Année politique Suisse 1991 : Enseignement, culture et médias / Culture, langues, églises
 
Kirchen
Die christlichen Kirchen der Schweiz begingen das Jubiläumsjahr der Eidgenossenschaft als gemeinsames "Halljahr". Im Sinn der 1989 stattgefundenen ökumenischen Versammlung "Frieden in Gerechtigkeit" bereitete die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen der Schweiz die Halljahrsgebote in Form einer Botschaft auf. Hauptthemen waren dabei die Überwindung von Armut besonders von Frauen in der Schweiz, ein Schuldenerlass zugunsten der ärmsten Länder der Welt, eine gerechte Welthandelsordnung verbunden mit einer Erhöhung der Entwicklungshilfe um 50% (Gerechtigkeit), die Förderung der gewaltlosen Konfliktbewältigung, die Schaffung eines Gemeinschaftsdienstes als frei wählbare Alternative zum Militärdienst und die Einschränkung bzw. das Verbot des Waffenexports (Frieden) sowie die Senkung des Energieverbrauchs um jährlich 2% zur Verhinderung einer Klimakatastrophe (Bewahrung der Schöpfung) [43].
Aus Anlass des Jubiläums der Eidgenossenschaft führten die christlichen Konfessionen aller Sprachregionen am Eidgenössischen Dank-, Buss- und Bettag erstmals eine gemeinsame Liturgie durch. Die Feier, welche auch die Juden und die Muslime miteinbezog, fand in Anwesenheit von Vertretern des Bundes, der Kantone und der Kirchen in Sarnen (OW) statt. Die Form der Veranstaltung – Gottesdienst und Diskussion über das Verhältnis von Christentum und Politik – wurde auch in den einzelnen Kirchgemeinden und Pfarreien aufgenommen und soll über das Jubiläumsjahr hinaus wirken [44].
Eine Repräsentativbefragung zum Thema "Kirche in der Schweiz" liess klar den Wunsch nach Trennung von Kirche und Staat und nach Nichteinmischung der Kirchen in die politischen Angelegenheiten zum Ausdruck kommen. Während die rechtliche Abgrenzung von Kirche und Staat bei Katholiken und Protestanten, bei Deutsch- und Westschweizern etwa gleich stark befürwortet wurde, äusserten die Romands besonders deutlich, dass sie eine Intervention der Kirchen in die Belange der Tagespolitik ablehnen. Eine schlechte Prognose stellte die Bevölkerung der Kirche der Zukunft: rund 70% der Befragten vertraten die Ansicht, die Bedeutung der Kirchen werde in der Schweiz immer mehr abnehmen [45].
Zu einer entgegengesetzten Meinung über das politische Engagement der Kirchen kamen die Autoren des Berichtes "Kirche – Gewissen des Staates?", den die Bernische Regierung ausgehend von einer Motion aus dem Jahr 1987 in Auftrag gegeben hatte. Die Verfasser kamen zum Schluss, dass die Kirche zu politischen Stellungnahmen nicht nur berechtigt, sondern – zumindest aus theologischer Sicht – sogar verpflichtet sei. Zum Vorwurf, die Kirchen betrieben Parteipolitik, so etwa in der umstrittenen Asylfrage, zeigten die Autoren auf, dass im Vordergrund der offiziellen kirchlichen Verlautbarungen ethische Grundwerte wie die Achtung der Menschenwürde und die dazugehörige Gewährleistung der Menschenrechte sowie die internationale Solidarität stehen, die alle biblisch vielfach abgestützt sind. Das Problem bestehe nicht darin, meinten sie, dass sich die Kirche oder einzelne ihrer Vertreter kritisch zur Politik äusserten, sondern darin, dass das lange Zeit selbstverständliche Mindestmass an allgemeinem, auch politischem Konsens in immer mehr Bereichen zerfalle [46].
Die verschiedenen zum Tessiner Kruzifixstreit hängigen Interpellationen wurden von den eidgenössischen Räten behandelt. Dass sich zumindest der Nationalrat nicht in diese heikle rechtliche Frage einmischen will, wurde klar, als er den Antrag des Interpellanten Ruckstuhl (cvp, SG) auf Diskussion der bundesrätlichen Antwort ablehnte. Etwas länger wurde die Angelegenheit im Ständerat aufgrund einer Interpellation Danioth (cvp, UR) debattiert. Insbesondere wurde die Frage aufgeworfen, wie weit Bundesrat und Parlament bei der Beurteilung ähnlicher Fälle an das Urteil aus Lausanne gebunden wären, und ob es sich beim Kruzifix um ein allgemein christliches oder ein spezifisch katholisches Symbol handle. Bundesrat Koller bekräftigte noch einmal die Auffassung der Regierung, wonach es ihr nicht zustehe, Entscheide des Bundesgerichts zu kritisieren, vertrat aber dennoch die Meinung, das Urteil müsse sich auf Klassenzimmer öffentlicher Schulen beschränken und dürfe keinesfalls eine Verbannung der christlichen Symbole aus dem öffentlichen Leben bedeuten [47].
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Umstrittene Bischofsweihen
Die Schweizer Katholiken sahen in der Ernennung des Bischofs von Sitten, Heinrich Schwery, zum Kardinal einen Vertrauensbeweis Roms in die Schweizer Kirche und einen Hinweis darauf, dass der Papst deren Anliegen ernst nehme [48].
Dies scheint allerdings nicht für die Kontroverse um den äusserst umstrittenen, dem Opus Dei nahestehenden Churer Bischof Wolfgang Haas zu gelten, dessen Einsetzung führende Kirchenjuristen nach wie vor für widerrechtlich halten. Die Schweizer Bischöfe wurden mehrfach im Vatikan vorstellig und gaben ihrer Sorge über die unhaltbaren Zustände in der Diözese Chur Ausdruck, die durchaus zu einer Kirchenspaltung führen könnten. Der Papst schickte zwar einen Vermittler in die Schweiz und kündigte konkrete Schritte an, liess aber keinen Zweifel daran, dass mit einer Abberufung Haas nicht gerechnet werden könne [49].
Die Ernennung eines Schweizer Botschafters in Sondermission beim Vatikan muss zweifelsohne in Zusammenhang mit der Affäre Haas gesehen werden. Die Schweiz stellte bislang für den Heiligen Stuhl einen Ausnahmefall dar: Im Zuge des Kulturkampfes war es 1870 zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Vatikan gekommen, ein Zustand, der sich erst 1920 mit der Wiedereröffnung einer Nuntiatur wieder halbwegs normalisierte. Die Schweiz hatte es jedoch nie für nötig erachtet, ihrerseits einen Botschafter beim Heiligen Stuhl zu ernennen, so dass die Beziehungen in beiden Richtungen über den in Bern akkreditierten Nuntius liefen. Noch im Vorjahr hatte es der Bundesrat bei der Behandlung eines Postulates Portmann (cvp, GR) abgelehnt, aufgrund der Entwicklungen im Bistum Chur, die er als innerkatholisches Problem einstufte, eine Normalisierung der diplomatischen Beziehungen in Erwägung ziehen zu wollen. Im Berichtsjahr kam der Bundesrat nun aber offenbar doch zur Einsicht, dass angesichts der Spannungen zwischen dem Vatikan und den Schweizer Katholiken ein ständiger Kontakt durch intensiv gestaltete diplomatische Beziehungen für beide Seiten nur von Nutzen sein könne. Mit der Ernennung eines Botschafters in Sondermission, der zwischen Bern und Rom pendeln wird, verfügt die Regierung nun über ein diplomatisches Instrument, um den Vatikan umgehend, direkt und auf politischer Ebene über die Stimmung in der Schweiz zu informieren [50].
Ende März starb in Martigny (VS) der Traditionalist und Alt-Erzbischof Marcel Lefebvre, der wegen seiner Gründung eines integristischen Priesterseminars in Ecône (VS) und der Weihung von vier Bischöfen 1988 von Rom exkommuniziert worden war [51].
 
[43] Lit. Arbeitsgemeinschaft; NZZ, 5.1. und 2.12.91. Siehe auch SPJ 1989, S. 247 f. Für die Thesen, welche die Kommission für soziale Fragen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) zur Zukunft der Schweiz vorstellte, siehe oben, Teil I, 1a (Zukunftsperspektiven).
[44] Presse vom 15.8., 14.9. und 16.9.91.
[45] SZ, 7.9.91; Vr., 5.11.91. Eine Umfrage unter den Unterwalliser Katholiken zeigte ebenfalls eine wachsende Distanz zu den kirchlichen Institutionen (Lit. Etat; NF, 8.1.91; Ww, 2.5.91; Bund, 14.5.91). Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Umfrage unter den Genfer Protestanten (JdG, 20.9.91).
[46] Lit. Dellsperger; Bund, 23.10. und 14.11.91; BZ, 29.11.91.
[47] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 784 f. und 809 f.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 164 ff. Siehe dazu auch SPJ 1990, S. 270.
[48] Presse vom 30.5., 29.6. und 1.7.91.
[49] NZZ, 15.3., 13.6., 24.8., 27.8. und 17.10.91; Vat., 25.3., 5.4., 25.5. und 6.7.91; Presse vom 7.6., 29.7., 6.9. und 28.11.91; TA, 3.8., 26.8., 27.8., 5.12. und 13.12.91; LNN, 1.2., 26.4., 4.9., 26.11. 2.12. und 13.12.91; BüZ und LZ, 27.11.91; Presse vom 12.12.91; Bund, 18.12.91. In den Kantonen, die zum Bistum Chur gehören, traten seit dem Amtsantritt von Haas rund doppelt so viele Katholiken aus der Kirche aus wie in den Jahren zuvor (Bund, 30.3.92).
[50] NZZ, 16.11.91; Bund, 11.1.92. Siehe dazu auch SPJ 1991, S. 271. Mit der Ernennung eines Botschafters in Sondermission erfüllte der BR auch den Wunsch des Tessiner FDP-Nationalrats Pini, der die Regierung in einem in der Sommersession eingereichten Postulat ersucht hatte, die Möglichkeiten einer Normalisierung der diplomatischen Beziehungen mit dem Vatikan zu prüfen (Verhandl. B.vers., 1991, VI, S. 99).
[51] Presse vom 26.3.91.