Année politique Suisse 1992 : Politique sociale / Groupes sociaux
Flüchtlinge
In der Flüchtlingsproblematik zeichnete sich eine markante Wende ab, indem erstmals seit 1985 – dem Beginn der elektronischen Erfassung der Wanderung im Asylbereich – mehr Asylbewerber aus-, denn einreisten. Nur noch rund 18 000 Gesuche wurden gestellt, 57% weniger als im Vorjahr. Demgegenüber reisten 4900 Personen freiwillig aus, 100 wurden nach Abschluss des Verfahrens in einen Drittstaat und 4000 in ihr Heimatland ausgeschafft; von den rund 17 300 als verschwunden Gemeldeten hat nach Einschätzung des BFF ein Grossteil die Schweiz ebenfalls verlassen. Als Erklärung für den Rückgang nannte das BFF die Auswirkungen der Asylgesetzrevision und die Personalaufstockungen, welche eine zügigere Erledigung der Pendenzen erlaube. Das Arbeitsverbot während der ersten drei Monate und die verschlechterte Arbeitsmarktlage hätten ausserdem dazu geführt, dass die Schweiz für Personen, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen, an Attraktivität verloren habe.
Bei den neuen Gesuchstellern waren Bürgerinnen und Bürger von
Ex-Jugoslawien mit 6300 Personen oder 35% am stärksten vertreten. Die nächstgrössten Anteile stellten Tamilen (2800 oder 16%) und türkische Staatsangehörige (1800 oder 10%). 1100 oder 6% stammten aus Somalia. Erstmals seit Jahren stieg die durchschnittliche Anerkennungsquote wieder an (4,5% gegenüber 3,0% im Vorjahr). Von den Asylbewerbern aus dem ehemaligen Jugoslawien erhielten 4,4% Asyl (Vorjahr 2,1 %), während bei den Tamilen die Anerkennungsquote von 3,5 auf 1,9% sank. Von den Asylsuchenden aus der Türkei wurden 12,1% als Flüchtlinge anerkannt (Vorjahr 7,2%)
[16].
Zu den "traditionellen" Asylbewerbern gesellten sich im Berichtsjahr unzählige Menschen, welche den Kriegsgreueln im ehemaligen Jugoslawien entflohen. Sie fanden
unter verschiedenen Titeln entweder gruppenweise oder individuell vorläufige Aufnahme. Schätzungsweise 60 bis 70 000 weilten als Touristen in der Schweiz oder fanden, nachdem der Bundesrat anfangs Juli die Visabestimmungen für Kriegsflüchtlinge aus Bosnien-Herzegowina teilweise gelockert hatte, Unterschlupf bei Verwandten und Freunden. Zusammen mit den Niedergelassenen und Jahresaufenthaltern sowie jenen Saisonniers, denen die Aufenthaltsbewilligung aufgrund des Krieges verlängert wurde, lebten
im Jahresmittel rund 230 000 Bürgerinnen und Bürger aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Schweiz
[17].
Für
Gewaltflüchtlinge – gemäss BFF-Direktor Arbenz rund 50% der Gesuchsteller – sieht das schweizerische Asylgesetz grundsätzlich keine Aufnahmemöglichkeit vor. Zwar waren 1990 bei der dritten Asylgesetzrevision Sonderbestimmungen für diese Kategorie von Flüchtlingen erwogen worden, doch hatten sie schliesslich keinen Eingang in den dringlichen Bundesbeschluss gefunden. Unter dem Eindruck des Flüchtlingselendes in Ex-Jugoslawien drängte der Ständerat nun in der Herbstsession auf die Schaffung eines Status für Gewaltflüchtlinge und überwies ohne Gegenstimme den entsprechenden Punkt einer Motion seiner Staatspolitischen Kommission. Gegen den Willen des Bundesrates verabschiedete die kleine Kammer mit grosser Mehrheit auch den zweiten Punkt der Motion, welcher eine gesetzliche Regelung der Rückkehrhilfe für Gewaltflüchtlinge verlangt
[18].
Bundespräsident Ogi musste sich den Vorwurf gefallen lassen, einen sowohl diplomatischen wie menschlichen Faux-pas begangen zu haben, als er bei einem Interview mit dem österreichischen Fernsehen erklärte, die jugoslawische Zivilbevölkerung trage Mitschuld am Bürgerkrieg, die Schweiz könne den Flüchtlingen aus innenpolitischen Gründen die Grenzen nicht öffnen und sei nicht gewillt, mit der Aufnahme von Vertriebenen und der später fällig werdenden Aufbauhilfe des kriegszerstörten Landes praktisch zweimal Hilfe zu leisten. Sowohl in der Schweiz wie in Österreich zeigte man sich entsetzt über diese Äusserungen, worauf sich Ogi öffentlich für seinen verbalen Ausrutscher entschuldigte und ihn herunterzuspielen suchte
[19].
Im Laufe des Sommers entschloss sich der Bundesrat, 800 aus Bosnien vertriebene Kinder und deren Mütter vorläufig in der Schweiz aufzunehmen (Kinderaktion). Als die Not in Ex-Jugoslawien immer grösser wurde, taten die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern, Nationalratspräsident Nebiker (svp, BL) und Ständeratspräsidentin Meier (cvp, LU) einen für schweizerische Politusanzen eher ungewohnten Schritt und appellierten in einem gemeinsamen Brief an den Bundesrat, angesichts des immer grauenhafteren Elends eine humanitäre Geste zu machen und unbürokratisch die Grenzen für eine weitere Gruppe von Flüchtlingen zu öffnen. Obwohl in den Ferien weilend, reagierte der Bundesrat unerwartet rasch und anerbot sich, weitere 1000 Personen, die in Zügen zwischen Kroatien und Slowenien blockiert waren, in die Schweiz einreisen zu lassen (Zugsaktion)
[20].
An der
internationalen Konferenz, welche sich Ende Juli unter dem Vorsitz von Bundesrat Koller in Genf mit dem Schicksal der Kriegsvertriebenen in Ex-Jugoslawien befasste, wurde – vor allem auf Druck Frankreichs – beschlossen, primär Hilfe vor Ort zu leisten und nur in Ausnahmefällen Flüchtlingen die Weiterreise nach Westeuropa zu gestatten. Die Schweiz schloss dennoch nicht aus, mittelfristig weitere 5000 bis 10 000 Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien vorläufig aufzunehmen. Ende Jahr kündigte der Bundesrat an, dass weitere 5000 bosnische Kriegsvertriebene im Lauf des Winters in die Schweiz kommen könnten. In erster Linie sollten freigelassene Kriegsgefangene sowie Frauen und Kinder aufgenommen werden. Zuvor hatte der Bundesrat bereits dem Familiennachzug für die in der Kinder- und der Zugsaktion aufgenommenen Flüchtlinge zugestimmt
[21].
Entgegen ihrer vorberatenden Kommission, welche einer entsprechenden Standesinitiative des Kantons Freiburg noch knapp zugestimmt hatte, lehnte die grosse Kammer – gleich wie 1989 der Ständerat – eine
Globallösung für die seit mehreren Jahren in der Schweiz lebenden Asylbewerber und ihre Familien ab. Sie folgte dabei der Argumentation von Bundesrat Koller, wonach eine Globallösung unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgleichheit problematisch sei, der bundesrätlichen Stabilisierungspolitik im Ausländerbereich widerspreche und die Attraktivität der Schweiz für neue Gesuchsteller erhöhen könnte. Koller betonte, die Initiative sei durch die in den letzten Jahren erteilten humanitären Bewilligungen überholt, und er rief in Erinnerung, dass sich die Kantonsregierungen wiederholt gegen eine Globallösung ausgesprochen hätten
[22].
Ebenfalls zurückgewiesen wurde die zentrale Forderung einer Standesinitiative des Kantons Zürich, welche vom Bundesrat eine Stabilisierung der Asylbewerberzahlen verlangte. Zwei weitere Punkte der Initiative – Beschleunigung des Verfahrens und Präventivmassnahmen im Bereich der Aussenpolitik, des Aussenhandels und der Entwicklungspolitik – wurden als erfüllt abgeschrieben
[23].
Der
Ständerat lehnte seinerseits drei asylpolitische Standesinitiativen ab. Die Aargauer Initiative verlangte die Inhaftierung von Asylbewerbern nach der Eröffnung des negativen Asylentscheides, die sofortige Ausschaffung illegal Eingereister und die volle Konfiszierung der Löhne arbeitender Asylsuchender. Nach Meinung des Ständerates würden diese Bestimmungen teilweise Verfassungs- und Völkerrecht verletzen. Die Initiative des Kantons Luzern wollte eine Verfahrensstraffung, Wirtschaftshilfe an Auswanderungsgebiete und mehr Spielraum für die Kantone in Härtefällen. Hier wurden die ersten beiden Punkte als erfüllt erachtet und der dritte deutlich verworfen, da damit eine einheitliche Vollzugspraxis nicht mehr gewährleistet wäre. Die Thurgauer Initiative schliesslich verlangte eine Verstärkung der Grenzkontrollen sowie eine Quotenregelung für Asylbewerber. Auf einstimmigen Antrag der vorberatenden Kommission wurde der erste Punkt des Begehrens als erfüllt abgeschrieben und der zweite, da ebenfalls gegen Völkerrecht verstossend, diskussionslos âbgelehnt
[24].
Mit dem Hinweis darauf, dass sein Vorstoss für eine "vernünftige" Asylpolitik – im Klartext die umgehende Ausschaffung von illegal eingereisten Asylbewerbern – im Widerspruch zu Art. 4 BV, zur EMRK und zur Flüchtlingskonvention stehe und sich nur realisieren liesse, wenn die Schweiz ihr Grundrechtsverständnis vollständig ändern bzw. aufgeben würde, gab der Nationalrat einer parlamentarische Initiative Ruf (sd, BE) diskussionslos keine Folge
[25].
Die
Volksinitiative der SD "für eine vernünftige Asylpolitik" kam mit 118 971 gültigen Unterschriften zustande. Nach dem Initiativtext sollen illegal eingereiste Asylsuchende umgehend und ohne Beschwerdemöglichkeit aus der Schweiz weggewiesen werden. Weil diese Forderung klar gegen völkerrechtliche Verträge verstösst, verlangt das Volksbegehren gleich noch die Kündigung der entsprechenden Flüchtlings- und Menschenrechtskonventionen
[26].
Von ihrer Zürcher Kantonalsektion in Zugzwang gebracht,
beschloss auch die SVP eine Volksinitiative "gegen die illegale Einwanderung" – übrigens das erste Volksbegehren in ihrer Parteigeschichte überhaupt – zu lancieren. Auf Asylgesuche illegal Eingereister soll nicht mehr eingetreten werden, wobei aber, im Gegensatz zum Wortlaut der SD-Initiative, in jedem Einzelfall überprüft werden muss, ob der Asylbewerber abgeschoben werden darf. Um die wirtschaftliche Attraktivität der Schweiz zu senken, will die SVP zudem eine staatliche Lohnverwaltung einführen. Das Beschwerdeverfahren soll weiter gestrafft werden, nicht aber gänzlich abgeschafft, wie dies die SD möchten. Die SD zeigten sich enttäuscht, dass die SVP eine Parallelinitiative lancierte anstatt ihre mitzutragen. Die SVP begründete ihren Alleingang damit, dass die SD-Initiative völkerrechtswidrige und rechtsstaatlich unzulässige Elemente enthalte
[27].
Wegen der dominierenden Rolle, die gewisse Ausländergruppen – vor allem Kosovo-Albaner –, welche sich unter dem Status von Asylbewerbern in der Schweiz aufhalten, im Zürcher
Drogenmarkt spielen, wurde verschiedentlich der Ruf laut, straffällig gewordene Asylbewerber bis zu ihrer Ausschaffung zu internieren. Dies verlangten unter anderem der sozialdemokratische Zürcher Stadtpräsident sowie die Vorsteher der kantonalen und städtischen Polizeibehörden Zürichs. Im Parlament fand diese Forderung insbesondere in zwei Motionen ihren Niederschlag – Iten (fdp, ZG) im Ständerat und Heberlein (fdp, ZH) im Nationalrat – welche beide als Postulat angenommen wurden. Bundesrat und BFF lehnten das Ansinnen vorerst vehement ab, lenkten aber, da das Problem zusehends die Öffentlichkeit bewegte, schliesslich ein und wollten derartige Massnahmen zumindest nicht mehr ausschliessen
[28].
Eine Arbeitsgruppe der Regierungsparteien unter Nationalrat Engler (cvp, AI) machte für die
Verzögerungen bei der Erledigung von hängigen Asylgesuchen primär die Kantone verantwortlich, welche – mit Ausnahme von Uri – die vorgeschriebene Frist für die Erstbefragung (20 Tage) nicht einhielten. Die Arbeitsgruppe schlug vor, der Bund solle den säumigen Kantonen – unter ihnen Wallis mit 138 Tagen einsamer Spitzenreiter – die Fürsorgebeiträge streichen. Angesichts der Stimmung in der Bevölkerung hielt es die Arbeitsgruppe für wichtig, dass die Asylverfahren wenn immer möglich innert sechs Monaten abgeschlossen werden. Obgleich sie darauf hinwies, dass dies nicht möglich sei, wenn die Asylbewerber alle ordentlichen und ausserordentlichen Rechtsmittel ausschöpften, sah sie dennoch keinen Anlass für eine Änderung der gesetzlichen Grundlagen. Zusätzlich zu einem schnelleren Tempo in den Kantonen ortete die Gruppe weitere Möglichkeiten einer allgemeinen Beschleunigung bei der vorrangigen Behandlung neuer Gesuche oder bei der konsequenten Anwendung der Nichteintretensentscheide im Falle von "safe countries"
[29].
Bei der Beratung des Geschäftsberichtes des Bundesrates bemängelte die Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates erneut die Asylpraxis der Bundesverwaltung. Sie rügte unter anderem, dass sich aufgrund zahlreicher Aufsichtseingaben die Frage stelle, ob insbesondere bei der Rückschaffung von Kurden das Non-Refoulement-Prinzip gewahrt werde. Ebenfalls kritisiert wurden die summarischen Begründungen bei der Ablehnung von Asylgesuchen sowie die sofortige Ausschaffung bei Nichteintretensentscheiden. Besonders im letzten Punkt fragte sich die GPK, ob die Praxis des EJPD nicht eine unzulässige Anwendung des Botschaftsentwurfs anstelle der beschlossenen Gesetzesrevision von 1990 darstelle. Zudem .wurden die auf den 1.1.1992 verfügten Einschränkungen bei den humanitären Bewilligungen in Frage gestellt. Die Parlamentarier akzeptierten jedoch die Erklärungen des zuständigen EJPD, so dass in diesem Bereich der Geschäftsbericht des Bundesrates mit deutlichem Mehr angenommen wurde
[30].
Immer mehr setzt sich die Einsicht durch, dass
Frauen spezifische Asylgründe geltend machen können sollten. Noch bevor die massiven Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen im ehemaligen Jugoslawien ins Bewusstsein der Öffentlichkeit drangen, gab das Eidg. Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann eine Studie über Frauenverfolgung und Flüchtlingsbegriff in Auftrag. Der Bundesrat – in der Fragestunde der Herbstsession darauf angesprochen – sah sich bisher aber noch nicht veranlasst, hier die Asylpraxis zu ändern. Er erachtet es als genügend, Frauen, die eine geschlechtsspezifische Verfolgung geltend machen, durch Beamtinnen befragen zu lassen, sowie die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des BFF und der Kantone vermehrt für frauenspezifische Aspekte der Verfolgung zu sensibilisieren
[31].
Amnesty International und die Schweizerische Flüchtlingshilfe wiederholten ihre
Kritik an der
Safe-country-Praxis des Bundesrates. Insbesondere zeigten sie sich besorgt darüber, dass auch Algerien, Indien und Rumänien in die Liste der verfolgungssicheren Staaten aufgenommen wurden, obschon in diesen Ländern Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung seien und in Algerien der Ausnahmezustand gelte. Der Bundesrat trug dieser Kritik teilweise Rechnung und aberkannte Ende Februar Algerien den Safe-country-Status mit der Feststellung, dass sich die Menschenrechtslage seit den abgebrochenen Wahlen anfangs Januar 1992 deutlich verschlechtert habe. Damit werden Asylgesuche von Algeriern wieder im ordentlichen Individualverfahren geprüft
[32].
Im Sommer wurde bekannt, dass aufgrund einer nicht publizierten Weisung des BFF Asylbewerber
ohne gültige Ausweispapiere bereits an der Empfangsstelle abgewiesen werden. Das BFF begründete dies mit dem Umstand, dass viele Asylbewerber ihre Papiere willentlich vernichteten, um so einer Ausschaffung möglichst lange zu entgehen oder zu verschleiern, dass sie bereits in einem anderen europäischen Land ein Asylgesuch gestellt hätten. Das BFF wehrte die Kritik der Hilfswerke an dieser Massnahme ausserdem mit dem Hinweis ab, die GPK des Nationalrates habe der Konformität dieser Weisung mit dem Asylgesetz zugestimmt. Doch auch das UNHCR meldete Bedenken an, dass diese Praxis gegen das Non-Refoulement-Prinzip verstossen könnte
[33].
Die Suche nach einem Nachfolger für BFF-Direktor Arbenz gestaltete sich weiterhin schwierig. Nachdem er den Arbeitsvertrag mit Arbenz um weitere sechs Monate bis Ende Juni 1993 verlängert hatte, wurde der Bundesrat im Dezember in der Person von
Urs Scheidegger, FDP-Nationalrat und Solothurner Stadtammann, doch noch fündig. Der
neue BFF-Direktor, der sein Amt anfangs Juli 1993 antreten wird, engagierte sich in der Vergangenheit verschiedentlich im Bereich der Beziehungen zur Dritten Welt sowie zu Osteuropa und ist Mitglied entsprechender Gremien wie etwa der beratenden Kommission für internationale Entwicklungszusammenarbeit
[34].
Die mit der Asylgesetzrevision von 1990 beschlossene
unabhängige Asylrekurskommission (ARK) nahm am 1. April ihre Arbeit auf. Damit werden letztinstanzliche Asylentscheide nicht mehr wie bis anhin vom Beschwerdedienst des EJPD, sondern von der ARK gefällt, welche – dotiert mit rund 200 Stellen – das grösste spezielle Gerichtsorgan der Schweiz ist. Die ARK soll jährlich rund 20 000 Dossiers behandeln. Da der grösste Teil des Personals aus dem bisherigen Beschwerdedienst des EJPD stammt, wurde deren Unabhängigkeit in Frage gestellt. Nach sechsmonatiger Amtszeit ernteten vor allem die Kammern VI und VII scharfe Kritik von den Hilfswerken. Die Klagen über ihre summarische und unseriöse Arbeit, welche nur darauf hinauslaufe, die Entscheide des BFF unbesehen zu bestätigen, gelangten bis zum UNO-Flüchtlingshochkommissariat, welches sich vornahm, der Angelegenheit nachzugehen
[35].
Entgegen früheren Ankündigungen verzichtete der Bundesrat darauf, mit Dringlichkeitsrecht
Armeeformationen gegen illegal einreisende Asylbewerber einzusetzen. Er führte aus, die entschärfte Lage im Asylbereich lasse diesen Schritt und damit die Regelung auf dem ordentlichen Gesetzgebungsweg zu, wollte aber nicht ausschliessen, dass in einer dramatisch verschärften Notlage nicht doch Dringlichkeitsrecht zum Zug kommen könnte. Der Nationalrat teilte offenbar diese Sicht der Dinge indem er eine Motion Ruf (sd, BE) für einen grenzwächterisch-militärischen Schutz der Grenzen ablehnte, ein Postulat Gysin (fdp, BL) für einen möglichen Einsatz von Truppen zur Verstärkung des Grenzwachtkorps hingegen annahm
[36].
Unterstützung durch Militär und Zivilschutz sah auch der Planungsbehelf des Bundes vor, welcher im Laufe des Sommers an alle Kantone verschickt wurde. Das Planungsdokument wurde von der Arbeitsgruppe für ausserordentliche Lagen im Flüchtlingsbereich erarbeitet, die vom Bundesrat 1991 eingesetzt worden war, und befasst sich mit der Bewältigung grosser Flüchtlingsströme. Ab 6000 Schutzsuchenden pro Monat ist der Einsatz von Zivilschutzeinheiten vorgesehen, ab 10 000 würden Armee-Einheiten für Betreuung, Ordnungsdienst und Transportaufgaben aufgeboten
[37].
Bei der europäischen Koordinierung des Asylwesens wurde der von Bundesrat Koller schon lange gewünschte Durchbruch erzielt und den Efta-Staaten mit einem Parallelabkommen der Zugang zum
Erstasylabkommen der Europäischen Gemeinschaft zugesagt. An der TREVI-Konferenz in Lissabon, an welcher die Schweiz nur Beobachterstatus hatte, versuchte Koller, seinen europäischen Partnern die Idee einer zentral verwalteten Datei der Fingerabdrücke von Asylbewerbern beliebt zu machen, für welche die Schweizer Delegation auch gleich eine Machbarkeitsstudie vorlegte. Mit der Erfassung aller Personendaten und der eindeutigen Identifizierung von Asylbewerbern in einem einzigen Grosscomputer möchten die beteiligten Staaten Mehrfachgesuche von Asylsuchenden unterbinden
[38].
[16] Presse vom 16.1. und 13.2.93. Zu den Gründen für das "Verschwinden" von Asylbewerbern siehe TA, 4.2.92.
[17] BZ, 2.7. und 15.12.92; TA, 14.8.92; Bund, 3.12.92. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2738 f. Zu den vorläufig Aufgenommenen gesellte sich noch eine Gruppe von 450 kroatischen und bosnischen Kriegsgefangenen, die später in die USA oder Kanada weiterreisen sollen (Presse vom 13.2.93). Im Sommer einigten sich Bund und Kantone darauf, dass die vorläufig aufgenommenen Flüchtlinge nach dem gleichen Schlüssel wie die Asylbewerber auf die Kantone verteilt werden (Presse vom 6.8.92).
[18] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 1018 ff. Siehe dazu auch Lit. Kälin / Achermann; BZ 22.5. und 9.7.92; NQ, 28.7.92. Der Umstand, dass die Kriegsvertriebenen aus Jugoslawien nach dem ANAG und nicht nach dem Asylgesetz aufgenommen wurden, führte, v.a. im Fürsorgebereich, zu Kompetenzkonflikten zwischen den Kantonen und dem Bund (BZ, 2.5.92). Vgl. auch SPJ 1990, S. 236.
[19] Presse vom 25.6. und 26.6.92.
[20] Presse vom 19.-21.7.92; NQ, 22.7.92.
[21] NQ, 25.7. und 28.7.92; Presse vom 30.7. und 31.7.92; BZ, 3.12. und 15.12.92. Zur Genfer Konferenz siehe auch die Ausführungen BR Kollers in Amtl. Bull. StR, 1992, S. 1023 f. Bis Ende Jahr hatte die Schweiz insgesamt rund 45 Mio Fr. für die Hilfe vor Ort gesprochen, welche mehrheitlich durch das Schweizerische Katastrophenhilfekorps geleistet wurde (NZZ, 2.12.92).
[22] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 194 ff.
[23] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 202 ff.
[24] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 1012 ff und 1221 f. Mehr Spielraum bei der Gewährung von humanitären Bewilligungen wünschten auch die welschen Kantone, welche ganz generell für eine liberalere Asylpraxis eintreten: LNN, 18.7.92. Siehe auch SPJ 1991, S. 247.
[25] Amtl. Bull. NR, 1992, S 208 ff. Eine Richtlinienmotion Ruf, der BR sei zu beauftragen, die Ausgaben im Asylbereich auf jährlich 500 Mio Fr. zu begrenzen, wurde ebenfalls abgelehnt (a.a.O., S. 1163 ff.). Für die Stellungnahme des BR zu mehreren Interpellation aus dem Bereich der Asylpolitik siehe a.a.O., S. 641 f. und 654 ff.
[26] BBl, 1992, V, S. 864. Zur völkerrechtlichen Problematik dieser Initiative siehe Bund, 22.5.92. Vgl. auch SPJ 1991, S. 241.
[27] BBl, 1992, II, S. 1318 f. Presse vom 18.1.92; TA, 20.2.92. Siehe auch SPJ 1991, S. 241. Wie bereits bei der zürcherischen, ging die Bündner SVP auch bei der nationalen Initiative auf Distanz, da sie der Ansicht war, auch dieser lnitiativtext verstosse gegen völkerrechtliche Vereinbarungen (BüZ, 20.1.92).
[28] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 1020 f ; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2737 f.; TA, 1.7, 19.8 und 15.9.92; NZZ, 3.9 und 6.11.92. Bei der Behandlung dieser beiden Vorstösse sowie bei seiner Antwort auf verschiedene Interpellationen und Anfragen zu diesem Thema versuchte der BR immer wieder, die Straffälligkeit von Asylbewerbern insbesondere im Bereich des Drogenhandels zu relativieren (Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1287, 2246 f. und 2780 ff.).
[30] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1 169 ff. Für Kritik an der Rückschaffungspraxis des Bundesbehörden siehe auch eine Interpellation Zwahlen (cvp, BE) (a.a.O., S. 1248 f.).
[31] Lit. Hausamman; Bund, 6.5.92; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1936.
[32] Presse vom 7.2. und 20.2.92. Siehe auch SPJ 1991, S. 246.
[33] 24 Heures, 8.7.92; NQ, 14.10.92.
[34] BZ, 10.11.92; Bund, 17.11.92 ; TA, 19.12.92; Presse vom 23.12. und 24.12.92.
[35] NZZ, 28.2.92; Bund, 10.4. und 11.9.92; BZ, 17.10.92.
[36] Amtl. Bull. NR, S. 730 ff.; LNN, 14.4.92; Bund, 22.5.92.
[38] NQ, 26.2.92; NZZ, 2.5., 13.6. und 24.6.92; BZ, 17.6. und 23.7.92; TA, 23.7.92; LNN, 25.7.92. Siehe dazu auch BR Koller in der Fragestunde der Sommersession: Amtl. Bull. NR, 1992, S. 995 f. Die TREVI-Konferenzen sind ein informelles Organ der Justiz- und Innenminister der EG. Vgl. dazu auch SPJ 1991, 247 f. sowie TA, 10.6.92 und NZZ, 2.12.92.
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