Année politique Suisse 1994 : Enseignement, culture et médias / Culture, langues, églises
Das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen
Im emotional nach wie vor stark aufgeladenen Spannungsverhältnis zwischen Sprachenfreiheit und Territorialitätsprinzip ging das Ringen um eine
Neufassung des Sprachenartikels in der Bundesverfassung mit der zweiten Lesung des Ständerates in eine weitere Runde. Der kleinen Kammer lag zu Beginn ihrer Beratungen ein Kompromissvorschlag ihrer Kommission vor, der die beiden umstrittenen Begriffe wieder aufnahm, allerdings in einer anderen systematischen Einordnung. Aus Rücksicht auf die Germanisierungsängste der Romandie sollte im eigentlichen Sprachenartikel (Art. 116 BV) nur das Verhältnis zwischen den Nationalsprachen festgeschrieben und dabei allein das
Territorialitätsprinzip berücksichtigt werden, welches ein Gebiet verbindlich einer Sprache zuordnet. Hinzu kam eine Bestimmung über die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachregionen. Als Konzession an den Nationalrat, der aus Gründen des Gleichgewichts den einen Begriff nicht ohne den anderen stehen lassen wollte und deshalb auch das Territorialitätsprinzip aus der Vorlage gekippt hatte, schlug die Kommission vor, das Element der
individuellen
Sprachenfreiheit als neuen Art. 54bis in den Grundrechtskatalog der Verfassung aufzunehmen
[25].
Unter dem Eindruck der Volksabstimmung zum Kulturförderungsartikel, welche einmal mehr einen Graben zwischen deutscher und welscher Schweiz offenbart hatte (s. oben), geriet dann aber die gesamte Vorlage ins Rutschen. Ständerat Iten (fdp, ZG) stellte den Antrag, die Übung kurzerhand abzubrechen. Er warnte vor einem Abstimmungskampf, der komplexe Sachverhalte vermitteln müsste und leicht irrationale Ängste schüren könnte, und meinte, der heute fragile, aber immerhin bestehende Sprachfriede müsse eindeutig vor eine generell zu ambitiös geratene Neufassung des Sprachenartikels gesetzt werden. Zudem könne das ursprüngliche Anliegen, das zu den Revisionsarbeiten geführt habe, nämlich der Schutz und die Besserstellung des Rätoromanischen auch mit dem bestehenden Verfassungsartikel in die Tat umgesetzt werden.
Aus Sorge, die Rätoromanen könnten sich durch eine Nullösung desavouiert fühlen, brachten die beiden Romands Cavadini (lp, NE) und Petitpierre (fdp, GE) eine Minimalvariante als weitere Kompromisslösung ein. Sie bezeichnet das Deutsche, Französische, Italienische und Rätoromanische als Nationalsprachen der Schweiz und gibt dem Bund die Möglichkeit, auf Begehren der betroffenen Kantone Massnahmen zur Erhaltung des überlieferten Gebietes bedrohter sprachlicher Minderheiten zu unterstützen. Die beiden Bündner Abgeordneten Cavelty (fdp) und Gadient (svp) stellten den Zusatzantrag, das Rätoromanische sei wie im ursprünglichen Vorschlag des Bundesrates zur Teilamtssprache zu erheben. Auf der Strecke blieb bei dieser Minimallösung die Kompetenz des Bundes, allein oder in Zusammenarbeit mit den Kantonen die Verständigung unter den Sprachgemeinschaften sowie den gegenseitigen Austausch zu fördern. Auch die Aufnahme der Sprachenfreiheit in den Grundrechtskatalog der Verfassung wurde fallengelassen.
Aus Rücksicht auf die rätoromanische Minderheit des Landes wurde der Antrag Iten mit 14:17 Stimmen knapp abgelehnt. Der Vorschlag der Kommission, für den sich in der Debatte nur noch deren Präsident Jagmetti (fdp, ZH) und der Thurgauer Onken (sp) sowie Bundesrätin Dreifuss stark machten, unterlag mit 23:9 Stimmen klar gegenüber der Minimalvariante Cavadini/Petitpierre/Cavelty/Gadient
[26].
Der Basler SP-Ständerat Plattner hatte anfänglich einen Rückweisungsantrag eingereicht mit dem Inhalt, die Besserstellung des Rätoromanischen sei ausgehend vom bestehenden Art. 116 BV auf Gesetzesstufe zu realisieren. Er zog diesen Antrag im Verlauf der Beratungen zurück, kleidete ihn aber in die Form einer Motion, die von 26 seiner Kolleginnnen und Kollegen mitunterzeichnet wurde
[27].
Die kleine Kammer lehnte auf Antrag ihrer Kommission diskussionslos drei ähnlichlautende
Standesinitiativen der Kantone Bern, Freiburg und Wallis ab, welche verlangten, der Bund solle die zweisprachigen Kantone bei ihren besonderen Leistungen zur Erhaltung und
Förderung der Mehrsprachigkeit finanziell unterstützen. Die Kommission stellte in Aussicht, dass je nach Ausgestaltung des Sprachenartikels gewisse Beiträge eventuell möglich werden könnten, betonte aber auch ganz klar, dass die Mehrsprachigkeit eines Kantons nicht in erster Linie eine Belastung, sondern eine Bereicherung von nicht zu unterschätzendem Wert darstelle
[28].
Der Ständerat nahm eine 1993 vom Nationalrat teilweise überwiesene Motion Comby (fdp, VS) an, welche verlangt, dass die Weisungen über die
Vertretung der sprachlichen Minderheiten in der Bundesverwaltung von 1983 näher auszuführen, zu ergänzen und für verbindlich zu erklären seien. Da die Forderungen teilweise in den Zuständigkeitsbereich des Bundesrates eingreifen, wurden zwei Motionen Salvioni (fdp, TI), die eine gerechtere Vertretung der lateinischen Sprachgruppen in der allgemeinen Bundesverwaltung sowie eine bessere Berücksichtigung dieser Sprachregionen bei der Vergabe von Bundesaufträgen forderten, lediglich als Empfehlungen verabschiedet
[29].
Im Nationalrat fand eine parlamentarische Initiative Robert (gp, BE) für die
Förderung der zweisprachigen Erziehung breite Unterstützung. Der Bund soll insbesondere in den Bereichen Forschung, Begleitung und Auswertung die diesbezüglichen Bemühungen der Kantone unterstützen. Direkt auf diese Initiative Bezug nahm ein von der grossen Kammer diskussionslos überwiesenes Postulat Schmid (gp, TG), welches die Förderung des Austausches verschiedensprachiger Schüler durch stark verbilligte Fahrkarten für den öffentlichen Verkehr anregte
[30].
Zu den Arbeiten der 1992 eingesetzten Verständigungskommissionen von Nationalrat- und Ständerat und den damit zusammenhängenden parlamentarischen Vorstössen, welche dazu beitragen sollen, die Gräben zwischen den verschiedenen Sprachregionen zu überbrücken, sowie die Bemühungen zur Verbesserung der landesprachlichen Kommunikation in den audiovisuellen Medien siehe oben, Teil I, 1a (Grundfragen) und unten, Teil I, 8c (Radio und Fernsehen).
Im Kanton
Freiburg entfachte ein von der Regierung in Auftrag gegebener kantonaler
Sprachenbericht die Sprachendebatte erneut. Seit 1990 stehen die Gleichberechtigung von Deutsch und Französisch sowie das Territorialitätsprinzip in der Freiburger Verfassung. Der von einer Kommission erarbeitete Bericht sollte nun Wege zur
Konkretisierung des neuen Verfassungsartikels und insbesondere
des Territorialitätsprinzips aufzeigen. Die zentrale Frage war, ob es inskünftig im Kanton Freiburg nur deutsch- und französischsprachige Gemeinden geben soll, oder ob und wie man entlang der Sprachgrenze den starken deutschsprachigen Minderheiten entgegenkommen kann. Der Bericht empfahl, jene Gemeinden als zweisprachig zu erklären, in denen eine Sprachenminderheit mindestens 30 Prozent der gesamten französisch- und deutschsprachigen Bevölkerung erreicht. In diesen Gemeinden sollen Schule, Verwaltung und Gerichtsbarkeit zweisprachig sein. Diese Regelung beträfe mehrere Dörfer, nicht aber die Stadt Freiburg (28,1% deutschsprachig) und die Gemeinde Murten (16,4% französischsprachig), die aus historischen Gründen als zweisprachig gelten und es auch bleiben sollen. Eine Kommissionsminderheit schlug zudem vor, Gemeinden mit einer Sprachminderheit von zehn bis dreissig Prozent einen Sonderstatus zu gewähren, der den Schulbesuch und die Gerichtsverhandlungen in der Minderheitssprache ermöglichen würde
[31].
Die an der Sprachgrenze gelegene Gemeinde Sierre/Siders (VS) weitete das im Vorjahr auf Kindergartenstufe eingeführte Pilotprojekt eines
zweisprachigen Unterrichts auf die Primarschulen aus. Das Westschweizer Institut für pädagogische Forschung will hier während sieben Jahren mit zwei Modellen Erfahrungen sammeln. Im Kanton Wallis soll zudem vom Sommer 1995 an in allen Mittelschulen und Gymnasien ein Fach in der zweiten Sprache unterrichtet werden. Das Wallis hat damit in Sachen zweisprachiger Unterricht an öffentlichen Schulen die Führung übernommen. Im Kanton Freiburg, der in den vergangenen Jahren mehrfach sein Interesse an Versuchen mit zweisprachigen Unterrichtsformen bekundet hatte, wurde in Villars-sur-Glâne auf Druck der Eltern erstmals eine zweisprachige Kindergartenklasse eröffnet
[32].
Mit Beginn des neuen Schuljahres führte der Kanton
Uri als bisher erster und einziger Schweizer Kanton
Italienisch als erste Fremdsprache ein. Uri begründete diese Neuerung, die in Widerspruch zu den Richtlinien der Schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz steht, mit der geographischen, historischen und mentalitätsmässigen Nähe zum Kanton Tessin. Dieser leistete denn auch einen substantiellen Beitrag an die Ausbildung der urnerischen Lehrkräfte sowie an die Ausarbeitung der für die Durchführung des neuen Fremdsprachenkonzeptes notwendigen Lehrmittel
[33].
Für die Diskussionen über ein Italienisch-Obligatorium zur Erlangung einer eidgenössisch anerkannten Matura siehe oben, Teil I, 8a (Enseignement secondaire supérieur).
Der Kanton Graubünden stellte ein Bündel von
dringlichen Massnahmen vor, welche eine weitere Marginalisierung des Rätoromanischen verhindern sollen. Die Kosten des Gesamtpakets wurden von der Kantonsregierung auf 2,4 Mio Fr. jährlich geschätzt. Mit 1,8 Mio Fr. bildet dabei die geplante Tageszeitung in der Standardsprache "Rumantsch grischun" den finanziell gewichtigsten Brocken. Weitere Schwerpunkte betreffen die Bereiche Schule und Bildung sowie die Schaffung der Stelle eines kantonalen Sprachbeauftragten. Nach Ansicht der Bündner Regierung soll der Bund zu fünf Sechsteln und der Kanton zu einem Sechstel für die anfallenden Kosten aufkommen. Die Kantonsregierung orientierte zudem über ein Pilotprojekt, welches die Region Unterengadin-Müstair dem Territorialitätsprinzip unterstellen möchte. Damit würde - unabhängig vom Grad der deutschschweizerischen Zuwanderung - in allen Gemeinden der Region Rätoromanisch zur alleinigen Amts-, Schul- und Verkehrssprache erklärt
[34].
Der Bundesrat zeigte sich offen für die Anliegen der Rätoromanen. In Anbetracht der Dringlichkeit von zusätzlichen Massnahmen gab er Ende Jahr seine Absicht bekannt, noch vor Abschluss der parlamentarischen Beratungen über den Sprachenartikel der Bundesverfassung eine
Revision des Beitragsgesetzes zur Förderung der rätoromanischen und italienischen Kultur in die Wege zu leiten. Gemäss der Gesetzesrevision soll neu auch die Unterstützung der rätoromanischen Presse und des Verlagswesens in der italienisch- und rätoromanischsprachigen Schweiz ermöglicht werden, doch wird ein Engagement der Kantone und von Privaten vorausgesetzt. Nach dem Revisionsentwurf soll die Finanzhilfe des Bundes höchstens 75% der Gesamtkosten betragen, die Eigenleistung der Kantone mindestens 25%. Gleichzeitig mit der Gesetzesänderung sieht der Bundesrat eine Erhöhung der Bundesbeiträge an den Kanton Graubünden vor. Von 4 Mio Fr. im Budget 1995 (250 000 Fr. mehr als 1994) sollen die Beiträge in den folgenden drei Jahren auf fünf Mio Fr. steigen. Die Subventionen an den Kanton Tessin bleiben mit 2,5 Mio Fr. unverändert
[35].
Im Spätherbst wurde ein im Auftrag der Bündner Kantonsregierung von einer gemischtsprachigen Arbeitsgruppe verfasster
Bericht zur sprachlichen Situation in Graubünden veröffentlicht. Die Autoren kamen in ihrer Bestandesaufnahme zum Schluss, dass die Dreisprachigkeit Graubündens angesichts der immer dominanteren Stellung des Deutschen zunehmend gefährdet ist. Um dem weiteren Abbau der Dreisprachigkeit wirksam entgegenzutreten, sind nach Ansicht der Arbeitsgruppe umfangreiche Massnahmen auf verschiedenen Ebenen notwenig. Der diesbezügliche Katalog von 39 Postulaten umfasste die Bereiche Verwaltung, Recht, Bildung, Medien, Wirtschaft sowie gegenseitige Verständigung. In ihrer Palette der konkreten Vorschläge sprach sich die Arbeitsgruppe unter anderem für die Schaffung eines Sprachförderungsgesetzes und die gezielte Erweiterung des Kulturförderungsgesetzes, für die Bestimmung einer einzigen romanischen Amtssprache, die Einrichtung von regionalen Sprachterritorien auf der Basis von interkommunalen Zusammenschlüssen, eine vermehrte Präsenz der schwächeren Sprachen in Verwaltung, Wirtschaft, Schulen und im Alltag sowie für die Förderung der romanisch- und italienischsprachigen Presse im Kanton aus
[36].
Für die Bemühungen zur Schaffung einer Tageszeitung in der Standardsprache "Rumantsch grischun" siehe unten, Teil I, 8c (Presse).
Auch im Kanton Graubünden laufen Bestrebungen, die Zweisprachigkeit der Bevölkerung bereits auf
Schulstufe sicherzustllen. Im oberengadinischen Samedan, in dem sich nur noch 10% der Bevölkerung zum Romanischen bekennen, soll im nächsten Jahr an den Schulen das sogenannte Immersionsmodell eingeführt werden. Dabei werden Deutsch und Rätoromanisch in der ganzen Volksschule als zwei gleichwertige Sprachen behandelt und im Unterricht verwendet
[37].
Der Versuch, das Rätoromanische in der
Armee zu institutionalisieren, muss als gescheitert betrachtet werden. Die 1988 versuchsweise eingeführten vier Romanen-Kompanien der Füsiliere wurden mit der Armee-Reform 95 wieder abgeschafft. Grund dafür waren Rekrutierungsprobleme bei den Kaderleuten
[38].
Die alle drei Jahre stattfindende
"Scuntrada rumantscha" stand ganz im Zeichen sprachpolitischer Fragen. Schwerpunkte der Veranstaltung waren die Themenbereiche "Schule und Sozialisation", "Formen und Normen" sowie "Kommunikation". Abschluss und Höhepunkt der diesjährigen "Scuntrada" bildete der Festakt zum 75-Jahr-Jubiläum der "Lia Rumantscha", an dem auch Nationalratspräsidentin Gret Haller und BAK-Direktor David Streiff teilnahmen
[39].
[25]
BüZ, 18.1. und 11.5.94; Presse vom 26.1. und 31.5.94;
TA, 30.5.94. Siehe dazu
SPJ 1992, S. 278 und
1993, S. 260 f.25
[26]
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 695 ff.; Presse vom 16.6.94.26
[27]
Verhandl. B.vers., 1994, II, S. 153.27
[28]
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 709 ff.28
[29]
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 35 ff., 852 f. und 859 ff. Siehe auch
SPJ 1993, S. 262.29
[30]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 396 ff. und 1192. Erziehungsfachleute aus der ganzen Schweiz gründeten im November in Luzern die "Schweizer Arbeitsgemeinschaft zur Förderung des mehrsprachigen Unterrichts" (
NZZ, 19.11.94;
NQ, 22.11.94).30
[31]
Lib., 16.6. und 18.6.94. Siehe auch
SPJ 1990, S. 268 f.31
[32]
NQ, 25.4.94;
Bund, 4.7.94;
Lib., 26.4., 19.7., 30.8. und 23.9.94. Vgl.
SPJ 1993, S. 262. Der Berner Stadtrat überwies ein Postulat zur Prüfung der Möglichkeit, an den Stadtberner Schulen verschiedene Fächer französisch zu unterrichten (
BZ, 18.11.94).32
[33] Presse vom 23.8.94;
LNN und
CdT, 5.9.94. Frühitalienisch steht auch im Kanton Graubünden zur Diskussion (
BüZ, 1.6.94). Vgl.
SPJ 1991, S. 260 und
1993, S. 243.
33
[35]
BüZ, 13.12. und 15.12.94.35
[38]
BüZ, 16.7.94. Vgl.
SPJ 1987, S. 229.38
[39]
Büz, 11.10.-17.10.9439
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