Année politique Suisse 1994 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
 
Volksrechte
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Nutzung der Volksrechte
Im Berichtsjahr fanden fünf mit Referenden verlangte Volksabstimmungen über Beschlüsse der Bundesversammlung statt (davon eine zu einem Entscheid aus dem Jahr 1993). Ein Referendum war erfolgreich (UNO-Blauhelme), bei den anderen vier mit Referenden verlangten Abstimmungen (Luftfahrtgesetz, Anti-Rassismusgesetz, Krankenversicherung, Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht) folgte das Volk dem Parlament.
Zum vierten Mal seit 1986 - zum zwölften Mal insgesamt -, stimmte der Souverän einer Volksinitiative zu (Alpen-Initiative). Die zweite zur Abstimmung gelangende Initiative wurde hingegen deutlich abgelehnt (Krankenversicherung). Neu eingereicht wurden im Berichtsjahr vier Volksinitiativen (gegen Gentechnologie, Volksabstimmung vor der Eröffnung von EU-Beitritts-Verhandlungen, für eine preisgünstige und ökologische Landwirtschaft, für eine Liberalisierung der Drogenpolitik). Da andererseits zwei Initiativen zurückgezogen wurden (Freizügigkeit bei der 2. Säule, Landwirtschaftsinitiative des SBV), blieb der Bestand der hängigen, d.h. der zustandegekommenen, aber dem Volk noch nicht zum Entscheid vorgelegten Initiativen unverändert bei 16. Neu lanciert worden sind 1994 sechs Initiativen, davon haben nicht weniger als vier die AHV zum Thema.
Von den sechs nicht durch Volksinitiativen bedingten obligatorischen Volksabstimmungen gingen vier im Sinne von Bundesrat und Parlament aus, zweimal hatten diese zwar eine Volksmehrheit hinter sich, scheiterten aber am Ständemehr (Kulturförderungsartikel, erleichterte Einbürgerung). Die gesamte Abstimmungsbilanz fiel für Bundesrat und Parlamentsmehrheit mit 9 Siegen in 13 Volksentscheiden nicht mehr so glänzend aus wie 1993, wo sie sämtliche 16 Abstimmungen gewonnen hatten [38].
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Gesetz über die politischen Rechte
Der Ständerat befasste sich als Zweitrat mit demjenigen Teil der Teilrevision des Gesetzes über die politischen Rechte, der das Verfahren bei den Nationalratswahlen regelt. Dabei folgte er weitgehend dem Nationalrat. Insbesondere stimmte er der Regelung zu, dass Unterlistenverbindungen dann zugelassen sein sollen, wenn sie sich bei gleicher Listenbezeichnung einzig durch einen Zusatz zur Kennzeichnung des Geschlechts, der Region, des Alters oder der Parteirichtung unterscheiden. Bei den Massnahmen zur Verhinderung von sogenannten Juxlisten wollte der Ständerat die Wahlteilnahme nicht von finanziellen Erwägungen abhängig machen. Auf Antrag Büttiker (fdp, SO), der argumentierte, dass davon vor allem auch die Jungparteien getroffen würden, verzichtete er auf die Beteiligung von erfolglosen Listen an den Druckkosten. Als Kompensation erhöhte er dagegen die zur Einreichung einer Liste erforderliche Unterschriftenzahl für Kantone mit mehr als 20 Sitzen von 200 auf 400. Der Nationalrat übernahm diese Änderungen. In der Schlussabstimmung hiess die grosse Kammer die neuen Vorschriften gegen den Widerstand der SP und der kleinen Parteien mit 105 zu 60 gut; im Ständerat gab es keine Gegenstimmen. Der Bundesrat setzte die neuen Bestimmungen, welche unter anderem auch die Einführung der uneingeschränkten brieflichen Stimmabgabe bei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen enthalten, im Oktober in Kraft [39].
Die Frage, ob und wie der Ausgang von Wahlen und Volksabstimmungen durch publizierte Ergebnisse von Meinungsumfragen beeinflusst wird, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Immerhin bestehen in einigen Staaten gesetzliche Vorschriften über den Mindestabstand zwischen den letzten Veröffentlichungen und dem Wahl- resp. Abstimmungstag. In der Schweiz halten sich die Meinungsforschungsinstitute freiwillig an eine Frist von zehn Tagen. Diese Vorsichtsmassnahme droht nun durch die allgemeine Einführung der brieflichen Stimmabgabe, welche bereits drei bis vier Wochen vor dem Urnengang ausgeübt werden kann, bedeutungslos zu werden. Ständerat Büttiker (fdp, SO) lud deshalb den Bundesrat ein, die eventuellen Auswirkungen von während Kampagnen veröffentlichten Umfrageresultaten wissenschaftlich abklären zu lassen. Der Ständerat überwies sein Postulat gegen den Willen des Bundesrates, der für diese Thematik kein Geld ausgeben wollte [40].
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Initiative und Referendum
Die Volksinitiative der SP "für weniger Militärausgaben" bot Anlass, einmal mehr über die Anwendung der Verfassungsvorschrift zu diskutieren, dass bei Volksinitiativen die Einheit der Materie gewahrt sein müsse. In seiner Botschaft zur Initiative kam der Bundesrat zum Schluss, dass diese Einheit der Materie verletzt sei, da nicht nur Sparmassnahmen im Militärbereich, sondern gleichzeitig auch ein Ausbau des Sozialbereichs gefordert werde. Mit dem Verweis auf die bisherige grosszügige Praxis beantragte er dem Parlament jedoch, von einer Ungültigkeitserklärung abzusehen [41]. Anders entschied er bei der Initiative der SD "für eine vernünftige Asylpolitik". Die hier verlangte unbedingte Rückschaffung von illegal eingereisten Ausländern, ohne Rücksicht auf eine eventuelle existentielle Gefährdung, bliebe nach Ansicht des Bundesrates auch dann völker- und menschenrechtswidrig, wenn die Schweiz entsprechende Abkommen und Konventionen aufkündigen würde. Der Bundesrat stützte sich in seiner Beurteilung auf die neueren Ansichten der schweizerischen und internationalen Rechtslehre, die besagt, dass in einem Rechtsstaat die Verfassung "zwingendes Völkerrecht" nie verletzen darf. Er beantragte deshalb dem Parlament, diese Volksinitiative für ungültig zu erklären [42].
In der Frage der rückwirkenden Bestimmungen bei Volksinitiativen folgte der Ständerat seiner Kommission. Er lehnte eine im Vorjahr vom Nationalrat gutgeheissene parlamentarische Initiative Zwingli (fdp, SG) für ein Verbot derartiger Klauseln ab und verabschiedete eine Motion, die den Bundesrat beauftragen will, eine umfassende Regelung für die Gültigkeit von Volksbegehren auszuarbeiten [43].
Die im Berichtsjahr wieder etwas häufiger vorgekommenen Niederlagen der Parlamentsmehrheit in Volksabstimmungen führten zu neuen Vorschlägen, wie oppositionellen Initiativ-, Referendums- und Abstimmungskomitees das Leben schwerer gemacht werden könnte. Ökonomieprofessoren, die davon ausgehen, dass der schweizerische Staat handlungsunfähig geworden ist, schlugen eine massive Einschränkung des fakultativen Referendums vor. Dieses soll nur noch gegen Parlamentsbeschlüsse ergriffen werden können, die in den Räten keine Zweidrittelmehrheit erreicht haben [44]. Nach der nur knapp ausgefallenen Zustimmung zu dem von fast allen Parteien unterstützten Antirassismus-Gesetz regte Ständerat Zimmerli (svp, BE) mit einer parlamentarischen Initiative an, dass ein Parlamentsbeschluss erst dann als abgelehnt gilt, wenn die ablehnende Mehrheit mindestens einen Drittel der Stimmberechtigten ausmacht; beim Beitritt zu supranationalen Organisationen oder bei Verfassungsteilrevisionen müsste dazu auch noch eine ablehnende Mehrheit der Stände kommen. Ein analoges Quorum von einem Drittel der Stimmberechtigten wäre für die Annahme einer Volksinitiative neben Stände- und Volksmehr erforderlich [45].
Es kam seit 1848 erst sechsmal vor, dass eine Verfassungsvorlage am fehlenden Ständemehr scheiterte (das letzte Mal der Energieartikel 1983). Am 12. Juni wurde diese Liste um zwei weitere Fälle erweitert: die erleichtere Einbürgerung (bei einem zustimmenden Volksmehr von 52,8%) und der Kulturförderungsartikel (51,0%). Dies belebte natürlich auch die vor allem von Politologen geführte Diskussion um die demokratische Berechtigung der Institution des Ständemehrs, welche - allerdings nur bei Verfassungsänderungen und wichtigen internationalen Verträgen - einem einzigen Bürger aus dem Kanton Appenzell-Innerrhoden gleich viel Stimmkraft gibt wie 39 Zürchern. Nationalrat Gross (sp, ZH) forderte mit einer parlamentarischen Initiative, die seit 1848 unterschiedlich verlaufene demographische Entwicklung der Kantone bei der Berechnung des Ständemehrs zu berücksichtigen. Dies könnte beispielsweise dadurch geschehen, dass den Ständen gemäss ihrer Bevölkerungszahl drei, zwei oder eine Stimme zugeteilt würde [46].
 
[38] wf, Initiativen + Referenden, Zürich 1995; A. Gross, "Direkte Demokratie unter Druck", in TW, 30.12.94.38
[39] Amtl. Bull. StR, 1994, S. 181 ff. und 374; Amtl. Bull. NR, 1994, S. 325 ff. und 663; BBl, 1994, II, S. 220 ff.; AS, 1994, S. 2423 ff. und 2429 f.; NZZ, 20.10.94. Vgl. SPJ 1993, S. 40 ff. Zwei vom NR 1993 überwiesene Motionen gegen die Listenvielfalt konnten vom StR als erfüllt abgeschrieben werden (Amtl. Bull. StR, 1994, S. 189 f.).39
[40] Amtl. Bull. StR, 1994, S. 1341 f.40
[41] BBl, 1994, III, S. 1201 ff. (v.a. 1204 ff.). Zur Initiative siehe unten, Teil I, 3 (Armement).41
[42] BBl, 1994, III, S. 1486 ff. (v.a. 1493 ff.); Presse vom 24.6.94. Zur Initiative siehe unten, Teil I, 7d (Flüchtlinge).42
[43] Amtl. Bull. StR, 1994, S. 740 ff. und 743 (Motion); BaZ, 17.6.94. Vgl. SPJ 1993, S. 42.43
[44] S. Borner / A. Brunetti / T. Straubhaar, Die Schweiz im Alleingang, Zürich 1994; NZZ, 21.3.94; BaZ, 12.4.94. Im Vorjahr hatte der NR Vorstösse für eine Erhöhung der Unterschriftenzahl für Initiativen und Referenden abgelehnt (SPJ 1993, S. 43).44
[45] Verhandl. B.vers., 1994, V, S. 41; Bund und NZZ, 27.9.94; BZ, 8.10.94. Die beiden am Ständemehr gescheiterten Verfassungsartikel über Kulturförderung und über die erleichterte Einbürgerung wären mit diesem System beide angenommen worden.45
[46] Verhandl. B.vers., 1994, III, S. 37; Presse vom 14.6.94. Vgl. auch A. Vatter, "Stadtluft macht an Urnen ungleich", in TA, 24.6.94. Zweimal schaffte bisher eine Vorlage zwar das Stände-, nicht aber das Volksmehr (NR-Proporzinitiative 1910 und Zivilschutzeinführung 1957).46