Année politique Suisse 1996 : Enseignement, culture et médias / Culture, langues, églises
Sprachen
Die Vorsteherin des federführenden EDI, Bundesrätin Dreifuss, eröffnete Mitte Januar die Abstimmungskampagne für den von den eidgenössischen Räten nach langem Hin und Her in der Herbstsession des Vorjahres verabschiedeten revidierten
Sprachenartikel der Bundesverfassung (Art. 116 BV). Als Kernpunkte der Vorlage nannte sie das explizite Bekenntnis zu den vier Landessprachen, die Förderung von Verständigung und Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften, die Pflicht des Bundes zur Unterstützung der Kantone Graubünden und Tessin bei der Spracherhaltung sowie die Aufwertung des Rätoromanischen zur Teilamtssprache. Zur konkreten Umsetzung des revidierten Verfassungsartikels stellte Dreifuss ein Amtssprachen- und ein Verständigungsgesetz in Aussicht, welche noch in der laufenden Legislatur dem Parlament vorgelegt werden sollen
[24].
Angesichts der überaus neutralen Formulierung des neuen Sprachenartikels, der auf die beiden Reizworte "Sprachenfreiheit" und "Territorialitätsprinzip" schliesslich verzichtet hatte, ergab sich im Vorfeld der Abstimmung
keine nennenswerte Opposition. Einzig die Delegierten der FP meinten, es sei unnötig, für die rätoromanische Sprache Bundesgelder einzusetzen; dies sei allein Sache des Kantons Graubünden. Die SD ihrerseits vermissten im neuen Sprachenartikel die klare Festschreibung des Territorialitätsprinzips. Alle anderen Parteien gaben - mit Ausnahme einiger weniger Kantonalsektionen - klar die Ja-Parole aus
[25].
Sprachenartikel (Art. 116 BV)
Abstimmung vom 10. März 1996
Beteiligung: 30,0%
Ja: 1 052 052 (76,2%) / 20 6/2 Stände
Nein: 329 153 (23,8%) / 0 Stände
Parolen:
- Ja: FDP (1*), CVP, SVP (2*), SP, GP, LP (1*), LdU, EVP, PdA, EDU; SGB, SGV, Redressement national; Lia Rumantscha, Pro Grigioni Italiani, Walservereinigung Graubündens.
- Nein: FP (1*), SD (1*), KVP.
- Stimmfreigabe: Lega
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Dass sich Bundesrätin Dreifuss beim Auftakt zur
Abstimmungskampagne dahingehend äusserte, die Einführung einer einheitlichen romanischen Schriftsprache erscheine ihr angesichts der Erhebung zur Teilamtssprache als ein Gebot der Vernunft, wurde mancherorts als ein Bekenntnis zum Rumantsch grischun gewertet, welches die Bundesbehörden seit 1986 bei der Übersetzung wichtiger Texte ins Romanische verwenden
[26]. Ende Februar wurde denn auch ein
bündnerisches Gegenkomitee ins Leben gerufen, welches den Sprachenartikel als "Mogelpackung" und "tückische Mausefalle" bezeichnete, mit welcher die traditionellen Bündner Idiome durch Rumantsch Grischun ("diese Sprache ohne Volk und Seele") ersetzt werden sollten
[27]. Diese Verquickung der Diskussion über den revidierten Sprachenartikel mit dem seit Jahren innerhalb der Romantschia schwelenden Streit um die Stellung der Standardsprache Rumantsch grischun hat offensichtlich mit dazu beigetragen, dass der neue Verfassungsartikel in Graubünden mit 68,3% Ja-Stimmen weniger Zustimmung fand als im schweizerischen Durchschnitt. Allerdings fiel auch auf, dass die deutschsprachigen Bündner Gemeinden oft nur ganz knapp zustimmten oder sogar im Lager der Gegner zu finden waren
[28].
Obgleich der Sprachenartikel in allen Kantonen
mit deutlichem Mehr angenommen wurde - der höchste Ja-Anteil (86,1%) fand sich im Kanton Genf, der niedrigste (64,9%) im Kanton Uri -, bewahrheitete sich doch eine der Befürchtungen von Bundesrätin Dreifuss, nämlich das allgemeine Desinteresse an dieser Frage. Mit rund 30% war die Stimmbeteiligung die geringste seit 1975 und die viertschlechteste aller Zeiten, wobei zu sagen ist, dass die übrigen an diesem Wochenende zur Abstimmung anstehenden Fragen eher von sekundärer Bedeutung waren. 42% der im Rahmen der
Vox-Analyse befragten Stimmbürgerinnen und Stimmbürger erklärten sich denn auch ausdrücklich mit der Aussage einverstanden, dass es unnötig sei, das Volk für so unwichtige Vorlagen an die Urne zu rufen. Hauptargument der Ja-Stimmenden, welche sich aus allen politischen Parteien und sozialen Gruppen rekrutierten, war der Schutz der kulturellen Vielfalt im allgemeinen und der rätoromanischen Sprache im speziellen. Befürworter wie Gegner waren sich aber darin einig, dass es an den Bürgerinnen und Bürgern und nicht am Bund liege, die Ziele des Sprachenartikels zu erreichen
[29].
Im Spannungsverhältnis zwischen
Sprachenfreiheit und Territorialitätsprinzip gewichtete das Bundesgericht in einem konkreten Anwendungsfall die individuelle Sprachenfreiheit höher als das Interesse einer Gemeinde an einer homogenen Sprachenlandschaft und rügte die Erziehungsdirektion des Kantons Bern, die einem in einer deutschsprachigen Gemeinde an der Sprachengrenze wohnhaften Kind untersagt hatte, auf Kosten der Eltern eine französischsprachige Primarschule in der Stadt Biel zu besuchen. In ihrem Grundsatzurteil beschieden die Lausanner Richter, eine offensichtliche Beschränkung der Sprachenfreiheit sei nur zulässig, wenn sie auf einer genügenden gesetzlichen Grundlage beruht, im öffentlichen Interesse liegt und sich als verhältnismässig erweist
[30].
Ende Jahr verabschiedete der Bundesrat seine Botschaft über die
Ratifizierung der europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen, wie sie 1992 vom Europarat verabschiedet und 1993 von der Schweiz unterzeichnet worden war. Seit der Annahme des neuen Sprachenartikels in der Bundesverfassung und dem Inkrafttreten der revidierten gesetzlichen Grundlage für die Ausrichtung finanzieller Beiträge an die Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung und Förderung ihrer rätoromanischen und italienischen Sprache erfüllt die Schweiz alle Anforderungen der Charta. Diese ist weder von Personen noch Institutionen direkt anwendbar und hat keine finanziellen Auswirkungen. Sie gilt für Regional- und Minderheitensprachen, jedoch nicht für sprachliche Minderheiten. So können sich zum Beispiel spanische oder jugoslawische Volksgruppen in der Schweiz nicht auf die Charta berufen. Hingegen ist es möglich, nicht territorial gebundene, aber im Lande verwurzelte Sprachen, wie das Jiddische und die Zigeunersprachen, zu schützen
[31].
Im Einvernehmen mit der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren liess der Bundesrat am 1. Juli in Wien die formelle Absichtserklärung über die
Rechtschreibereform der deutschen Sprache unterzeichnen, welche ebenfalls von Deutschland, Österreich und Liechtenstein paraphiert wurde. Damit treten die neuen Rechtschreiberegeln am 1. August 1998 in Kraft - bis 2005 gilt die alte Schreibweise aber noch nicht als falsch. Für den Bundesrat war in diesem Zusammenhang wichtig, dass die Reform keine strikte Eindeutschung von Wörtern aus anderen Sprachen verlangt, sondern Varianten anbietet. Die unveränderten Bezeichnungen seien wichtig für ein Land mit verschiedenen Sprachgemeinschaften und hätten eine Brückenfunktion. Die Reform bringe vielerlei Erleichterungen, werde aber das vertraute Schriftbild nicht wesentlich verändern. Dank der Übergangsfrist entstehen vor allem keine Kosten für die Anpassungen der Schul- und Lehrbücher, da diese innerhalb der nächsten sieben Jahre ohnehin im normalen Rhythmus erneuert werden. Während der Übergangsfrist müssen die Lehrer die alte Schreibweise zwar als "veraltet" korrigieren, dürfen diese aber nicht als Fehler zählen, führte die Bundeskanzlei aus
[32].
Die Schweiz trat anfangs April der "Agence de coopération culturelle et technique" bei, dem Herzstück der 50 Länder umfassenden Organisation der frankophonen Staaten
[33].
Vertreter der welschen Mehrheit im Kanton
Freiburg, welche sich seit Jahren für die konkrete Umsetzung des 1990 in die Staatsverfassung aufgenommenen Territorialitätsprinzips einsetzen, publizierten ein "Manifeste de Marly", in welchem sie die definitive und unverrückbare Festsetzung der Sprachgrenzen verlangten; Kompromisse, wie sie in Marly praktiziert werden, wo die deutschsprachigen Kinder auf Kosten der Gemeinde die deutschsprachige Schule im nahegelegenen Freiburg besuchen können, dürften nicht mehr vorkommen
[34].
Für die Gründung der Università della Svizzera italiana siehe oben, Teil I, 8a (Hautes Ecoles).
Eine von den Bundesämtern für Statistik und Kultur gemeinsam in Auftrag gegebene
Studie zeigte, dass - allen Unkenrufen zum Trotz - die rätoromanische Sprache noch immer lebendig ist, dass sie nach wie vor an die jüngeren Generationen tradiert wird und dass sie noch erhalten werden kann, wenn die notwendigen Bedingungen geschaffen werden. Zwischen 1880 und 1990 ging zwar der Anteil jener Personen, die Rätoromanisch als Muttersprache bezeichnen, von 1,36% auf 0,8% der Gesamtbevölkerung zurück, doch spricht in den rätoromanischen Stammlanden nach wie vor die Hälfte der dort lebenden Bevölkerung zu Hause rätoromanisch. In den Gemeinden, wo das Rätoromanische teilweise Unterrichtssprache und in Behördensachen offizielle Sprache ist, wird das Rätoromanisch noch weitgehend an die Kinder weitergegeben, weshalb der Fortbestand in der heranwachsenden Generation als gesichert betrachtet werden kann
[35].
Die Annahme des Sprachenartikels in der Bundesverfassung, mit welchem das Rätoromanische zur Teilamtssprache und damit zur Umgangssprache zwischen dem Bund und den Bürgerinnen und Bürgern rätoromanischer Zunge erhoben wurde, heizte die Diskussionen um die Standardsprache
Rumantsch Grischun erneut an. Die Ankündigung, dass der Bund seinen Beamten Kurse in Rumantsch Grischun anbieten werde, erhitzte die Gemüter zusätzlich
[36]. Aber auch die Lia Rumantscha drängte nun auf eine rasche Anerkennung des Rumantsch Grischun als Einheitssprache, wurde aber von der Bündner Regierung vorerst zur Zurückhaltung aufgefordert, da die Abstimmung über den Sprachenartikel gezeigt habe, dass diese Frage nach wie vor sehr emotional gehandhabt werde
[37].
Trotz der erwähnten Animosität gegenüber der Standardsprache beschloss die Bündner Kantonsregierung im Sommer, diese zur
dritten Amtssprache neben Deutsch und Italienisch zu ernennen; bisher hatten die beiden romanischen Hauptidiome Sursilvan und Ladin den Status von Amtssprachen. Der Kanton wird sich des Rumantsch grischun aber nur bedienen, wenn er sich an die gesamte romanische Bevölkerung wendet. Sind dagegen Sprachregionen, Gemeinden oder einzelne Bürgerinnen und Bürger die Adressaten von amtlichen Mitteilungen, so können diese auch in deren Dialekt verfasst werden. Nach Ansicht der Kantonsregierung wird die Stellung der Idiome als tragende Basis der romanischen Sprache durch die neue Amtssprachenregelung nicht beeinträchtigt. Rumantsch grischun stelle nicht eine Alternative zu den Regionalsprachen, sondern lediglich eine Ergänzung dar, und zwar ausschliesslich in der schriftlichen Form
[38].
Während der Abstimmungskampagne zum Sprachenartikel sicherte Bundesrätin Dreifuss die
Hilfe des Bundes beim Aufbau der geplanten "Agentura da novitads rumantscha" zu. Gesetzliche Grundlage für das Engagement des Bundes ist das im Vorjahr zusammen mit dem Sprachenartikel revidierte Gesetz über Beiträge an die Kantone Graubünden und Tessin zur Erhaltung ihrer Sprache und Kultur
[39]. Für den Aufbau der romanischen Nachrichtenagentur bzw. einer Tageszeitung in "Rumantsch grischun" siehe unten, Teil I, 8c (Presse).
Die Bündner Kantonsregierung schlug dem Grossen Rat ein neues
Kulturförderungsgesetz vor, welches auch die Sprachenförderung explizit aufnimmt. Für die Beiträge an die Lia Rumantscha und die Pro Grigioni Italiani fehlte bisher eine eindeutige gesetzliche Grundlage. Diese ist umso notwendiger, als das im Vorjahr angenommene eidgenössische Finanzhilfegesetz die Bundesleistungen von kantonalen Eigenleistungen abhängig macht. Für die Sprachenförderung sind aus den ordentlichen Mitteln 0,8 Mio Fr. vorgesehen; den wesentlichen Beitrag leistet hier mit 4,75 Mio Fr. der Bund
[40].
In Graubünden soll gemäss einem Vorschlag der Kantonsregierung auch in den deutschsprachigen
Primarschulen der Unterricht in einer im Kanton gesprochenen Zweitsprache (Italienisch oder Romanisch) als Obligatorium eingeführt werden. Bisher war eine Fremdsprache (Deutsch) im dreisprachigen Kanton einzig für Unterschüler romanischer oder italienischer Muttersprache Pflichtfach. Der Bündner Grosse Rat stimmte diesem Konzept zu, so dass es im Schuljahr 1999/2000 erstmals zur Anwendung gelangen wird
[41].
[24] Abstimmungskampagne: Presse vom 10.1. bis 8.3.96. Siehe
SPJ 1995, S. 295 f.24
[25]
NZZ, 12.2. und 15.2.96. Auch der Vorstand der Bündner FP lehnte den Sprachenartikel ab (
BüZ, 23.2.96).25
[26]
BüZ, 10.1. und 11.1.96. In die Einheitssprache übersetzt wurden insbesondere die BV, das OR und das ZGB (
NZZ, 6.7.96).26
[27]
BüZ, 26.2. und 27.2.96. Bei einem Auftritt in Chur hatte Dreifuss demgegenüber erklärt, dass mit der Abstimmung nicht über die Verwendung von Rumantsch grischun als Publikationssprache entschieden werde (Presse vom 12.2.96).27
[28]
BBl, 1996, II, S. 1056 ff. Presse vom 11.3.96. Im Vorfeld der Abstimmung hoffte die Bündner Regierung noch auf eine massive Zustimmung der Bevölkerung; mit Pressecommuniqués forderte sie die Stimmberechtigten auf, ein uneingeschränktes Ja in die Urne zu legen (
BüZ, 20.2. und 22.2.96). 28
[29]
BBl, 1996, II, S. 1056 ff.; M. Delgrande / W. Linder,
Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 10. März 1996. VOX-Analyse Nr. 58, Bern 1996. Als direkte Konsequenz des neuen Sprachenartikels wurde erstmals ein Urteil des Bundesgerichtes in romanischer Sprache - und zwar in Rumantsch grischun - verfasst (Presse vom 11.6.96).29
[30]
Bund, 18.9.96;
NZZ, 25.9.96.30
[31]
BBl, 1997, I, S. 1165 ff.31
[32]
BBl, 1996, V, S. 69 ff.; Presse vom 9.5.96;
NZZ, 3.6. und 11.10.96;
Bund, 26.6. und 19.9.96;
SGT, 15.10. und 19.10.96;
SHZ, 19.12.96. Eine ähnliche Vereinheitlichung und Vereinfachung der Orthographie kommt auch in der Frankophonie zur Anwendung (
Express, 5.9. und 14.10.96;
24 Heures, 4.7.96).32
[33]
BBl, 1996, I, S. 259;
NQ, 29.3.96. Vgl.
SPJ 1995, S. 297.33
[34]
Lib., 23.1. und 14.3.96;
TA, 26.1.96;
NLZ, 31.1.96;
JdG, 1.2.96;
Bund, 2.2.96;
Hebdo, 8.2.96;
BüZ, 19.2.96;
NQ, 15.3.96. Siehe
SPJ 1993, S. 262.34
[36]
SZ, 6.1.96;
BüZ, 11.1.96.36
[37]
BüZ, 7.2. und 12.3.96.37
[38] Presse vom 6.7.96. Für die Zukunft der romanischen Sprache mit oder ohne Rumantsch grischun siehe
BüZ, 31.1., 5.2., 16.2., 22.2., 23.2. und 27.2.96. Vgl.
SPJ 1995, S. 297. Bundesbern begrüsste den Entscheid der Bündner Regierung, da damit die Ausarbeitung eines Amtssprachengesetzes erleichtert werde (
BüZ, 9.7.96).38
[39] Presse vom 12.2.96. Siehe
SPJ 1995, S. 296.39
[41]
BüZ, 6.6. und 19.9.96;
CdT, 8.10.96.41
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