Année politique Suisse 1995 : Eléments du système politique / Structures fédéralistes
Beziehungen zwischen Bund und Kantonen
Der Nationalrat wandelte eine Motion Epiney (cvp, VS) für ein neues Staatskonzept, den
kooperativen Föderalismus, auf Wunsch des Bundesrates in ein Postulat um. Die Regierung begründete ihren Antrag damit, dass einerseits eine schrittweise Reform des bestehenden föderalistischen Systems effizienter sei als die Ausarbeitung eines neuen Konzepts, und dass andererseits konkrete Forderungen des Motionärs wie z.B. die Bevorzugung von Rahmengesetzen gegenüber detaillierten Erlassen oder die Erleichterung der grenzüberschreitenden regionalen Zusammenarbeit bereits erfüllt seien
[1].
Die beiden Christlichdemokraten Engler (AI) und Cottier (FR) hatten 1993 mit Motionen ein Massnahmenpaket für eine grundlegende Erneuerung des föderalistischen Systems vorgeschlagen. Der Ständerat hatte 1994 die Mehrzahl ihrer Forderungen in ein Postulat umgewandelt, das Begehren nach einer stärkeren
institutionalisierten Mitwirkung der Kantone bei der Aussenpolitik jedoch in der verbindlichen Motionsform überwiesen. Inzwischen hatte sich auf Wunsch der Konferenz der Kantonsregierungen eine aus Vertretern des Bundes und der Kantone paritätisch besetzte Arbeitsgruppe gebildet. Diese soll - zusammen mit dem Institut für Föderalismus an der Universität Freiburg - einen Vorschlag für ein entsprechendes Mitwirkungsgesetz ausarbeiten. Obwohl der Bundesrat angesichts dieser neuen Lage gegen einen Parlamentsauftrag in Motionsform nichts mehr einzuwenden hatte, wandelte der Nationalrat auch diesen Teil der Motion in ein Postulat um
[2].
Anfangs Oktober präsentierte die erwähnte paritätische Arbeitsgruppe ihren
Entwurf für ein Mitwirkungsgesetz der Kantone in der Aussenpolitik. Dieser sieht vor, dass die Kantone bei der Vorbereitung von aussenpolitischen Entscheiden informiert und angehört werden müssen. Uneinig war man sich über den Grad der Verbindlichkeit der dabei abgegebenen kantonalen Stellungnahmen. Die Vertreter des Bundes plädierten dafür, dass diese nicht bindend sein sollen. Die Kantonsvertreter setzten sich demgegenüber - zumindest bei Vorhaben, die in die Kompetenzen der Kantone eingreifen - für eine verpflichtende Wirkung ein, von der nur abgewichen werden darf, wenn es für das Landesinteresse unumgänglich ist
[3].
Als Zweitrat nahm auch der Ständerat von dem im Vorjahr vom Bundesrat vorgelegten
Bericht über die grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit und die Mitwirkungsrechte der Kantone an der Aussenpolitik Kenntnis
[4].
Das Parlament stimmte der Beteiligung der Schweiz an
INTERREG II, der Fortsetzung eines Gemeinschaftsprogramms der EU zur Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, zu. Der Beschluss war jedoch umstritten. Einzelne
Ständeräte kritisierten nicht die Zusammenarbeit an sich, sondern
die Absicht, den Kantonen für Organisation, Vorbereitung und Planung von regionalen Projekten Subventionen auszurichten (die Bundesbeiträge an die Realisierung der konkreten Projekte sind von der Vorlage nicht betroffen). Ein Rückweisungsantrag Schiesser (fdp, GL), mit dem Auftrag an den Bundesrat, lediglich eine Vorlage für die bundesstaatliche Finanzierung von flankierenden Massnahmen (Koordination, Kontaktvermittlung zur EU) auszuarbeiten, blieb mit 23:12 Stimmen in der Minderheit. In der Gesamtabstimmung sprach sich der Ständerat mit 23:4 Stimmen für das Projekt aus. Zugunsten des Beschlusses hatten sich in der Debatte vor allem die Vertreter der französischsprachigen Kantone eingesetzt. Auch wenn es sich bei den knapp 5 Mio Fr. pro Jahr für die 16 betroffenen Kantone um eine Bagatellsubvention handle, sei ihrer Meinung nach die Zustimmung wichtig, weil sie auch ein Zeichen gegenüber der EU für die Kooperationsbereitschaft der Schweiz darstelle
[5].
Im
Nationalrat gesellten sich zu den in der kleinen Kammer geäusserten föderalistischen und finanzpolitischen Bedenken auch noch europapolitische Einwände. Ein von Steffen (sd, ZH) eingebrachter Nichteintretensantrag scheiterte aber deutlich mit 130 zu 23 Stimmen
[6].
Als neben Graubünden letzter Grenzkanton hat sich das
Tessin mit seinen Nachbarn (den drei italienischen Provinzen Como, Varese und Verbania) zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen. Das Ziel dieses "Regio insubrica" genannten Gremiums ist eine Verstärkung und eine bessere Koordination der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit
[7].
Mit einer Motion wollte Ständerat Loretan (fdp, AG) die politische
Stellung der Gemeinden und Städte aufwerten. Er verlangte, im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung die eigenständige Rolle der Gemeinden neben den Kantonen und dem Bund bei der Erfüllung politischer Aufgaben verfassungsrechtlich zu verankern. Den Grundsatz, dass die Beziehungen zwischen Bund und Gemeinden über die Kantone laufen, wollte er zwar beibehalten, ihn aber flexibler gestalten und Ausnahmen zulassen. Zudem sollte die bundesstaatliche Politik in Zukunft nicht nur die Auswirkungen auf die Kantone, sondern explizit auch auf die Gemeinden berücksichtigen. Als letzter Punkt forderte die Motion eine verfassungsmässige Garantie der Gemeindeautonomie in dem von den Kantonen vorgegebenen Rahmen. Bundesrat Koller stellte in seiner Antwort fest, dass der dreistufige Aufbau des Staates (Gemeinden, Kantone, Bund) in der politischen Realität de facto anerkannt sei. Aus föderalistischen Gründen solle aber die Funktion der Gemeinden weiterhin nicht in der Verfassung des Bundes, sondern in den Kantonsverfassungen definiert werden. Im weiteren seien, v.a. bei projektbezogenen Fragestellungen, bereits heute direkte Kontakte zwischen Bundesbehörden und Gemeinden gängige Praxis. Gegen eine bundesstaatliche Garantie der Gemeindeautonomie erhob Koller föderalistische Einwände. Auf seinen Antrag wurde die Motion lediglich als Postulat überwiesen
[8]. Der Nationalrat überwies ebenfalls ein von Sandoz (lp, VD) mit staatsrechtlichen Argumenten bekämpftes Postulat Gross (sp, ZH) für die Ausarbeitung eines Berichtes über die Lage der Städte und über mögliche Massnahmen für eine Aufwertung ihrer politischen Stellung
[9].
Der Kanton Freiburg versuchte als erster, den Bedürfnissen nach einer engeren
Zusammenarbeit zwischen Kernstadt und Vorortsgemeinden durch die Schaffung einer speziellen staatlichen Institution, einem Agglomerationsrat, Rechnung zu tragen. Gemäss dem im Januar von der Regierung präsentierten Vorentwurf soll eine solche Agglomeration - konkret in Frage kommen die Regionen Freiburg und Bulle - über eine Exekutive und eine Legislative verfügen, welche in gemeindeübergreifenden Fragen, wie z.B. Verkehrspolitik, mit Entscheidungskompetenzen ausgerüstet sind. Das Kantonsparlament hiess die Neuerung noch im Berichtsjahr gut
[10].
[1]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1592 f. Vgl. auch
SPJ 1993, S. 47.1
[2]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 507 ff. Vgl.
SPJ 1994, S. 47. Zur 1993 gegründeten Konferenz der Kantonsregierungen siehe
SPJ 1993, S. 46.2
[3]
TA, 7.10. und 16.12.95.3
[4]
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 1 ff. Vgl.
SPJ 1994, S. 46. Siehe auch
Lit. Bradke,
Lit. Braillard und
Lit. Lereche.4
[5]
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 117 ff. Vgl.
SPJ 1994, S. 46 f. Zu den Massnahmen zur Stärkung der regionalen Wirtschaftsstrukturen siehe unten, Teil I, 4a (Strukturpolitik).5
[6]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 426 ff.;
BBl, 1995, II, S. 464;
AS, 1995, S. 4089 ff. Zur Anwendung des Beschlusses siehe auch
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1718.6
[7]
CdT, 20.1., 26.1. und 18.11.95;
NZZ, 7.2.95. Siehe allgemein auch
BZ, 30.10. und 6.11.95.7
[8]
Amtl. Bull. StR, 1995, S. 1177. Siehe auch
SoZ, 9.7.95;
TA, 16.9.95. Vgl.
SPJ 1994, S. 47. Zur Berücksichtigung der finanziellen Zentrumslasten der Städte siehe unten, Teil I, 5 (Finanzausgleich). Für den Vorschlag der CVP, die Funktion der Städte in der Verfassung zu verankern, siehe unten, Teil IIIa (CVP).8
[9]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2578 f. Siehe
SPJ 1994, S. 47.9
[10]
BaZ, 14.1.95;
SGT, 16.1.95;
Lib., 19.3.95. Siehe unten, Teil II, 1h.10
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