisch inexistenten Konkurrenz unter den Anbietern von medizinischen Leistungen
[9].
Einem der Kritikpunkte des OECD-Berichtes, nämlich der
mangelhaften überkantonalen Zusammenarbeit, rückten die Welschschweizer Kantone konkret zu Leibe. Sie schlossen eine Konvention ab, mit welcher kantonale und ausserkantonale Patienten bei den Tarifen der allgemeinen Abteilung der Spitäler gleichstellt werden. Damit kann unter anderem eine rationellere Nutzung kostenintensiver Einrichtungen erreicht werden. Mit ihrem Entschluss, inskünftig enger zusammenarbeiten zu wollen, leisteten auch die Universitätsspitäler von Lausanne und Genf einen Beitrag zur Vermeidung von teuren Doppelspurigkeiten
[10].
Mit ein Grund für die steigenden Kosten im Gesundheitswesen sind die von verschiedenen Untersuchungen belegten
überflüssigen Spitalleistungen besonders im Bereich der Chirurgie und Gynäkologie. Gesamthaft ist in der Schweiz die Spitalaufenthaltsdauer für den gleichen Krankheitsfall zwei bis dreimal höher als etwa in den USA. Fachleute aus dem Pflegebereich vertraten deshalb die Ansicht, es liessen sich mit Sicherheit Leistungen abbauen, ohne dass die Patientinnen und Patienten Schaden nähmen. Sie wiesen aber auch darauf hin, dass, solange die Patienten im Spital weniger bezahlen müssen als bei ambulanter Behandlung und Pflege zuhause (Spitex), es schwierig sein dürfte, sie zum Verzicht auf Spitalleistungen zu bewegen
[11]. In einem überwiesenen Postulat regte Nationalrätin Segmüller (cvp, SG) an, die Verordnung zum Krankenversicherungsgesetz in dem Sinn zu ändern, dass Versicherte bei ambulanten Operationen von Franchise und Selbstbehalt befreit werden, dass also gleiche Bedingungen für stationäre und ambulante Eingriffe geschaffen werden
[12].
In Beantwortung einer Interpellation Piller (sp, FR) zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen versprach Bundespräsident Cotti, dem Parlament noch vor Ablauf des Jahres Überbrückungsmassnahmen zur Kostendämpfung im Gesundheitssektor vorzulegen. Der schliesslich angenommene dringliche Bundesbeschluss wird, da er primär die Krankenversicherung betrifft, im entsprechenden Kapitel (unten, Teil I 7c / Krankenversicherung) behandelt
[13].
Mit dem Inkrafttreten des neuen Preisüberwachungsgesetzes erhielt der
Preisüberwacher im Bereich der Medikamente
mehr Kompetenzen. Neu kann er auch die kassenpflichtigen Medikamente der sogenannten Spezialitätenliste unter die Lupe nehmen. Dies störte die beiden Basler Ständeräte Miville (sp, BS) und Rhinow (fdp, BL), welche in einer gemeinsam unterzeichneten Interpellation den Bundesrat baten, den Forschungsstandort Schweiz nicht durch übertriebene staatliche Kontrollmechanismen zu gefährden. In seiner Antwort anerkannte Bundespräsident Cotti durchaus die Verdienste der Basler Pharma-Industrie, wies aber darauf hin, dass bei der Bekämpfung der Kostenexpansion im Gesundheitswesen alle Beteiligten ihren Beitrag zu leisten hätten
[14].
Ein
neues Gesetz soll die Ein- und Ausfuhr von Heilmitteln regeln. Der Bundesrat beauftragte das EDI, bis Mitte 1992 einen EG-konformen Gesetzesentwurf über die Grenzkontrolle für Medikamente auszuarbeiten. Arzneimittel sind bezüglich Registrierung und Handel der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) unterstellt; vom Ausland eingeführte, Medikamente werden dabei mangels Überprüfung an der Grenze nur unvolllständig erfasst. Eine Ausfuhrkontrolle soll verhindern, dass Heilmittel, die hier verboten oder zurückgezogen worden sind, in die Dritte Welt ausgeführt werden
[15].
Fünf Monate nach dem erstmaligen Auftreten des
Rinderwahnsinns (BSE) in der Schweiz erliess die IKS vorbeugende Massnahmen gegen die nicht völlig auszuschliessende Ansteckung des Menschen über Medikamente mit Rinderbestandteilen. Produktion und Handel von fünf Arzneimitteln, die Extrakte von Rinderinnereien enthalten, wurden bis auf weiteres verboten
[16].
1991 sind in der Schweiz
615 neue Fälle von Aids-Erkrankungen registriert worden, ein Drittel mehr als im Vorjahr. Immer häufiger sind auch Heterosexuelle von der Immunschwächekrankheit betroffen. Seit 1983, dem Beginn der Erfassung von Aids-Erkrankungen, starben 1378 Menschen an den Folgen der HIV-Infektion, davon allein 429 im Berichtsjahr. Aufgrund der gemeldeten positiven Bluttests und der angenommenen Dunkelziffer schätzte das BAG den Anteil der HIV-Positiven an der Gesamtbevölkerung auf zwei bis vier Promille, womit die Schweiz nach wie vor Spitzenreiter in Europa ist
[17].
Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms "Die Gesundheit des Menschen in seiner heutigen Umwelt" (NFP 26) widmeten sich verschiedene interdisziplinäre Untersuchungen dem Ausmass, den Mechanismen und den Auswirkungen der
gesellschaftlichen Ausgrenzung von HIV-Infizierten und Aids-Kranken. Fazit der Studien war, dass dieses Thema nur zusammen mit der wachsenden Intoleranz gegenüber den Randgruppen ganz allgemein angegangen werden kann
[18]. Im November lief eine vom BAG und der Stiftung zur Förderung der Aidsforschung unterstützte Studie zur Frage an, ob bei HIV-Positiven. Ausbruch und Verlauf der Krankheit von virusunabhängigen Faktoren beeinflusst wird. Im Zentrum des Interesses stehen zusätzliche Faktoren, welche die Funktionsweise des Immunsystems beeinträchtigen können, wie etwa Stress, Konsum von Drogen oder Alkohol, mangelhafte Ernährung und Rauchen
[19].
In Beantwortung einer Einfachen Anfrage Steffen (sd, ZH) bekräftigte der BR seine Auffassung, wonach restriktive Massnahmen gegen bestimmte Kategorien von einreisenden Ausländern (HIV-Screening, Einreisesperren) als ineffizient und diskriminierend einzustufen wären und deshalb für die Schweiz nicht in Frage kommen
[20].
Zur Diskussion steht auch immer wieder die
Stellung der HIV-Positiven und Aids-Kranken in den Sozialversicherungen. In seiner Stellungnahme zu einer Motion von Feiten (sp, BS) verwies der Bundesrat auf das im Vorjahr vom Eidgenössischen Versicherungsgericht gefällte Urteil, wonach eine HIV-Infektion als Krankheit im Rechtssinne zu bezeichnen sei. HIV-Positive würden demzufolge bei Vorbehalten oder der Verweigerung von Zusatzversicherungen nicht speziell diskriminiert, sondern lediglich wie andere Kranke behandelt. Er bekräftigte erneut seinen Wunsch nach einem Obligatorium in der Krankenversicherung, womit die Vorbehalte bei der Grundversicherung dahinfallen würden, und erinnerte daran, dass im BVG Mindestleistungen ohne Vorbehalt garantiert sind. Im überobligatorischen Bereich und bei den Zusatzversicherungen lehnte er spezifische Ausnahmen für HIV-Positive und Aids-Kranke hingegen ab, da dies nach seiner Auffassung eher noch zu einer weiteren Ausgrenzung der von Aids Betroffenen führen könnte. Auf seinen Antrag hin wurde die Motion nur als Postulat angenommen
[21].
Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) und sein Blutspendedienst übernahmen die Mitverantwortung für die rund 200 bis 300 Bluter und Transfusionsempfänger, die durch
HIV-verseuchte Blutkonserven mit dem Virus angesteckt worden sind. Zusätzlich zum bestehenden Notfall-Fonds wurden Rückstellungen von 1 Mio Fr. für Aids-Betroffene getätigt. Das SRK betonte, dass sich in der Schweiz im Vergleich zum Ausland bedeutend weniger HIV-Infektionen auf diesem Weg ereignet hätten. Ein Grossteil der Infizierungen sei vor Mitte 1985 erfolgt, zu einem Zeitpunkt also, da noch keine Möglichkeit bestand, sämtliche Blutspenden auf eine eventuelle HIV-Positivität hin zu kontrollieren
[22].
Die
Stop-Aids-Kampagnen des BAG zeigen Wirkung: Der Gebrauch von Präservativen ist seit 1987 sprunghaft angestiegen; zudem verzichten offenbar immer mehr Jugendliche auf häufigen Partnerwechsel. Zu diesem Schluss kam der dritte Evaluationsbericht über die Wirksamkeit der getroffenen Massnahmen. Mit Genugtuung vermerkte der Bericht zudem, dass die wichtigsten Übertragungswege des HI-Virus (Sexualkontakte und Spritzentausch) in der ganzen Bevölkerung gut bekannt sind. Was die Drogenabhängigen betrifft, so scheinen sie von der gefährlichen Mehrfachverwendung gebrauchter Spritzen abzusehen, sofern entsprechendes sauberes Material zugänglich ist. Die Gesundheitsbehörden erachteten deshalb die freie Spritzenabgabe an Drogensüchtige für nötiger denn je
[23].
Zur besseren
Aufklärung der bei uns lebenden Ausländer legten die Eidgenössische Kommission für Ausländerfragen (EKA) und das BAG gemeinsam eine neue Aids-Informationsbroschüre in 14 Sprachen auf, um möglichst vielen fremdsprachigen Bevölkerungsgruppen die grundlegenden Kenntnisse zur Aids-Prävention in ihrer Muttersprache näherzubringen. Zudem lancierte das BAG zusammen mit der Aids-Hilfe Schweiz (AHS) drei auf die jeweiligen kulturellen und religiösen Bedürfnisse abgestimmte Kampagnen zur gezielten Information der türkischen, spanischen und portugiesischen Bevölkerungsgruppen in unserem Land
[24].
Von den rund 3500 Frauen und Männern, die durchschnittlich die Schweizer
Strafanstalten belegen, sind zwischen 10% und 15% HIV-positiv. Wie aus einer Studie des BAG hervorging, sind die Strafgefangenen aber über Aids nur ungenügend informiert. Das BAG rügte, dem Ansteckungsrisiko über gebrauchte Spritzen, die in Haftanstalten erwiesenermassen zirkulierten, werde zu wenig Rechnung getragen und die Häftlinge würden kaum zum Thema "safer sex" aufgeklärt
[25].
Gleich wie im Ständerat war auch im Nationalrat die Notwendigkeit der Schaffung von Leitplanken im Bereich der Gentechnologie unbestritten. Ebenso klar war auch, dass der Rat die Beobachterinitiative "gegen Missbräuche der Fortpflanzungsund Gentechnologie beim Menschen" nicht unterstützen und sich für den vom Ständerat modifizierten bundesrätlichen Gegenvorschlag aussprechen würde. Die Vorarbeiten der nationalrätlichen Kommission hatten aber eine weitere Verschärfung der Vorlage bereits angedeutet. Ein Minderheitsantrag I – vorwiegend, aber keinesfalls ausschliesslich aus dem rot-grünen Lager – welcher für ein gänzliches Verbot der Befruchtung ausserhalb des Mutterleibes (IvF) eintrat, wurde zwar abgelehnt, dafür passierte aber ein Minderheitsantrag II, mit dem die IvF insofern eingeschränkt wird, als nur so viele Eizellen im Reagenzglas befruchtet werden dürfen, wie sofort eingepflanzt werden können, um so die Missbrauchsmöglichkeiten mit Embryonen einzuschränken und das ethische Problem der bewussten Zerstörung keimenden Lebens zu vermeiden. In der Debatte zeigten sich vor allem die CVP und die SP in der Frage der IvF zutiefst gespalten.
Die Minderheit I wollte zudem den ausser-humanen Bereich in einem separaten Verfassungsartikel regeln – und zwar bedeutend restriktiver als dies die Kompetenznorm des ständerätlichen Gegenvorschlags, welche die Nationalratskommission noch etwas ausgeweitet hatte, vorsah. Insbesondere sollten Eingriffe in das Keimplasma von Tieren und Pflanzen untersagt, die Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen, abgesehen von begründeten Ausnahmen, verboten werden sowie für Lebewesen keine Erfinderpatente gelten. Obgleich das hier nahezu geschlossene rot-grüne Lager über weite Strecken von den Bauernvertretern unterstützt wurde, unterlag dieser Antrag schliesslich doch deutlich
[26].
Im Anschluss an die Beratungen überwies der Rat eine Motion der vorberatenden Kommission, die den Bundesrat beauftragt, eine Vorlage zu unterbreiten, welche die
Anwendung von Genomanalysen regelt und insbesondere die Anwendungsbereiche definiert sowie den Schutz der erhobenen Daten gewährleistet. Nationalrätin Ulrich (sp, SO) zog daraufhin ihre analoge parlamentarische Initiative zurück. Eine parlamentarische Initiative der inzwischen aus dem Rat ausgeschiedenen Abgeordneten Fetz (poch, BS) für ein Moratorium im Bereich der Gentechnologie wurde dagegen klar abgelehnt. Zwei Kommissionspostulate zur Forschung über die Auswirkungen der Gentechnologie und zur Bildung einer Kommission für gentechnische Forschung wurden diskussionslos überwiesen. Gleich wie der Ständerat beschloss auch der Nationalrat, einer Standesinitiative des Kantons St. Gallen Folge zu geben, welche verlangt, dass der Bund unverzüglich Vorschriften über die DNS-Rekombinationstechniken in Medizin, Landwirtschaft und Industrie erlassen soll. Zwei dringliche Interpellationen (Grüne Fraktion und Baerlocher, poch, BS) zur Freisetzung gentechnisch veränderter Kartoffeln in der eidgenössischen Forschungsanstalt von Changins (VD) wurden nach dieser reichbefrachteten Debatte nicht mehr diskutiert
[27].
Der Ständerat bereinigte – nicht ganz oppositionslos – die Differenzen im Sinn des Nationalrates und überwies anschliessend einstimmig die Motion der Nationalratskommission für ein Genomanalysengesetz. In der Schlussabstimmung wurde die Vorlage in der kleinen Kammer klar angenommen, im Nationalrat etwas weniger deutlich, da ihr die Liberalen, welchen die einschränkenden Regelungen zu weit gingen, die Zustimmung verweigerten
[28].
Obgleich das
Initiativkomitee es lieber gesehen hätte, wenn die Bestimmungen über Tiere und Pflanzen dem Volk in einer separaten Vorlage unterbreitet worden wären,
zog es
sein Begehren nach einigen Wochen Bedenkzeit zurück. Es begründete seinen Entscheid damit, dass die wesentlichen Anliegen im Gegenvorschlag berücksichtigt seien und die komplexe Diskussion vereinfacht werde, wenn nur eine Vorlage zur Abstimmung gelange
[29].
Ein Postulat Nussbaumer (cvp, SO), welches den Bundesrat ersuchte, möglichst bald einen Überbrückungsbeschluss bis zur Inkraftsetzung der Folgegesetzgebung im Bereich der Gentechnologie vorzulegen, wurde auf Antrag des Bundesrates abgelehnt
[30].
In
Baselstadt konnte sich erstmals der Souverän
in einer Abstimmung direkt zur Fortpflanzungstechnologie äussern. In der Annahme, das Bundesgericht werde sich nach Vorliegen eines positiven Volksentscheides mit der Unterstützung eines Rekurses schwerer tun als 1989 im Fall des Kantons St. Gallen, hatte der Grosse Rat im Vorjahr beschlossen, das neue, sehr restriktive Gesetz über die Reproduktionsmedizin dem obligatorischen Referendum zu unterstellen. Das neue Gesetz, welches nur noch die künstliche Befruchtung im Mutterleib mit den Samenzellen des künftigen sozialen Vaters erlaubt, wurde mit 62,5% Ja-Stimmen überraschend deutlich angenommen
[31]. Nachdem das Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerden gegen die restriktive Regelung im Kanton St. Gallen gutgeheissen hatte, will die Regierung sowohl die IvF wie auch die Befruchtung mit dem Samen eines Fremdspenders wieder zulassen. Die neue Gesetzesvorlage ist nur noch in einem Punkt restriktiv, es sollen nämlich nur Ehepaare von der künstlichen Befruchtung Gebrauch machen können. Im weiteren geniessen Samenspender keine Anonymität mehr, das Kind hat das Recht, über seine Abstammung Auskunft zu erhalten
[32].
Durch die Gentechnologie, wie sie heute in der Schweiz angewendet wird, fühlen sich laut einer Umfrage 43% der Frauen bedroht; bei den Männern ist dies nur bei 34% der Fall. Eine weitere
Umfrage zeigte, dass ein Unterschied zwischen Deutschschweiz und Romandie besteht: 43% der befragten Deutschschweizer und Deutschschweizerinnen sind sehr skeptisch gegenüber den Anwendungen der Gentechnologie. Demgegenüber antworteten 51°/o der befragten Personen in der Westschweiz, sie trauten den Wissenschaftern in Genfragen genügend Eigenverantwortung zu
[33].
Das umstrittene
Biotechnikum wird nun doch nicht in Basel gebaut. Trotz vorliegender Baubewilligung gab
Ciba-Geigy bekannt, sie habe sich angesichts der anhaltenden Opposition von WWF und "Basler Appell gegen die Gentechnologie" für einen alternativen Standort im benachbarten Elsass entschieden. Die Umweltorganisationen und ein Teil der SP kritisierten diesen Entscheid heftig, da damit in allernächster Nähe der Basler Bevölkerung eine nicht ungefährliche Anlage entstehe, deren Sicherheitsüberprüfung nun den Schweizer Behörden entzogen sei. Die bürgerlichen Parteien ihrerseits beschuldigten die Linke und die Grünen, durch ihre beharrliche Verweigerungsstrategie genau dies provoziert und ausserdem dem Werkplatz Schweiz enorm geschadet zu haben
[34].
[1] AS, 1991, S. 2285 ff.; NZZ, 17.10.91.
[2] NZZ und 24 Heures, 23.1.92; Bund, 24.1.92; SPJ 1990, S. 205. Zu den Massnahmen gegen den Sommersmog siehe oben, Teil I, 6d (Qualité de l'air).
[3] Verhandl. B. vers., 1991, V, S. 39. Im SPJ 1990, S. 206 wurde die parl. Initiative fälschlicherweise StR Jagmetti (fdp, ZH) zugeschrieben.
[4] Bulletin des BAG, S. 252; Bund, 25.4. und 14.12.91. Siehe auch oben, Teil I, 6a (Energie nucléaire).
[5] Amtl. Bull, NR, 1991, S. 1968 f. Im StR wurde die Motion abgeschrieben, da der Urheber aus dem Rat ausschied (Verhandl. B.vers., 1991, VI, S. 126).
[6] Das Postulat wurde nach dem Ausscheiden Günters aus dem Rat abgeschrieben: Verhandl. B.vers., 1991, VI, S. 79; SGT, 16.8.91.
[7] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 753 f. und 2499; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 378.
[8] BZ, 23.1. und 1.3.91; SZ, 17.2.91; SGT, 25.3.91; JdG, 27.3.91; LNN, 30.3. und 25.7.91; Bund, 4.7. und 4.10.91; TA, 28.8.91; siehe dazu auch die Berichte über ein Symposium zur Sterbehilfe, welches "Exit" anfangs Jahr durchführte (Bund und TA, 21.1.91).
[9] NZZ, 13.9.91; SHZ, 3.10.91; Gesundheitspolitische Informationen (GPI), 1991, Nr. 4, S. 29 f. Für eine weitere internationale Vergleichsstudie, welche die Schweiz miteinbezieht und neben den Sachleistungen auch Einkommensleistungen wie Lohnfortzahlung bei Erkrankungen sowie die Selbstzahlungsquote berücksichtigt, siehe Lit. Schneider.
[10] Presse vom 9.10. und 19.11.91.
[11] Bund, 23.8.91; BaZ, 24.8.91; BZ, 10.9.91. Für Versuche mit ambulanter Chirurgie siehe TA, 28.11.91.
[12] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2504.
[13] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 784 ff.
[14] Amtl. Bull StR, 1991, S. 17 ff.; BZ, 24.8.91; LNN, 12.9.91. Zum Preisüberwachungsgesetz siehe oben, Teil I, 4a (Wettbewerb).
[15] BZ, 12.3.91. Siehe auch Gesundheitspolitische Informationen (GPI), 1991, Nr. 4, S. 40 und SPJ 1990, S. 208.
[16] BaZ, 27.3. und 8.4.91; JdG, 15.4.91; SGT, 24.4.91. Siehe dazu auch oben, Teil I, 4c (Production animale).
[17] Bulletin des BAG, 1992, S. 18 ff.; Presse vom 29.1.92. Eine Motion Günter (]du, BE) zur systematischen Erfassung von Aids bei Rekruten wurde in der Wintersession abgeschrieben, da der Urheber aus dem Rat ausgeschieden war (Verhandl. B.vers., 1991, VI, S. 78).
[18] NZZ, 10.10.91; Suisse, 1.12.91.
[20] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1422 f.
[21] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2478 ff. (die Motion war ursprünglich von Longet (sp, GE) eingereicht worden); Presse vom 24.5.91; LNN, 15.6.91. Vgl. SPJ 1990, S. 208.
[22] Presse vom 25.11.91. Für das Restrisiko, das bei Bluttransfusionen immer noch besteht, siehe Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2186 und 2282.
[23] Dritter Evaluationsbericht der Aids-Präventionsstrategie in der Schweiz 1989/90, Bern 1991; Bulletin des BAG, S. 261 ff.; Presse vom 7.5.91. Das BAG unterstützte ein dreimonatiges Pilotprojekt im Kanton St. Gallen, wo in den ländlichen Gebieten versuchsweise sauberes Spritzenmaterial in Apotheken und Drogerien, bei Amten sowie in einzelnen Kiosken und Zigarettenautomaten abgegeben wurde (LNN, 8.8.91).
[24] NZZ, 5.4. und 30.10.91.
[25] Lit. Harding e.a.; Bulletin des BAG, 1991, S. 10 ff.; BüZ und Suisse, 23.1.91 ; Aids lnfolhek, 1991, Nr. 3, S. 1 ff. und 20 ff.
[26] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 556 ff. und 588 ff.; siehe auch SPJ 1990, S. 209 ff. Aus Gründen der inneren Logik beschlossen die Räte, die Arbeiten am zu revidierenden Patentgesetz zu sistieren (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1288 f.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 890 f.).
[27] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 636 ff. Für die Freisetzung von genmanipulierten Kartoffeln in Changins siehe auch Amtl. Bull. NR, 1991, S. 536 und 2046 f. sowie oben, Teil I, 4c (Produits alimentaires). Angesichts der politischen Diskussionen gaben sich auch die am meisten von der Gentechnologie und der Fortpflanzungsmedizin betroffenen medizinischen und chemisch-industriellen Standesorganisationen neue Richtlinien: siehe dazu NZZ, 10.1. und 22.2.91; Presse vom 2.3.91. Die drei im Vorjahr eingereichten Motionen Baerlocher für ein Verbot gentechnisch manipulierter Organismen bezw. für eine erweiterte Umweltverträglichkeitsprüfung wurden in der Wintersession abgeschrieben, da ihr Urheber aus dem Rat ausgeschieden war (Verhandl. B. vers., 1991, VI, S. 56 f.).
[28] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 450 ff. und 815; Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1288 und 1408 f.
[29] Der Schweizerische Beobachter, Nr. 17, 16.6.91.; Presse vom 16.8.91.
[30] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1986 f.
[31] BaZ, 7.2., 9.2., 25.2. und 4.3.91.
[32] SGT, 30.8.91. Siehe SPJ 1989, S. 196.
[33] 24 Heures, 6.4.91; Presse vom 8.7.91.
[34] LNN,4.2.und 3.7.91; Ww, 7.2.91; BZ, 12.2.91; BaZ, 10.7., 24.8. und 14.9.91; NZZ, 23.7. und 12.9.91; WoZ, 6.9.91; Presse vom 17.12.91. Siehe auch SPJ 1990, S. 210.
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