Année politique Suisse 1994 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Krankenversicherung
Die 1986 von SP und SGB eingereichte Volksinitiative "für eine gesunde Krankenversicherung", welche das Gesundheitswesen nicht mehr über Kopfprämien finanzieren wollte, sondern über Beiträge, die nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit abzustufen wären, wurde erwartungsgemäss in der Volksabstimmung vom 4. Dezember deutlich mit über drei Viertel Neinstimmen sowie von allen Kantonen verworfen. Einkommensabhängige Krankenkassenprämien sind eine alte Forderung der Linken, die auf bürgerlicher Seite seit jeher als rotes Tuch gilt, da damit eine - im Ausland durchaus gängige - Beteiligung der Arbeitgeber an den Gesundheitskosten der Arbeitnehmer verbunden wäre. Die von der Initiative ebenfalls verlangte stärkere finanzielle Beteiligung des Bundes an den Ausgaben der sozialen Krankenversicherung (mindestens 25%) wurde von den Gegnern als "Schönwettervorschlag" taxiert, da die Initiative zu einem Zeitpunkt eingereicht worden ist, als die Lage der Bundesfinanzen noch bedeutend rosiger aussah als heute [25].
Volksinitiative "für eine gesunde Krankenversicherung"
Abstimmung vom 4. Dezember 1994

Beteiligung: 43,8 %
Nein: 1 504 177 (76,5% ) / 20 6/2 Stände
Ja: 460 674 (23,5%) / 0 Stände

Parolen:
- Nein: FDP, CVP, SVP, LPS, LdU, EVP, FPS, SD, EDU; Arbeitgeber, Vorort, SGV, CNG, FMH, Konsumentinnenforum.
- Ja: SP, PdA; SGB, Vereinigung unabhängiger Ärzte, Stiftung für Konsumentenschutz.
- Stimmfreigabe: GPS (2*), Lega.

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die Gültigkeitsdauer der drei dringlichen Bundesbeschlüsse zur Anhebung der Subventionen an die Krankenkassen (1990), über Massnahmen gegen die Entsolidarisierung in der Krankenversicherung (1991) und gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung (1992) war seinerzeit bis zum 31. Dezember 1994 befristet worden, in der Annahme, das neue Gesetz über die Krankenversicherung (KVG) könne am 1. Januar 1995 in Kraft treten. Da das Gesetz erst in der Frühjahrssession von den Räten verabschiedet wurde (s. unten), zeigte die Anhörung der Kantone und der Versicherer, dass ein Inkrafttreten selbst ohne Referendum frühestens auf den 1. Januar 1996 in Frage kommen könnte. Weil die drei Bundesbeschlüsse aber den reibungslosen Übergang zum neuen Gesetz bezwecken, beantragte der Bundesrat dem Parlament deren Verlängerung bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes, längstens aber bis zum 31. Dezember 1997. Die einzige gewichtige Änderung gegenüber den früheren Beschlüssen sah der Bundesrat bei den Massnahmen gegen die Entsolidarisierung (Beschluss B) vor. In Umsetzung des vor der Abstimmung zur Mehrwertsteuer abgegebenen Versprechens, zur sozialen Abfederung der neuen Steuer während fünf Jahren jeweils 5% von deren Ertrag (schätzungsweise rund 500 Mio Fr.) zur Verbilligung der Krankenkassenprämien für die sozial schwächere Bevölkerung zu verwenden, schlug der Bundesrat vor, ab 1995 die Bundessubvention auf 600 Mio Fr. zu erhöhen, nämlich 100 Mio gemäss dem Beschluss B von 1991 und 500 Mio aus der Mehrwertsteuer. Damit die Kantone dies nicht zum Vorwand nehmen können, ihre eigenen Beiträge einzufrieren, wollte die Landesregierung die Kantone verpflichten, wie bis anhin ungefähr 200 Mio Fr. zur gezielten Prämienverbilligung beizusteuern [26].
Als Erstrat stimmte die grosse Kammer der Vorlage zu, verkürzte aber die Verlängerung von drei auf zwei Jahre, weil sie nicht schon für den Fall einer Ablehnung des revidierten Krankenversicherungsgesetzes vorsorgen wollte. Zudem entliess sie beim Beschluss B die Kantone wieder aus der Verantwortung. Diesen soll weiterhin freigestellt werden, ob sie durch eigene Beiträge die Bundessubventionen auslösen wollen oder nicht. Im Ständerat führte ein Antrag Schmid (cvp, AI), angesichts der Ausschüttung der Mehrwertsteuermillionen seien die 100 Mio Fr. des Beschlusses B aus Rücksicht auf die prekäre Finanzlage des Bundes zu kappen, zu einer längeren Diskussion, doch schwenkte die kleine Kammer schliesslich - wenn auch nur knapp - auf die Linie des Nationalrates ein [27].
In der Wintersession kam der Nationalrat aufgrund des generellen Spardruckes auf diesen Beschluss zurück und stimmte einem von seiner Finanzkommission in eigener Regie ausgearbeiteten dringlichen Bundesbeschluss (Beschluss D) zu, welcher die Argumentation Schmid wieder aufnahm und den Subventionsbeitrag aus dem Bundesbeschluss B um 80 Mio Fr. kürzte, sehr zum Unmut von Finanzminister Stich, der warnte, die Verunsicherung, die damit in der Bevölkerung ausgelöst werde, sei die eingesparten Millionen nicht wert. Im Ständerat setzte sich dann aber die bereits von einer Minderheit der grossen Kammer geäusserte Auffassung durch, wonach es weder juristisch noch politisch haltbar sei, einen Bundesbeschluss, für den noch die Referendumsfrist läuft, bereits wieder abzuändern, worauf die Kammer dem Antrag ihrer Kommission folgte und Nichteintreten auf den Beschluss des Nationalrates beschloss. Allerdings wollte auch der Ständerat 80 Mio Fr. einsparen. Er entschied deshalb, die durch die Kantone nicht ausgelösten Beiträge nicht wie bisher einer zweiten Verteilrunde zuzuführen, sondern in der Bundeskasse zu belassen. Dies dürfte zu Einsparungen in der Grössenordnung von 40 Mio Fr. führen. Das Budget 1995 soll zudem durch eine erst 1996 erfolgende nachschüssige Auszahlung an die Kantone um weitere 40 Mio Fr. entlastet werden [28].
Nach Swica 1992 und Swisscare 1993 entstand mit der in Bern domizilierten Arcovita - einer Dienstleistungsgesellschaft, an der die vier Krankenkassen CCS, Evidenzia, Grütli und KKB zu gleichen Teilen beteiligt sind - ein neuer Machtfaktor im Gesundheitswesen, der dank seiner Grösse (rund 2,2 Mio Versicherte) mit Spitälern, Ärzten und anderen Leistungserbringern günstigere Tarife aushandeln, flächendeckend neue Versicherungsmodelle (HMO-Praxen) realisieren sowie auf dem Gebiet der Gesundheitsförderung tätig werden will [29].
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Totalrevision des Krankenversicherungsgesetzes
In der im Berichtsjahr erfolgten Differenzbereinigung zwischen den beiden Kammern erwiesen sich die Prämienverbilligungen für wirtschaftlich Schwächere, deren Finanzierung und die Modalitäten ihrer Ausrichtung als die Schicksalsartikel der gesamten Vorlage. Der Nationalrat kam hier dem Ständerat und den Kantonen insofern entgegen, als er zwar daran festhielt, dass die Kantone für die Finanzierung der Prämienverbilligungen die Hälfte der Bundessubventionen, nämlich 1 Mia Fr. beisteuern müssen, andererseits aber die Erhöhung der Kantonsbeiträge auf vier Jahre etappierte. Als weiteres Zugeständnis sollen die Kantone mit niedrigem Prämiendurchschnitt - was vor allem die Ostschweiz betrifft - ihren Beitrag kürzen dürfen, wenn die Prämienverbilligungen gleichwohl sichergestellt sind. Die grosse Kammer bestimmte, dass die dadurch freiwerdenden Bundesmittel jenen Kantonen zugute kommen sollen, die aus eigenen Beiträgen stärker zur Prämienverbilligung beitragen.
Der Nationalrat hielt zudem an der Verpflichtung der Versicherer zur Gesundheitsförderung fest, akzeptierte aber einen Selbstbehalt bei der individuellen Prävention. Bekräftigt wurden auch das vom Ständerat abgelehnte Anhörungsrecht der Patientenorganisationen vor Abschluss eines Tarifvertrages, die weitgefasste, dem bisherigen Recht entsprechende Beschwerdelegitimation bei Tarifbeschwerden und die Verneinung des alleinigen Rechts der Kantonsregierungen, bei Streitigkeiten um die Tarifsetzung in öffentlichen Spitälern als Schiedsrichter aufzutreten. Der kleinen Kammer schloss sich der Nationalrat hingegen in der Beschränkung der Globalbudgetierung auf den stationären Bereich und in der Begrenzung des Risikoausgleichs zwischen den Kassen auf zehn Jahre an. Auch in der Frage der Medikamentenabgabe durch die Ärzte fand sich der Nationalrat zu einem Kompromiss bereit. Die Selbstdispensation sollte zwar durch den Bund eingeschränkt werden, wobei aber auf den möglichen Zugang der Patienten zu einer Apotheke Rücksicht genommen werden müsste [30].
Der Ständerat lenkte bei der Frage der Tarifbeschwerde auf die Fassung des Nationalrates ein und schloss sich weitgehend auch beim Prämienverbilligungssystem an, lehnte allerdings aus Spargründen die Weiterverteilung der allenfalls frei werdenden Bundesbeiträge ab. Bei der Selbstdispensation hielt er an der kantonalen Regelungsbefugnis fest, übernahm aber vom Nationalrat das Kriterium der Apothekendichte. In der Frage der Tarifsetzung für öffentliche Spitäler im vertragslosen Zustand blieb die kleine Kammer hart [31].
In einer weiteren Runde des Differenzbereinigungsverfahrens stimmte der Nationalrat dem Ständerat mit der einzigen Ausnahme der Regelung der Selbstdispensation zu. Diese Pattsituation machte die Einberufung der Einigungskommission zwischen den vorberatenden Kommissionen beider Räte notwendig. Diese entschied im Sinne des Ständerates, worauf die Gesamtvorlage von beiden Kammern stillschweigend angenommen wurde. In der Gesamtabstimmung passierte das neue Gesetz im Ständerat mit 35:1 und im Nationalrat mit 124:38 Stimmen bei 14 Enthaltungen. Abgelehnt wurde die Vorlage lediglich von der SD/Lega, der Freiheitspartei (ex-AP), der EdU und der PdA sowie von den Rechtsexponenten der bürgerlichen Parteien [32].
Bereits bevor die Räte das neue Gesetz definitiv verabschiedet hatten, erklärte die Krankenkasse Artisana, dass sie das Referendum dagegen ergreifen werde. Zwei weitere Kassen (Swica und Winterthur) und vier Ärztevereinigungen aus dem Bereich der Komplementärmedizin machten ebenfalls für das Referendum mobil, so dass dieses im Laufe des Sommers mit 148 952 gültigen Unterschriften eingereicht werden konnte [33].
Die Gegner des neuen KVG fochten mit der Behauptung, das neue Gesetz sei zu dirigistisch und zu sehr der Schulmedizin verhaftet, zu wenig wettbewerbsorientiert und zu teuer für die öffentliche Hand und die Prämienzahler. Der Ausbau in der Grundversicherung werde zu einem massiven Aufschlag bei den Prämien führen, der in erster Linie den Mittelstand treffe. Die Befürworter bestritten die Möglichkeit eines einmaligen Prämienanstiegs nicht, argumentierten aber, die verbesserte Grundversicherung mache für viele die teuren Zusatzversicherungen überflüssig, und sie verwiesen auf die vorgesehenen Prämienverbilligungen, die rund einem Drittel der Bevölkerung zugute kommen sollen [34].
Wegen der Festsetzung ihres Beitrages auf die Hälfte der Bundessubventionen äusserten viele Kantone - wenn auch eher hinter vorgehaltener Hand - gewichtige Vorbehalte gegen das neue Gesetz. Die gezielte Prämienverbilligung fand zwar durchaus Beifall, doch sollte ihrer Meinung nach das Ausmass der Subventionen nicht über den heutigen Stand, wo der Bund 1,3 Mia und die Kantone rund 600 Mio Fr. bezahlen, ausgedehnt werden. Sie vertraten die Ansicht, eine zusätzliche finanzielle Belastung der Kantone sei nicht zu verkraften, da ihnen das neue Gesetz neben den bereits bestehenden Ausgaben im Gesundheitswesen, zum Beispiel durch die Übernahme der Spitaldefizite, zusätzliche Lasten aufbürde, so etwa die Begleichung der Mehrkosten bei medizinisch bedingten ausserkantonalen Spitalaufenthalten. Acht Kantonsregierungen - AG, BE, SH, SO, SG, SZ, TG und ZH - drohten schliesslich unverhohlen mit Steuererhöhungen, falls das revidierte KVG vom Volk angenommen werde [35].
In einer echten Zitterpartie, in welcher das definitive Resultat erst sehr spät feststand, wurde das neue Krankenversicherungsgesetz mit rund 52 % Ja-Stimmen von den Urnengängern knapp gutgeheissen. Ausschlaggebend für das positive Ergebnis waren die hohen Ja-Stimmenanteile im Tessin und in der Westschweiz [36].
Totalrevision Krankenversicherungsgesetz
Referendumsabstimmung vom 4. Dezember 1994

Beteiligung: 43,8
Ja: 1 021 175 (51,8%)
Nein: 950 360 (48,2%)

Parolen:
- Ja: FDP (15*), SP, CVP (6*), GP, LP (1*), LdU (1*), EVP; Arbeitgeberverband, Vorort, SGB, CNG, Apotheker-Verein, Patienten- und Konsumentenorganisationen, Rentnerverband, Krankenkassenkonkordat.
- Nein: SVP (6*), FPS, SD, Lega, PdA (1*), EDU; SGV, VESKA, Vereinigung der Privatkliniken.
- Stimmfreigabe: FMH (11*), SBV, Sanitätsdirektorenkonferenz.

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die Vox-Befragung zur Abstimmung zeigte klar, dass die beiden Themenkreise Solidarität (Obligatorium der Versicherung, unbeschränkte Leistungspflicht bei Spitalaufenthalten) und Bedürfnis nach Eindämmung der Kostensteigerung die wichtigsten Beweggründe für ein "Ja"waren. Die Nein-Stimmen rekrutierten sich primär aus dem Lager jener, die einen Anstieg der individuellen Prämien befürchteten.
 
[25] BBl, 1995, I, S. 278 ff.; Presse vom 6.9.-3.12.94. Siehe SPJ 1992, S. 236. Die Initiative wurde von einem Komitee "Gesundheit muss wieder bezahlbar sein: 2x JA" unterstützt, dem 53 eidgenössische Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus den Reihen der SP, der GP und der LdU/EVP angehörten (Bund, 18.10.94). Bekämpft wurde sie von einem Komitee "NEIN zur sozialistischen Krankenversicherung", in welchem rund 100 bürgerliche Abgeordnete zusammengeschlossen waren (TA, 16.10.94). Die Vox-Analyse zum Urnengang zeigte denn auch ein deutliches Links-Rechts-Schema (M. Delgrande / W. Linder, Analyse der eidg. Abstimmungen vom 4. Dez. 1994, Vox Nr. 55, Adliswil/Bern 1995).25
[26] BBl, 1994, II, S. 833 ff. Zum Beschluss B siehe SPJ 1991, S. 233.26
[27] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1133 ff., 1380 und 1963 f.; Amtl. Bull. StR, 1994, S. 791 ff. und 1073; AS, 1995, S. 511 ff.27
[28] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2045 ff.; Amtl. Bull. StR, 1994, S. 1208 ff. In der Verordnung wurde die Verteilung der 500 Mio Fr. aus dem Ertrag der MWSt bereits nach dem Modell des revidierten KVG geregelt, indem für die Verteilung an die Kantone deren Wohnbevölkerung und Finanzkraft sowie die kantonale Durchschnittsprämie berücksichtigt wurden, nicht aber - anders als in der bisherigen Regelung - die allfälligen Verbilligungsbeiträge der Kantone (Soziale Sicherheit, 1994, Nr. 6, S. 245).28
[29] Presse vom 15.7.94.29
[30] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 13 ff. und 34 ff. Der Entscheid für die Erhöhung des Kantonsbeitrages fiel nur knapp mit 88:85 Stimmen. Ein Postulat der SGK-NR für eine Prämiengleichheit von Frau und Mann auch in den Zusatzversicherungen wurde vom Plenum recht deutlich abgelehnt (Amtl. Bull. NR, 1994, S. 42 ff.).30
[31] Amtl. Bull. StR, 1994, S. 89 ff.31
[32] Amtl. Bull. NR, 1994, S. 357 ff., 493 f. und 663 f.; Amtl. Bull. StR, 1994, S. 89 ff., 308 und 374; BBl, 1994, II, S. 236 ff.; Presse vom 19.3.94.32
[33] BBl 1994, III, 1256 f.; BZ, 16.3. und 13.4.94; Bund, 10.5.94; NZZ, 18.8.94.33
[34] Soziale Sicherheit, 1994, Nr. 5, S. 199 ff. (Übersicht über die Argumente der Befürworter und Gegner); Presse vom 6.9.-3.12.94. Siehe dazu auch die Stellungnahme des BR in Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1942 f. Das Gesetz wurde von einem Komitee "für eine zukunftsgerichtete Krankenversicherung" unterstützt, dem neben rund 75 bürgerlichen Abgeordneten auch einige Sozialdemokraten angehörten. Bekämpft wurde es von einem "NEIN zum unbezahlbaren Krankenversicherungsgesetz", das vom Zürcher FDP-NR Cincera koordiniert wurde (TA, 16.10.94).34
[35] TA, 10.1.94; Bund, 30.8.94; Blick, 30.10.94.35
[36] BBl, 1995, I, S. 278 ff.36