Année politique Suisse 2002 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
 
Sozialhilfe
Gemäss einer Untersuchung des BFS über Wohlstand und Wohlbefinden der Schweizer Bevölkerung, die auf einer 1998 durchgeführten Befragung basiert, wird alles in allem ein hohes Mass an Lebenszufriedenheit erreicht. Die einkommensschwachen Schichten, zu denen in erster Linie Alleinerziehende, Ausländer und Ausländerinnen, kinderreiche Familien und Angestellte in Verkaufs- und Dienstleistungsberufen gehören, weisen allerdings in allen angesprochenen Bereichen (Leben insgesamt, Berufs- und Familienleben, finanzielle Situation, Gesundheit, Wohnsituation, Freizeit und soziale Kontakte) Defizite auf und empfinden diese auch subjektiv. Besonders auffällig sind die Unterschiede beim Lebensstandard. Einkommensschwache müssen für Nahrungsmittel und Wohnkosten die Hälfte ihrer Einkünfte aufwenden, während Wohlhabende nur 9,3% für Nahrung und 26% für Wohnung ausgeben. Im Jahr der Umfrage verzichteten 11% der unterprivilegierten Bevölkerungsschicht auf eine Zahnbehandlung, 17% auf Ferien [55].
Eine Caritas-Studie zeigte, dass die Chancen, bei relativ guter Gesundheit ein hohes Alter zu erreichen, je nach sozialem Status ungleich verteilt sind. Wer über einen tiefen Lohn, eine geringe Schulbildung, ein prekäres Arbeitsverhältnis oder einen niedrigen beruflichen Status verfügt, muss mit einer tieferen Lebenserwartung rechnen. Im Durchschnitt lebt ein Akademiker vier bis fünf Jahre länger als ein angelernter Arbeiter. Aber auch bei den Invalidierungen vor Erreichen des Pensionsalters zeigen sich markante Unterschiede. In den freien und wissenschaftlichen Berufen werden nur 2,1% der Männer zwischen 45 und 65 Jahren zu 100% invalid, bei den unqualifizierten Arbeitern hingegen 25,4%. Nach Berufskategorien haben Wissenschafter, Architekten und Ingenieure (2,9-3,9%) das geringste Invaliditätsrisiko, die Bauarbeiter dagegen das höchste (40%), gefolgt von den Hilfsarbeitern in der Industrie (31,3%), den Automechanikern (25,2%) und der Gruppe der Personen, die in den Branchen der Reinigung, der Wartung und des Strassenunterhalts beschäftigt sind [56].
Nach den von der Städteinitiatve „Ja zur sozialen Sicherung“ vorgestellten Daten ging die Zahl der Sozialhilfebezüger 2001 leicht zurück, am stärksten in Basel (-15,8%), Schaffhausen (-7,7%) und Bern (-7,2%), während sie in Sankt Gallen und Winterthur praktisch stabil blieb. Im Durchschnitt erhielten 5% der Einwohner der grossen Schweizer Städte Sozialhilfe. Einmal mehr zeigte sich, dass Kinder das Armutsrisiko enorm beeinflussen: 22,4% aller unterstützter Haushalte waren Einelternfamilien, weitere 13% Familien mit mehreren Kindern. Jedes zehnte Kind lebte in einer Familie, die als arm bezeichnet werden muss. Die Städteinitiative verlangte deshalb erneut rasche Massnahmen zu Gunsten der Familien: Ausdehnung des EL-Systems auf Familien, substantielle Erhöhung der Kinderzulagen, Ausbau der ausserhäuslichen Kinderbetreuung und verstärkte Integration der Jugendlichen aus finanzschwachen Familien in den Arbeitsmarkt [57].
Eine als Minderheitsantrag bei der Legislaturplanung eingereichte Motion Leutenegger Oberholzer (sp, BL) verlangte eine Wirtschaftspolitik, die darauf abzielt, dass alle Frauen und Männer in der Schweiz ihre Existenz durch Erwerbsarbeit sichern können. Anvisiert wurde eine Vollbeschäftigung sowie Massnahmen auf der Lohnebene. Bundesrat Couchepin erinnerte an die immer wieder geäusserte Auffassung des Bundesrates, wonach Vollbeschäftigung Sache der Wirtschaft und nicht des Staates ist. Seiner Meinung nach würden staatlich festgelegte Minimallöhne kontraproduktive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben. Auf seinen Antrag wurde die Motion mit 95 zu 61 Stimmen abgelehnt [58].
Seit 1994 erhalten ausgesteuerte Arbeitslose im Kanton Genf anstatt Fürsorgeleistungen ein garantiertes Mindestsozialhilfeeinkommen (RMCAS), wenn sie bereit sind, im Gegenzug Arbeiten für die Allgemeinheit zu übernehmen oder sich weiterzubilden. Dieses System hatte die Genfer Regierung auf alle Fürsorgebezüger ausdehnen wollen, doch war gegen die Einführung dieses garantierten und nicht rückzahlbaren Mindesteinkommens (revenu minimum de réinsertion, RMR) von rechtsbürgerlicher Seite das Referendum ergriffen worden. Die neue, bürgerlich dominierte Regierung stellte sich ebenfalls mehrheitlich gegen das Gesetz, vornehmlich mit dem Argument, dies würde zu einer Ausdehnung des Kreises der Bezugsberechtigten und zu Mehrkosten führen (67 Mio Fr. anstatt 60 Mio für die Sozialhilfe). Mit 58,5% Nein-Stimmen wurde das RMR in der Volksabstimmung abgelehnt [59].
Anlässlich seines traditionellen Medienspaziergangs auf die Petersinsel sprach sich Bundesrat Couchepin für Steuergutschriften zu Gunsten jener Menschen aus, die trotz Arbeit weniger als das Existenzminimum verdienen (Working poor). Er berief sich dabei auf eine Studie, welche im Auftrag des EVD von der Universität Bern erstellt worden war. Die Autoren der Studie hatten ein Modell mit einem staatlich fixierten Mindestlohn und zwei Modelle mit Steuergutschriften für erwerbstätige Familien auf ihre Praktikabilität und Effizienz hin untersucht. Dabei waren sie zum Schluss gekommen, dass Mindestlöhne die Wirtschaft mit 1,7 Mia Fr. Mehrkosten extrem belasten, die Zahl der Working Poor aber nur unwesentlich verringern würden. Mit Steuergutschriften, die zu Steuerausfällen von rund 360 Mio führen würden, könnte hingegen die Anzahl der unter der Armutsgrenze lebenden Familien (zumindest theoretisch) auf Null gesenkt werden. Eine Finanzierung durch allgemeine Steuern, die progressiv erhoben werden, wäre auch sozialer als höhere Mindestlöhne, die über höhere Preise zumindest teilweise an die Betroffenen überwälzt würden. Couchepin erachtete die Studie als Beitrag zur laufenden Working-Poor-Diskussion. Konkrete Schritte, wie dem Modell politisch zum Durchbruch verholfen werden könnte, wollte er aber keine nennen [60].
top
 
print
Opferhilfe
2000 hatte der Bundesrat von einer umfangreichen Evaluation des seit 1993 in Kraft stehenden Opferhilfegesetzes Kenntnis genommen. Dabei hatte sich gezeigt, dass sich die Praxis immer stärker von den Absichten des Gesetzgebers entfernt, da in den letzten Jahren die normalerweise vorgesehenen Entschädigungen (beispielsweise für Arzt- und Spitalkosten oder für Lohnausfall) zunehmend von den eigentlich nur für besondere Fälle konzipierten Genugtuungen für einen erlittenen moralischen Schaden verdrängt wurden. Diese Entwicklung bewog mehrere Kantone, welche primär für die finanziellen Leistungen an die Opfer einstehen müssen, entweder die Abschaffung der Genugtuungen oder zumindest eine Einschränkung der Anspruchsbedingungen zu verlangen [61].
Ende Jahr gab das EJPD seine Vorschläge für eine Revision des Opferhilfegesetzes (OHG) in die Vernehmlassung. In Übereinstimmung mit den Experten schlug das Departement restriktivere Voraussetzungen für die Auszahlung von Genugtuungen vor: Danach soll ein Anspruch nur bestehen, wenn die Straftat zu einer schweren Beeinträchtigung des Opfers geführt hat, die sich während längerer Zeit auf die Arbeitsfähigkeit, die ausserberuflichen Tätigkeiten oder die persönlichen Beziehungen auswirkt. Überdies soll die Summe nach oben begrenzt sein und sich am maximal versicherten Jahresverdienst in der Unfallversicherung orientieren. Opfer sollen höchstens zwei Drittel (rund 70 000 Fr.), Angehörige ein Drittel (ca. 35 000 Fr.) dieses Betrags erhalten. Eine Besserstellung der Opfer wurde hingegen in der Frage der Verjährungsfrist von Ansprüchen vorgeschlagen: diese soll von zwei auf fünf Jahre, für kindliche Sexualopfer sogar noch weiter verlängert werden. Bei Straftaten, die im Ausland begangen wurden, soll überprüft werden, ob auch ausländische Opfer mit mindestens fünfjährigem Wohnsitz in der Schweiz finanziell entschädigt werden könnten [62].
 
[55] Lit. Sozialberichterstattung; Presse vom 5.11.02. Der NR nahm ein Postulat Rennwald (sp, JU) an, das die Schaffung eines Barometers über die Ungleichheit und die Armut anregt (AB NR, 2002, S. 2161).
[56] Lit.Künzler / Knoepfel; Presse vom 14.11.02.
[57] Presse vom 7.5. und 19.6.02. Siehe SPJ 2000, S. 252. Armut ist weltweit in erster Linie ein Problem der Städte. In Genf wurde deshalb im April der Sitz des „internationalen Solidaritätsfonds der Städte gegen Armut“ eröffnet. Der von Genf, Lyon (Frankreich) und Bamako (Mali) intiierte Fonds will die Zusammenarbeit zwischen den Städten verbessern, um so eine gezielte Armutsbekämpfung zu ermöglichen (AZ, 12.4.02).
[58] AB NR, 2002, S. 217 f.
[59] TG, 7.2., 9.3., 8.5., 15.5., 18.5. und 23.5.02, LT, 9.3., 8.5., 13.5., 28.5. und 29.5.02; WoZ, 23.5.02; Presse vom 3.6.02.
[60] Lit. Gerfin / Leu; Presse vom 3.7.02; WoZ, 4.7.02. Vgl. auch die Ausführungen des BR zu einer Interpellation Schwab (sp, VD) in AB NR, 2002, S. 227. Zum Steuerpaket für Familien siehe oben, Teil I, 5 (Direkte Steuern).
[61] Vgl. SPJ 2000, S. 211. Für das Ausmass der 2001 im Rahmen des OHG erbrachten Leistungen siehe Presse vom 25.10.02.
[62] Presse vom 20.12.02. Für eine als Postulat überwiesene Motion Jossen (sp, VS) zur Verjährungsfrist siehe AB NR, 2002, S. 459. Zum Sexualstrafrecht siehe oben, Teil I, 1b (Strafrecht).