Année politique Suisse 1999 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
 
Sozialhilfe
Die OECD veröffentlichte eine Studie über die Wirksamkeit der Sozialhilfe in der Schweiz und in Kanada. Als Stärke des schweizerischen Systems bezeichnete sie das relativ hohe Leistungsniveau, welches eine generelle Verarmung weitgehend verhindere. Kritik übte sie aber an der mangelnden Integration eigentlich arbeitsfähiger Sozialhilfeempfänger in den Arbeitsmarkt. Paradoxerweise seien die positiven Effekte eng mit den negativen verknüpft. Durch die lange Ausrichtung von Arbeitslosenunterstützung und die bedarfsgerechte Ausgestaltung der Leistungen der Sozialhilfe könne eine schlechter bezahlte Arbeit unattraktiv werden. Ungünstig sei auch, dass ein durch Arbeit erzielter Verdienst vollumfänglich von der Sozialhilfe abgezogen werde; auch dies ermutige nicht zur Aufnahme einer Arbeit. Das kanadische System, in dem ein Sozialhilfebezüger durch Arbeit seine Situation verbessern kann, biete einen stärkeren Anreiz für die Integration in den Arbeitsmarkt [69].
Eine Analyse der Schweizerischen Konferenz für öffentliche Sozialhilfe (SKOS) kam nach einer Befragung in 2082 Gemeinden zum Schluss, dass sich zumindest in der Deutschschweiz die Zahl der Sozialhilfebezüger allein in der ersten Hälfte der 90er Jahre mehr als verdoppelt hat. Gemäss SKOS haben die wirtschaftlichen und familiären Veränderungen zu einer massiven Verschärfung der sozialen Belastungen geführt. Es sei deshalb nicht länger tragbar, dass die Sozialhilfe praktisch allein die Folgen des Strukturwandels tragen müsse; das würde praktisch einer Kantonalisierung und Kommunalisierung der Armut und der Folgen der wirtschaftlichen Rezession gleichkommen. Die SKOS verlangte deshalb dringlich eine Koordination der kantonal geregelten Sozialhilfe mit den Sozialversicherungen des Bundes. Um Rechtsgleichheit sowie einen verbesserten Lastenausgleich zu erreichen, wäre laut SKOS ein Rahmengesetz des Bundes für die soziale Sicherheit nötig, das sowohl die Sozialversicherungen wie die Sozialhilfe mit einbezieht und den neuen sozialen Risiken (Unterbrüche in der Erwerbsarbeit und veränderte Familienformen) Rechnung trägt [70].
Mit zwei Motionen wollten die Nationalräte Epiney (cvp, VS) und Jutzet (sp, FR) erreichen, dass bei Betreibungen insbesondere von Familien mit Kindern ein Existenzminimum garantiert wird, welches ungefähr jenem der neuen SKOS-Richtlinien entspricht. Der Bundesrat verwies darauf, dass mit der Revision des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs (SchKG), welche 1997 in Kraft trat, alle Fürsorgeleistungen absolut unpfändbar sind. Zudem sei bereits mit dem eigentlichen SchGK den Vollstreckungsbehörden ein grosser Ermessensspielraum eingeräumt worden. Aus diesen Gründen erachte die Landesregierung es als nicht dringend, zentrale Fragen der Lohnpfändung erneut zu regeln, doch zeigte sie sich bereit, das Anliegen zu prüfen, weshalb sie in beiden Fällen Umwandlung in ein Postulat beantrage. Beide Vorstösse wurden jedoch von Stamm (fdp, AG), jener von Jutzet zudem von Bortoluzzi (svp, ZH) bekämpft und somit vorderhand der Diskussion entzogen [71].
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Armut
Im Januar legte der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) eine Studie zur Situation der „Working poor“ vor, also jener Menschen, die trotz regelmässiger Erwerbsarbeit von Armut betroffen sind. Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigten jene früherer Berichte. Gemäss SGB leben 3% bis 5% der Vollzeitbeschäftigten unterhalb der Armutsgrenze, d.h. sie erzielen ein Einkommen von weniger als 50% des Medianlohnes. Als einzigen Lichtblick wertete der SGB den Umstand, dass die Zahl der betroffenen Personen in den letzten Jahren nicht weiter zugenommen hat. Tief- und Tiefstlöhne werden vor allem in der Landwirtschaft, im Detailhandel, in der Hotellerie, im Gastgewerbe sowie bei den persönlichen und häuslichen Dienstleistungen ausgerichtet. Deutlich stärker trifft es zudem Selbstständigerwerbende, unter 25jährige und über 60jährige Erwerbstätige. Der höchste Anteil an Tieflohnbezügern verzeichnet der Kanton Tessin. Ausgehend von diesen Feststellungen verlangte der SGB einen garantierten monatlichen Mindestlohn von 3000 Fr. [72].
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Opferhilfe
Wegen der Kostenexplosion bei den Genugtuungszahlen, dem organisatorischen Wirrwar bei der Unterstützung der Opfer des Luxor-Attentats von 1997 sowie weiterer Unzulänglichkeiten des Gesetzes beschloss das Bundesamt für Justiz, das Opferhilfegesetz einer ersten Revision zu unterziehen. Zur Debatte steht dabei auch der Abbau von Leistungen, so etwa die Streichung der Opferhilfe für Verkehrsunfälle und die Reduktion oder gar Abschaffung von Genugtuungszahlungen. Im Berichtsjahr wurden zusammen mit den kantonalen Opferhilfestellen die Revisionsanliegen aufgelistet; im Jahr 2000 soll dann eine Expertenkommission das Gesetz grundlegend überarbeiten [73].
Gleichzeitig gab das EJPD eine Teilrevision des OHG in die Vernehmlassung, welche minderjährige Opfer (unter 16 Jahren) im Strafverfahren besser schützen will. Insbesondere sollen sich Opfer von sexuellen Übergriffen und Beschuldigte möglichst nicht begegnen und die Befragung der Opfer auf das Notwendigste beschränkt werden [74].
 
[69] L’aide sociale au Canada et en Suisse, Paris (OCDE) 1999; Presse vom 30.10.99. Es war dies der dritte Ländervergleich, den die OECD zum Thema der Sozialhilfe ausarbeiten liess; Kanada und die Schweiz wurden gewählt, weil sie ähnliche föderalistische Strukturen haben.69
[70] Lit. Fluder / Stremlow; Presse vom 24.4. und 29.6.99 (Vergleich der Soziallasten von acht Schweizer Städten); NZZ, 28.6.99 (Interview mit dem neuen SKOS-Präsidenten); TA, 5.7.99. Gemäss SKOS liegt die Unterstützungsquote in Zentrumsgemeinden drei- bis viermal über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt; die höchsten Zuwachsraten weisen Gemeinden mittlerer Grösse auf, v.a. Agglomerationsgemeinden, während es auf dem Land besonders viele Haushalte mit Einkommen unter der Armutsgrenze gibt, die keine Sozialhilfe beziehen.70
[71] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 482 ff. Heute beträgt das betreibungsrechtliche Existenzminimum einer alleinstehenden Person 1010 Fr., das eines Ehepaares mit 2 Kindern 2100 Fr. (LT, 10.3.99). Das Existenzminimum gemäss SKOS-Richtlinien ist um einige hundert Franken höher angesetzt. Siehe dazu auch die Ergebnisse einer von der Schweizerischen Konferenz der Betreibungs- und Konkursbeamten in Auftrag gegebenen Studie (BaZ, 24.3.99). Als Ursache für Verschuldung und Betreibung wird von Sozialfachleuten häufig der allzu leichte Zugang zu Konsumkrediten genannt; zur Revision des Konsumkreditgesetzes siehe oben, Teil I, 4a (Wettbewerb).71
[72] Presse vom 7.1.99. Siehe SPJ 1998, S. 250. Der Medianlohn wird als jenes Einkommen definiert, das die Bevölkerung in zwei gleich grosse Lager aufteilt, die Mehr- und die Wenigerverdienenden. 1997 betrug er 52 920 Fr. Er ist tendenziell tiefer als der Durchschnittslohn, bei dem sehr hohe Saläre die Statistik eher verfälschen. International hat es sich etabliert, die Armutsgrenze bei 50% des Medianlohnes anzusetzen. Zur Forderung des SGB nach Mindestlöhnen siehe oben, Teil I, 7a (Löhne).72
[73] NZZ, 9.3.99; TA, 28.6.99. Siehe SPJ 1998, S. 250 f. Unter Federführung des EJPD einigten sich die Vertreter der Opfer des Attentats von Luxor und die Reiseveranstalter auf eine einvernehmliche Schadenregelung. Der Bund entrichtete den Kantonen, die bis Ende Juli Opferhilfe-Zahlungen in der Höhe von 2 455 924 Fr. leisteten, eine zusätzliche Finanzhilfe von 818 641 Fr.; für das Jahr 2000 ist eine weitere Finanzhilfe von einem Drittel der kantonalen Aufwendungen vorgesehen (NZZ, 30.4., 23.9., 17.11. und 13.12.99).73
[74] SZ, 13.3.99; BZ, 22.7.99.74