Année politique Suisse 1993 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Ausländerpolitik
Nach dem Ständerat überwies auch der Nationalrat praktisch diskussionslos eine Motion Simmen (cvp, SO) für die rasche Ausarbeitung eines Migrationsgesetzes, das die Grundlage darstellen soll für den Umgang mit Problemen, wie sie aus der weltweiten Völkerwanderung auch für die Schweiz entstehen. Der Bundesrat, der im Ständerat noch für Umwandlung in ein Postulat plädiert hatte, war nun bereit, die Motion entgegenzunehmen. Gleichzeitig verabschiedete die grosse Kammer auch ein Postulat ihrer staatspolitischen Kommission, welches Anhaltspunkte gibt für einen möglichen Inhalt dieses Gesetzes. Danach müsste ein Migrationsgesetz die Zielsetzungen und Grenzen der Einwanderungspolitik festhalten, eine umfassende Integrationspolitik umschreiben, die Grundlage für die Förderung der Rückkehr ins Heimatland bilden und einen Beitrag zur Beseitigung der Ursachen von Wanderungsbewegungen liefern [1].
In Wien nahm Anfangs November das "International Center for Migration Policy Development" (ICMPD) seine Arbeit auf. Das Zentrum geht auf eine Initiative der Regierungen der Schweiz und Osterreichs zurück. Es soll mittelfristige Strategien zur Bewältigung des Migrationsprozesses entwickeln und mit konkreten Konzepten die Zusammenarbeit der betroffenen Staaten fördern und erleichtern. Das Tätigkeitsgebiet des ICMPD reicht von Vorschlägen zur internationalen Harmonisierung der Migrationspolitik und -praxis bis zur Prüfung von wirtschafts- und sozialpolitischen Kooperationsmassnahmen zwischen den Ziel- und Herkunftsländern, um Abwanderung langfristig unnötig zu machen. Ein wichtiger geographischer Forschungsschwerpunkt des neuen Instituts wird Mittel- und Osteuropa sein [2].
Auf Mitte Jahr wurde das Bundesamt für Ausländerfragen ausgebaut. Die neu geschaffene Abteilung "Migration, Innere Sicherheit/Strategien und Zentrales Ausländerregister" erhielt die Aufgabe, den Kampf gegen das kriminelle Schleppertum und den illegalen Grenzübertritt zu führen, die Entwicklungen in Europa zu analysieren und die Kontakte mit den europäischen Polizei- und Ministergremien, insbesondere der EG-internen "Gruppe Schengen", aufrechtzuerhalten und zu intensivieren [3].
Für die Kontroverse um Ausländer – in erster Linie Asylbewerber –, die unter falschem Vorwand und mit deliktischen Absichten in die Schweiz einreisen und dann vorwiegend im Drogenhandel tätig sind, sowie für die daraus resultierenden Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).
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Ausländische Bevölkerung
Der Bestand der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung betrug am Jahresende 1 260 283 Personen, 46 820 oder 3,9% mehr als vor Jahresfrist. Damit schwächte sich die Zunahme bereits im zweiten aufeinanderfolgenden Jahr leicht ab. Der Anteil an der gesamten Wohnbevölkerung der Schweiz erhöhte sich von 17,6 auf 18,1%. 928 555 Personen besassen eine Niederlassungs- und 331 728 eine Jahresbewilligung. 65% stammten aus EG- und Efta-Staaten, weitere 19% aus ex-Jugoslawien.
Ende Dezember lebten zudem 27 913 anerkannte Flüchtlinge in der Schweiz. Die Zunahme um 1177 gegenüber dem Vorjahr erklärt sich aus dem Anstieg positiver Asylentscheide des Bundesamtes für Flüchtlinge. In der Statistik der ausländischen Wohnbevölkerung nicht berücksichtigt sind neben den Saisonniers namentlich die auf rund 30 000 geschätzten internationalen Funktionäre, die etwa 40 000 Asylbewerber sowie einige Zehntausende von Personen aus dem ex-jugoslawischen Krisengebiet.
Die anhaltende Rezession zeigte bei den Saisonniers und Grenzgängern erneut deutliche Auswirkungen. Ende August, im Zeitpunkt des saisonalen Höchststandes der Beschäftigung, arbeiteten noch 71 800 Saisonniers in der Schweiz, 21 300 oder 22,9%weniger als im Vorjahr. 1991 waren es zum gleichen Zeitpunkt noch 115 900 gewesen. Die Grenzgänger nahmen gegenüber August 1992 um 6% auf 159 700 ab (1991: 182 600) [4].
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Zulassungspolitik
Im Rahmen von Swisslex bekräftigte der Bundesrat erneut seinen Willen, das in seinem Bericht von 1991 aufgezeichnete Konzept des Dreikreisemodells schrittweise zu realisieren. Nach einer Übergangsfrist soll das Saisonnierstatut mit dem heute bestehenden Umwandlungsmechanismus in Daueraufenthaltsbewilligungen, dem in der Vergangenheit eine Schleusenfunktion für die massive Zuwanderung wenig qualifizierter Arbeitskräfte zugekommen war, abgelöst werden. Dies kann der Bundesrat jedoch nicht in eigener Regie beschliessen, da der Umwandlungsanspruch in internationalen Verträgen festgeschrieben ist. Er will deshalb mit den betreffenden Ländern Verhandlungen aufnehmen und nach deren Abschluss die Regelung der saisonalen Arbeitsverhältnisse den europäischen Standards annähern, beispielsweise durch befristete Aufenthaltsbewilligungen mit Gewährung des Familiennachzugs, falls der Kurzaufenthalter über die nötigen Mittel und eine entsprechende Wohnung verfügt. Gleichzeitig beabsichtigt der Bundesrat, die Rechtsstellung der mehrjährigen Grenzgänger mit Ausnahme des Rechts auf Wohnsitznahme derjenigen der Daueraufenthalter anzugleichen. Längerfristiges Ziel des Bundesrates ist ein Abbau der wenig qualifizierten ausländischen Arbeitnehmerschaft und deren Ersetzung durch ausländische Spezialisten und Kaderleute [5].
Um diese Politik der primären Rekrutierung qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte umzusetzen, beschloss der Bundesrat, in einem Teilbereich auf den seit Jahren hochgehaltenen absoluten Vorrang von inländischen Arbeitnehmern bei der Besetzung einer Stelle zu verzichten. Auf 1. Mai des Berichtsjahres wurde die Verordnung über die Begrenzung der Zahl der Ausländer (BVO) dahingehend geändert, dass ausländische Führungskräfte multinationaler Firmen und spezialisierte Fachleute künftig davon ausgenommen sind [6].
Bei der Ausländerregelung 1993/94 tat der Bundesrat einen weiteren Liberalisierungsschritt. Er kürzte das Jahreskontingent für Saisonbewilligungen um 5% auf 155 000. Von den Kontingenten für die Kantone wurden zudem nur 80% freigegeben. Die Reduktion der Bewilligungen um gesamthaft 25 % soll die Kantone veranlassen, bei Angehörigen aus EG- und Efta-Staaten auf die nicht ausgeschöpften Kontingente für Jahresaufenthalter auszuweichen. Der Bundesrat vertrat dabei die Ansicht, viele Saisonverhältnisse seien in Wirklichkeit unecht und könnten ebensogut als ganzjährige Erwerbsmöglichkeiten ausgestaltet werden. Bei Engpässen in den stark auf den Tourismus ausgerichteten Kantonen zeigte er sich bereit, zusätzliche Bewilligungen aus seinem 10 000 Einheiten umfassenden Kontingent zu erteilen. Den Jahresaufenthaltern kam der Bundesrat insofern entgegen, als künftig für den Familiennachzug die Wartefrist von 12 Monaten aufgehoben wird. Die Bedingungen, an die der Nachzug geknüpft ist – genügend Mittel und angemessene Wohnung – bleiben aber bestehen [7].
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Gesellschaftliche Integration
Die Eidg. Kommission für Ausländerprobleme, welche anlässlich ihrer Neubesetzung in Eidg. Ausländerkommission umbenannt wurde, will beim Bund Druck aufsetzen, damit bei der anstehenden Teilrevision des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) ein eigentlicher Integrationsartikel ins Gesetz aufgenommen wird. Damit wäre die Voraussetzung geschaffen für eine finanzielle Unterstützung der Eingliederungsbestrebungen durch den Bund. Heute werden die Beratungs- und Kontaktstellen, die den Ausländern die gesellschaftliche Integration erleichtern, von Kantonen, Gemeinden oder karitativen Organisationen finanziert [8].
Die zu Beginn des Vorjahres gegründete Aktionsgemeinschaft "CH 701" stellte an ihrem ersten Geburtstag ein Handbuch für gewaltfreie Konfliktlösungen vor und kündigte ihre Absicht an, ein Nottelefon einzurichten, welches Personen berät, die von heftigen Auseindersetzungen zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen betroffen sind [9].
Zur erleichterten Einbürgerung junger Ausländer, zur Diskussion um die Einführung eines Stimm- und Wahlrechts für niedergelassene Ausländer und zum Antirassismusgesetz siehe oben, Teil I, 1 b, Bürgerrecht und Stimmrecht sowie Grundrechte.
 
[1] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1047 ff. Siehe dazu auch SPJ 1992, S. 240. Bestrebungen zur Verhinderung von Fluchtursachen verlangte auch eine als Postulat überwiesene Motion Eymann (Ip, BS): Amtl. Bull. NR, 1993, S, 1952 f. Noch bevor der NR der Motion zugestimmt hatte, wurde bereits bekannt, dass der BR den auf Ende Juni als Direktor des Bundesamtes für Flüchtlinge zurücktretenden Peter Arbenz mit der Ausarbeitung des Gesetzes beauftragen will (BZ, 1.3. und 23.6.93; Presse vom 1.7.93).
[2] Presse vom 9.11.93.
[3] Presse vom 13.5.93.
[4] Die Volkswirtschaft, 67/1994, S. 9*; Presse vom 21.1.94. Für die Probleme vor allem der französischen und italienischen Grenzgänger mit der Arbeitslosenversicherung siehe Presse vom 20.7.93 und SPJ 1992, S. 238. Zur Verbesserung der Lage der Grenzgänger leitete der BR dem Parlament ein Zusatzabkommen zum Abkommen von 1992 zwischen der Schweiz und der BRD über die Arbeitslosenversicherung zu (BBl, 1993, IV, S. 203 ff.; Presse vom 7.10.93).
[5] BBl, 1993, I, S. 827 f. Siehe dazu auch Presse vom 8.1. (Ausführungen von Biga-Direktor Nordmann) und 21.1.93. Da dies seiner eigenen Stossrichtung entspricht, war der BR durchaus bereit, eine Motion der CVP-Fraktion für eine neue Orientierung der Ausländerpolitik und die schrittweise Aufhebung des Saisonnierstatuts entgegenzunehmen. Die Motion wurde von beiden Kammern diskussionslos verabschiedet (Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1387; Amtl. Bull. StR, 1993, S. 932 f.). Zur Vereinbarkeit des Dreikreisemodells mit dem UNO-Übereinkommen gegen die Rassendiskriminierung siehe NZZ, 23.10.93
[6] Presse vom 22.4.93. Siehe dazu die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1993, S. 2028 ff., 2161 ff. und 2552. Für alle anderen Berufskategorien bleibt der Grundsatz des Vorrangs der inländischen Bevölkerung gemäss Art. 7 BVO jedoch vollumfänglich in Kraft (Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1418 f. und 1622 f.). Die Zulassungsbestimmungen für Grenzgänger wurden dahingehend erleichtert, dass sie nach fünf Jahren regelmässiger Arbeit in der Schweiz eine weitgehende berufliche Freizügigkeit erhalten.
[7] Presse vom 2.6. (Vorschlag des BR), 24.8. (Ergebnisse der Vernehmlassung) und 21.10.93. Für den Druck der EG auf Einführung des freien Personenverkehrs siehe oben, Teil I, 2 (Europe).
[8] Gesch.ber. 1993, S. 154; Presse vom 22.11.93.
[9] NQ und TA, 5.1.93. Siehe SPJ 1992, S. 244.