Année politique Suisse 1995 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
Sozialhilfe
Das
Vormundschaftsrecht aus dem Jahr 1907 ist nicht mehr zeitgemäss und soll deshalb zu einem modernen Betreuungsrecht umgestaltet werden. Das EJPD bestellte dazu Vorschläge bei einer dreiköpfigen Expertengruppe, welche feststellte, dass das geltende Vormundschaftsrecht unnötig blossstellend wirkt. Ausgangspunkt der revidierten Gesetzgebung soll deshalb in erster Linie die
Würde des einzelnen Menschen und sein Selbstbestimmungsrecht sein. Nach Ansicht der Experten erfordert die Menschenwürde aber unter Umständen für besonders hilfsbedürftige Personen - psychisch Kranke, geistig Behinderte, Betagte, Suchtkranke - eine teilweise Fremdbestimmung
[45].
Gemäss Schätzungen haben im Berichtsjahr etwa
275 000 Personen
oder Familien Leistungen der
Sozialhilfe bezogen. Das sind rund 10% mehr als im Vorjahr. Damit ist die Zahl weiterhin angestiegen, allerdings weniger stark als im Schnitt der letzten Jahre. Für die unmittelbare Zukunft rechnen Sozialfachleute mit der gleichen Entwicklung, da ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Armut besteht. Von den ausgesteuerten Arbeitslosen melden sich im Durchschnitt rund ein Drittel innerhalb von drei oder vier Monaten beim Fürsorgeamt
[46].
Angesichts der zunehmenden Armut und der finanziellen Engpässe der öffentlichen Hand sprachen sich die kantonalen Fürsorgedirektoren für ein
koordinierteres Vorgehen aus. In einem Thesenpapier, das noch weiter diskutiert werden soll, schlugen sie die definitive verfassungsmässige Verankerung der Ergänzungsleistungen sowie normierte Bedarfsleistungen für Familien mit Kindern oder Alleinerziehende ohne existenzsicherndes Einkommen vor. Bei der Sozialhilfe möchten die Fürsorgedirektoren vermehrt auf "Massarbeit" setzen, also wirklich nur noch dort helfend eingreifen, wo die Bedürfnisse klar ausgewiesen sind und keine Aussicht auf Lösung durch Eigenverantwortung besteht. Fachleute warnten allerdings davor, diese "Massarbeit", die dann nur mehr die Ärmsten berücksichtigen würde, auf die Spitze zu treiben. Insbesondere seien die Folgekosten, die etwa aufgrund der ungenügenden Sozialisierung der Kinder Minderbemittelter zu erwarten wären, nicht abschätzbar und möglicherweise bedeutend höher als jene für die gesellschaftliche Stützung der Eltern. Um dem wachsenden sozialpolitischen Druck zu begegnen, schlossen sich die
Sozialämter von 14 Städten zu einer Konferenz zusammen. Sie forderten eine Koordinationsstelle für Sozialpolitik auf Bundesebene, die Harmonisierung der materiellen Standards in der Sozialhilfe und ein Recht auf Existenzsicherung in der Bundesverfassung
[47].
Eine Motion von Nationalrat Zisyadis (pda, VD) verlangte vom Bundesrat, in seine Botschaften ans Parlament einen Abschnitt mit dem Titel "Positive Auswirkungen für die Bedürftigen" aufzunehmen. Die Landesregierung verwies darauf, dass es bereits heute üblich sei, bei der Präsentation einer neuen Vorlage nicht nur die Konsequenzen für die Finanzen von Bund und Kantonen, sondern auch für andere Parameter (Gesellschaft, Umwelt etc.) einzubeziehen. Sie beantragte deshalb, die Motion in ein Postulat umzuwandeln und abzuschreiben. Zisyadis bestand auf Überweisung als Motion, worauf der Vorstoss recht deutlich abgelehnt wurde
[48].
Für die Diskussionen über die Einführung eines verfassungsmässig garantierten Mindesteinkommens siehe unten, Teil I, 7c (Grundsatzfragen).
Mit einer Motion wollte Nationalrätin Goll (frap, ZH) den Bundesrat verpflichten, das Opferhilfegesetz (OHG) zu revidieren und die zweijährige
Verjährungsfrist für die Einreichung von Gesuchen zwecks Entschädigung und Genugtuung aufzuheben. Sie verwies dabei auf die Erfahrung, dass sexuell ausgebeutete Frauen und Kinder oft Jahre brauchen, bis sie ihr Schweigen brechen können. Der Bundesrat machte geltend, es sei grundsätzlich richtig, dass ein Entschädigungs- oder Genugtuungsgesuch möglichst rasch eingereicht werden solle, da es mit dem Zeitablauf zunehmend schwieriger werde, die massgeblichen Ereignisse festzustellen und zu überprüfen, ob und inwiefern diese den Schaden verursacht haben. Er anerkannte aber, dass es Situationen gibt, in denen Betroffene am rechtzeitigen Handeln gehindert sein könnten, so namentlich in Fällen, in denen eine
materielle oder emotionale Abhängigkeit vom Täter oder der Täterin besteht (Kindsverhältnis, Ehe, Arbeitsverhältnis) oder in denen aus der Natur der Straftat starke psychische Hemmungen entstehen, die - wie eben bei sexuellen Handlungen - ein rasches Reagieren oft verunmöglichen. Hier könnte seiner Ansicht nach eine flexiblere Regelung der Verwirkungsfrist angezeigt sein. Es wäre aber auch denkbar, die Frist erst ab dem Zeitpunkt laufen zu lassen, in dem das Abhängigkeitsverhältnis beendet ist, wie dies etwa der Kanton Zürich in seinem Einführungsgesetz zum OHG vorgesehen hat. Da das OHG erst am 1. Januar 1993 in Kraft getreten ist, möchte der Bundesrat vorerst mit dem Gesetz Erfahrungen sammeln. Er beantragte deshalb erfolgreich Umwandlung in ein Postulat
[49].
Im Herbst eröffnete in Bern das
Therapiezentrum des Schweizerischen Roten Kreuzes
für internationale Folteropfer seine Tore. Obgleich der Bedarf ausgewiesen ist und die Notwendigkeit sowohl vom Bund wie von Fachkreisen anerkannt wird, kämpft das Zentrum von Beginn an finanziell ums Überleben. Primär von privaten Spenden getragen, erhielt die Institution vom Bund eine Starthilfe von 300 000 Fr. und darf auch 1996 mit einem Zustupf von 150 000 Fr. rechnen. Gegenwärtig beruft sich der Bund für seine nicht eben grosszügige Hilfe noch auch fehlende rechtliche Grundlagen, will diese aber im Rahmen des revidierten Asylgesetzes schaffen. Dies ist umso dringender, als sich die Schweiz mit der Unterzeichnung der UNO-Konvention gegen Folter verpflichtet hat, den Folteropfern eine Rehabilitation anzubieten. Von den Kantonen beteiligten sich lediglich Bern als Standortkanton sowie die Kantone Appenzell Ausserrhoden, Neuenburg und Schwyz mit Beträgen zwischen 100 000 Fr. und 10 000 Fr. an den Kosten des Zentrums
[50].
[45] Presse vom 13.9.95; D. Freiburghaus, "Persönlich betreuen statt bevormunden", in
Plädoyer, 1995, Nr. 6, S. 22 ff. (Zusammenfassung der Expertenvorschläge).45
[46] Presse vom 12.12.95. Die Sozialämter haben für die höchsten Risiken, von Sozialhilfe abhängig zu werden, den Begriff der "A-Bevölkerung" entwickelt: Arbeitslose, Alleinstehende, Alte, Auszubildende, Asylbewerber und Abhängige (
TA, 24.11.95).46
[47] Presse vom 22.9.95. Städte: Presse vom 19.9.95. Für einen Bericht des BA für Sozialversicherung über die kantonalen Gesetzgebungen im Bereich Sozialhilfe siehe
CHSS, 1995, S. 219 ff. Ende Jahr musste der Kanton Aargau, der als erster und einziger Kanton der Schweiz die Sozialhilfe nicht mehr nach den Richtlinien der Schweiz. Konferenz für öffentliche Fürsorge, sondern nach den Massstäben des betreibungsrechtlichen Minimums ausrichtet, eingestehen, dass mit der Anwendung der tieferen Ansätze kaum Einsparungen erzielt wurden (Presse vom 23.12.95).47
[48]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2122.48
[49]
Amtl. Bull. NR, 1995, S. 935 f.49
[50]
Ww, 5.10.95;
TA, 2.12.95;
Bund, 2.12.95. Siehe
SPJ 1994, S. 214.50
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