Année politique Suisse 1992 : Politique sociale / Groupes sociaux
Familienpolitik
Mit Zustimmung des Bundesrates überwiesen beide Kammern bei der Beratung der Legislaturplanung 1991-1995 eine
Richtlinienmotion der ständerätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit, welche die Regierung beauftragt, die gesetzlichen Grundlagen für einen stärkeren
Schutz von Mutterschaft und Familie vor allem in den Bereichen der Sozialversicherung und der Besteuerung bereitzustellen und mit den weiteren Bestrebungen für die Gleichberechtigung der Geschlechter zu koordinieren
[60].
Einer parlamentarischen Initiative Fankhauser (sp, BL) für gesamtschweizerisch gleich ausgestaltete und von der Erwerbstätigkeit der Eltern abgekoppelte
Kinderzulagen sowie für den Anspruch auf analog zu den Ergänzungsleistungen zur AHV/IV ausgestaltete Bedarfsleistungen für Familien und insbesondere alleinerziehende Eltern wurde gegen den Widerstand einer bürgerlichen Kommissionsminderheit knapp Folge gegeben. Die Initiantin hatte geltend gemacht, dass Kinder heute das Familienbudget beträchtlich belasten und selbst normalverdienende Eltern in die Nähe der Armutsgrenze bringen können; zudem seien 26 unterschiedliche Kinderzulageregelungen angesichts einer möglichen europäischen Integration kaum angebracht. Die Gegner einer Bundeslösung führten vor allem föderalistische Sensibilitäten ins Feld, um ihre Ablehnung einer gesamtschweizerischen Familienpolitik zu begründen
[61].
Das
Eheschliessungs- und Scheidungsrecht aus dem Jahr 1907 soll den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen angepasst werden. Im April gab der Bundesrat einen entsprechenden Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung. Ziel des Revisionsentwurfes ist es, auf individuelle Bedürfnisse und Verhältnisse flexibel eingehen zu können. Eine wichtige Neuerung ist der Verzicht auf eine Schuldzuweisung bei Auflösung der Ehe; die Konventionalscheidung soll die Regel werden. Damit Ehen nicht übereilt geschieden werden, sind eine zweimalige Anhörung der Ehepartner durch den Richter sowie eine zweimonatige Bedenkzeit vorgesehen. Auch die finanziellen Regelungen gehen nicht mehr von einer Schuldzuweisung aus. Die Unterhaltsbeiträge bemessen sich aufgrund der Aufgabenteilung während der Ehe sowie nach Einkommen, Vermögen, Dauer der Ehe, Alter der Partner und Aussichten auf den beruflichen Wiedereinstieg. Ansprüche auf Pensionskassengelder, die während der Ehe erworben wurden, sollen hälftig geteilt werden. Das gemeinsame Sorgerecht für die Kinder soll bei gegenseitigem Einverständnis der Eltern möglich werden
[62].
Im Rahmen der Vernehmlassung verlangten die Homosexuellen Arbeitsgruppen der Schweiz (HACH) die
Verankerung des Rechts auf Ehe für gleichgeschlechtliche Paare im Zivilgesetzbuch, da sonst homosexuelle Lebensgemeinschaften erbrechtlich sowie in anderen Fällen, in denen das Recht an den Status der Ehe anknüpft – beispielsweise bei fremdenpolizeilichen Bestimmungen –, gegenüber den heterosexuellen Paaren diskriminiert würden
[63].
Die Volksinitiative "für gleiche Rechte von Frau und Mann bei der Wahl des Familiennamens (
Familiennameninitiative)" kam nicht zustande. Bereits 1990 war eine analoge Initiative an der notwendigen Unterschriftenzahl gescheitert. Auch im Parlament hatte die Forderung nach mehr Freiheit bei der Wahl des Familiennamens kaum Chancen. Bei der Behandlung einer Motion Haering Binder (sp, ZH) erinnerte Bundesrat Koller daran, dass der Gesetzgeber seinerzeit bei der Revision des Eherechts unter allen Umständen an der Einheit des Familiennamens für Ehegatten und Kinder festhalten wollte, obgleich er sich bewusst war, dass dies dem Gleichheitsgebot in der Bundesverfassung nicht entspricht. Aus diesem Grund wurde die Motion auf Antrag des Bundesrates nur als Postulat angenommen
[64].
Für die Revision des Sexualstrafrechts, welche den Begriff der Vergewaltigung in der Ehe einführte, siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).
Aufgrund der Fortschritte in der Aufklärung und der Verhütung ist zwischen 1970 und 1990 die Zahl der jährlichen Schwangerschaftsabbrüche um 20% 'von rund 16 000 auf ca. 13 000 gesunken. Nachdem nun auch die bisher konservativen Kantone Luzern und Zug erste Schritte zur Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs eingeleitet haben, verfolgen nur mehr die Kantone Uri sowie Ob- und Nidwalden eine harte Haltung in dieser Frage
[65].
Rund 1000 Ärzte und Ärztinnen ersuchten den französischen Hersteller, die Zulassung für das bereits seit einigen Jahren zur Diskussion stehende orale Abtreibungsmittel RU-486 bei der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) zu beantragen. Aufgrund vehementer fundamentalistischer Angriffe hatte die Herstellerfirma darauf verzichtet, das Medikament aus eigenem Antrieb auf den europäischen Markt zu bringen
[66].
Im Vorjahr hatte der Nationalrat den Bundesrat mit einer Motion verpflichten wollen, die notwendigen Gesetzesrevisionen für eine vorbehaltlose
Ratifizierung der UNO-Konvention über die Rechte der Kinder vorzulegen. Dies hätte vor allem Anpassungen in der Ausländer- und Asylgesetzgebung zur Folge gehabt, da die Konvention den Grundsatz der Familienzusammenführung bekräftigt. Weil die zeitraubenden Gesetzgebungsarbeiten die Ratifikation unnötig verzögern würden, gab der Ständerat dem Antrag des Bundesrates statt und überwies die Motion lediglich als Postulat. Die kleine Kammer betonte dabei allerdings nachdrücklich, dass sie nun auch tatsächlich eine rasche Ratifikation bzw. in nächster Zeit die Botschaft des Bundesrates erwartet. Die Regierung kam dieser Aufforderung nach und gab Mitte September ihre diesbezüglichen Vorschläge in die Vernehmlassung
[67].
Das Schicksal der
illegal anwesenden Saisonnier-Kinder wurde weiter thematisiert. Auf rund 10 000 werden sie geschätzt, weitere Zehntausende leben aufgrund von schweizerischen Gesetzesbestimmungen von einem oder beiden Elternteilen getrennt. Saisonniers können grundsätzlich ihre Familien nicht dauernd in die Schweiz mitnehmen, Jahresaufenthalter müssen nachweisen, dass ihre Wohnung gross genug und das Einkommen ausreichend ist für den Unterhalt der Familie. Deshalb drängten in der Kinderarbeit engagierte Kreise immer wieder darauf, die Schweiz müsse die UNO-Konvention über die Rechte der Kinder möglichst rasch und vorbehaltlos unterzeichnen, da nur so eine rasche Besserstellung der betroffenen Familien erreicht werden könne
[68].
In seiner Haltung gegenüber den illegal anwesenden Saisonnier-Kindern und deren Einschulung nahm der Vorsteher des EJPD eine bedeutend weniger harte Haltung ein als zwei Jahre zuvor. Offenbar beeindruckt von der kompromisslosen Stellungnahme der kantonalen Erziehungsdirektoren, welche die Meinung vertreten hatten, das Recht auf Bildung sei ein Verfassungsrecht, welches den Fremdenpolizeirechten vorgehe, gab er bekannt, dass aus humanitären Gründen sowie im Hinblick auf einen möglichen EWR-Beitritt eine gewisse Flexibilität angezeigt sei, weshalb der Bundesrat die Kantone aufgefordert habe, die möglichen Handlungsspielräume auszunützen
[69].
1987 hatte die Luzerner CVP-Nationalrätin Stamm mit einem Postulat einen Bericht über Kindsmisshandlungen angeregt. Die vom Bundesrat 1988 eingesetzte Arbeitsgruppe legte im September ihren umfassenden Bericht vor. Das Ausmass der Kindsmisshandlungen sei erschreckend, hielt die Gruppe fest. Ohrfeigen, Prügel, Schläge mit Gegenständen oder Androhung körperlicher Gewalt gehören offenbar immer noch zu den gängigen Erziehungsmustern. Ganz besonders betroffen sind auch Säuglinge und Kleinkinder bis zu zweieinhalb Jahren. Die Arbeitsgruppe äusserte sich auch zur sexuellen Ausbeutung von Kindern, welche in den letzten Jahren vermehrt thematisiert worden ist. Schätzungsweise 40 000 Kinder – vorab Mädchen – werden in der Schweiz pro Jahr sexuell belästigt oder misshandelt. Dabei ist nur in rund 10% ein Unbekannter der Täter.
Die
Empfehlungen der Arbeitsgruppe stellten eine ganze Palette von Massnahmen zur Diskussion, die auf verschiedenen Ebenen zu ergreifen wären. Die UNO-Konvention über die Rechte der Kinder sollte ohne Vorbehalte ratifiziert und in die Praxis umgesetzt werden. Durch eine Verfassungsrevision sollten Körperstrafe und erniedrigende Behandlung von Kindern inner- und ausserhalb der Familie verboten und eine Kinderschutzbestimmung eingeführt werden. Der Bund müsste mehr Kompetenzen für die Prävention von Kindesmisshandlungen erhalten. Zudem sollten Ombudsleute für Kinder und interdisziplinär dotierte Sozial- und Medizinaldienste geschaffen werden. Gefordert wurde auch die bessere Unterstützung der Familien und die Professionalisierung der Vormundschaftsbehörden. Ahnliche Forderungen stellten auch die 1991 gegründete und unter Aufsicht des EDI stehende Stiftung "Kind und Gewalt", die Gesellschaft schweizerischer Kinderärzte sowie der Schweizerische Kinderschutzbund
[70].
Für den Bericht der Eidg. Kommission für Frauenfragen über die familienexterne Kinderbetreuung in der Schweiz siehe oben, Stellung der Frau.
[60] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 355; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 1104 ff. Die Einführung einer Mutterschaftsversicherung ist auch in der Legislaturplanung des BR vorgesehen: BBl, 1992, III, S. 25 f. Siehe auch oben, Teil I, 7c (Mutterschaftsversicherung).
[61] CVP, Grüne, LdU/EVP und SP unterstützen die Initiative, FDP, Liberale, SVP, AP sowie SD/Lega lehnten sie ab: Amtl. Bull. NR, 1992, S. 215 ff.
[62] Presse vom 30.4.92; Bund, 25.5.92. Da sich dies mit seinen eigenen Vorstellungen deckt, war der BR bereit, eine Motion Zisyadis (pda, VD) zur gemeinsamen Ausübung der elterlichen Gewalt anzunehmen. worauf ihr beide Räte zustimmten (Amtl. Bull. NR. 1992. S. 1201 f.; Amtl. Bull. StR, 1992, S. 1231 f.).
[63] Homosexuelle Arbeitsgruppen der Schweiz (HACH), Neue Lebensformen oder Ehe für Schwule und Lesben? Eine Analyse der heutigen rechtlichen Situation und Materialien für eine zukünftige Lebensformpolitik, Zürich 1992; Presse vom 12.10.92.
[64] BBl, 1992, VI, S. 353; Amtl. Bull. NR, 1992, S. 2648 f. Siehe dazu auch SPJ 1990, S. 244.
[66] Das Mittel ist heute nur in Frankreich, England und Schweden zugelassen: NZZ, 20.8.92; 24 Heures, 27.8.92; Bund, 28.9.92.
[67] Amtl. Bull. StR, 1992, S. 60 ff. und 333 ff.; BaZ und SGT, 17.9.92. Aufgrund der eingeleiteten Vorarbeiten zur Ratifizierung schrieben beide Kammern eine Standesinitiative des Kantons Jura als erfüllt ab: Amtl. Bull. NR, 1992, S. 239; Amtl. Bull. StR, 1992. S. 60 ff. und 333 ff. Der NR überwies in der Folge eine im Vorjahr bekämpfte analoge Motion Bäumlin (sp, BE) in der Postulatsform (Amtl. Bull. NR, 1992, S. 618; SPJ 1991, S. 254), ebenso ein 1990 bekämpftes Postulat Bär (Amtl. Bull. NR, 1992, S. 258 ff.; SPJ 1990, S. 245).
[68] Lit. Frigerio / Burgherr; Presse vom 24.3.92; LNN, 12.5.92. Ende Jahr wurde eine mit mehr als 10 000 Unterschriften versehene Petition eingereicht, welche ebenfalls die Forderung nach einer vorbehaltlosen Ratifizierung der UNO-Konvention stellte (Bund, 21.1 1.92).
[69] Amtl. Bull. NR, 1992, S. 466. Vgl. dazu SPJ 1990, S. 234.
[70] Lit. Kindsmisshandlungen und Eidg. Büro; Presse vom 31.10.92; Familienfragen. 1992, Nr. 2, S. 2 ff. und Sondernummer 1993. Der Einbezug der sexuellen Ausbeutung von Kindern erfolgte aufgrund eines 1991 überwiesenen Postulats Fankhauser (sp, BL): SPJ 1991, S. 254. Stiftung: Presse vom 18.8.92. Kinderärzte: NZZ, 3.1 1.92. Kinderschutzbund: NZZ, 23.11.92.
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