Année politique Suisse 2003 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
Regierung
Am 16. September gab Bundesrat
Villiger (fdp) seinen Rücktritt nach fast fünfzehn Jahren Amtszeit, davon die letzten neun als Vorsteher des Finanzdepartements, auf Ende Jahr bekannt. In den Medien wurde er als nüchterner, effizienter, liberaler und auf Ausgleich bedachter Magistrat gewürdigt
[1]. Da Villiger seine Rücktrittsabsichten vorher angekündigt hatte, war in der Öffentlichkeit intensiv über allfällige Nachfolger spekuliert worden, wobei als Favoriten die Berner Ständerätin Christine Beerli und der Urner Nationalrat Franz Steinegger gehandelt wurden. Gewisse Wahlchancen wurden auch Christine Egerszegi (AG), Felix Gutzwiller (ZH), Hans-Rudolf Merz (AR) und Christian Wanner (SO) zugesprochen. Von ihren Kantonalsektionen nominiert wurden schliesslich Beerli, Egerszegi, der Tessiner Fulvio Pelli, Steinegger und Merz. Die Fraktion beschloss, ein Zweierticket mit Beerli und Merz zu präsentieren
[2].
Das herausragende Ereignis des Jahres in diesem Bereich war aber nicht die Neubesetzung des freisinnigen Bundesratssitzes, sondern das Aufbrechen der seit 1959 praktizierten Formel für die parteipolitische Zusammensetzung der Landesregierung, die sogenannte
Zauberformel. Bereits im Vorfeld der Nationalratswahlen wurde darüber spekuliert, ob bei einem weiteren Vormarsch der SVP auf Kosten der FDP und der CVP ein zweiter Sitz für die SVP noch zu vermeiden wäre. Allerdings wurde die Abwahl eines der beiden wiederkandidierenden Regierungsmitglieder der CVP noch als wenig wahrscheinlicher Tabubruch bezeichnet
[3]. Aus den Parlamentswahlen vom 19. Oktober ging die SVP mit einem Wähleranteil von 26,7% (+4,2%) als eindeutige Siegerin hervor. Indem sie in den französischsprachigen Kantonen Genf, Neuenburg und Waadt zur stärksten bürgerlichen Partei wurde, konnte sie auch ihr bisheriges Manko, fast ausschliesslich eine Deutschschweizer Partei zu sein, abstreifen. Verloren hatten die CVP, welche noch auf 14,4% (-1,5%) kam, und die FDP mit 17,3% (-2,6%); die SP vermochte hingegen ihren Wähleranteil um 0,8% auf 23,3% zu steigern
[4].
Am Abend des Wahlsonntags überraschte der Präsident der
SVP, Ueli Maurer, die Präsidenten der anderen Parteien vor laufender Fernsehkamera mit der
ultimativ vorgetragenen Forderung, dass bei der Gesamterneuerungswahl vom Dezember Christoph Blocher anstelle einer der bisherigen CVP-Vertreter in den Bundesrat zu wählen sei, ansonsten die SVP aus der Regierung austreten werde. Wie sich in letzterem Fall der amtierende Bundesrat der SVP, Samuel Schmid, verhalten würde, blieb offen. Die SVP-Fraktionsführung und später auch die Fraktion und eine Delegiertenversammlung sanktionierten dieses in kleinem Kreis vorbereitete Vorgehen Maurers erst im Nachhinein, aber ohne wesentliche Opposition. Die rasch verstummende parteiinterne Kritik monierte, dass die üblichen Prozeduren bei der Kandidatennomination missachtet würden, und dass ein so wichtiger Entscheid wie ein Regierungsaustritt nur von einer Delegiertenversammlung oder einer Urabstimmung gefällt werden könne
[5].
Die beiden anderen bürgerlichen Regierungsparteien reagierten unterschiedlich. Die
FDP kritisierte zwar das aggressive Vorgehen der SVP, sah aber keinen Grund, deren Anspruch auf einen der beiden CVP-Sitze und die Kandidatur Blocher zu bekämpfen
[6]. Die von der SVP anvisierte
CVP erklärte hingegen, dass ihre Vertreter nicht zurücktreten würden und die Partei sie dabei voll unterstützen werde. Auch ihre Bundesräte Deiss und Metzler liessen nie Zweifel daran aufkommen, dass sie wieder kandidieren würden. Obwohl es an der kompromisslosen Haltung der CVP auch parteiinterne Kritik gab, welche befürchtete, dass nach dem neuerlichen Wahlsieg der SVP ein Beharren auf den zwei Bundesratssitzen für die CVP kontraproduktiv wäre, hielt die CVP-Spitze bis zur Bundesratswahl vom 10. Dezember an dieser Linie fest. In der Vorbereitung des Terrains für die Bundesratswahl machte sich die CVP die Idee der SP zu Eigen, dass die SVP, zumindest vorläufig, den durch die Demission Villigers freiwerdenden FDP-Sitz erhalten solle. Dabei griff sie die FDP auch inhaltlich an: Mit ihrer Unterstützung der Kandidatur Blocher sei diese zum Anhängsel der SVP geworden und nicht mehr repräsentativ für ihre gemässigt bürgerliche Wählerschaft. Diese werde einzig noch durch die CVP vertreten, weshalb deren Anspruch auf zwei Sitze gerechtfertigt sei. Eine Woche vor der Wahl beschloss die Fraktion, an der Wiederkandidatur sowohl von Deiss als auch von Metzler festzuhalten. Zudem entschied sie, dass die zuerst antretende Metzler bei einer Nichtwahl nicht gegen den nach ihr zu wählenden Deiss antreten dürfe
[7].
Die Haltung der
SP war nicht eindeutig und zudem stark von taktischen Interessen geprägt. Im Sommer hatte Parteipräsidentin Brunner eine gewisse Bereitschaft erkennen lassen, der SVP einen zweiten Regierungssitz zulasten der CVP einzuräumen. Sie begründete diese von einem Teil der Linken als Tabubruch empfundene Unterstützung der SVP nicht mit deren Wählerstärke, sondern mit dem Verhalten der CVP, welche zu weit nach rechts gerückt sei. Indirekt gab sie damit der CVP zu verstehen, dass eine SP-Unterstützung für die Verteidigung ihrer beiden Regierungssitze nicht gratis zu haben sei. In der Phase der Wahlvorbereitungen konkretisierte die SP-Spitze diesen Preis und verlangte von der CVP Zusicherungen, in konkreten sozial-, wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen die SP-Positionen mitzutragen. Derartige Vorstösse wurden auch von den Grünen gemacht, welche aber rasch zur Erkenntnis kamen, dass die Positionen der CVP und der GP zu weit voneinander entfernt sind, um eine tragfähige Mitte-Links-Regierung zu bilden
[8]. Obwohl die CVP der SP keine inhaltlichen Zugeständnisse machte, beschloss die SP-Fraktion eine Woche vor der Wahl, die beiden Kandidierenden der CVP zu unterstützen. Nach den Nationalratswahlen war von Brunner auch die von der CVP dankbar aufgenommene Idee ins Spiel gebracht worden, dass die SVP, zumindest vorläufig, den durch die Demission Villigers freiwerdenden FDP-Sitz erhalten könnte
[9].
In der von der Öffentlichkeit mit grosser Spannung erwarteten
Wahl vom 10. Dezember setzte sich die SVP gegen die von der SP und der GP unterstützte CVP durch. Nachdem die amtsältesten Leuenberger und Couchepin mit guten Resultaten wiedergewählt worden waren, musste Ruth Metzler gegen
Christoph Blocher antreten
[10]. Nach einem Patt (116:116) im ersten Wahlgang und einem leichten Vorsprung für Blocher im zweiten (119:117), setzte sich dieser im dritten Wahlgang mit 121:116 bei einem absoluten Mehr von 119 Stimmen (vier waren ungültig, fünf leer) durch. Bei der anschliessenden Wahl von Deiss, welcher von CVP-Fraktionschef Cina (VS) noch einmal ausdrücklich als einziger CVP-Kandidat für diesen Wahlgang empfohlen wurde, stimmten die SVP und eine Mehrheit der FDP für Metzler, welche 96 Stimmen erhielt. Deiss schaffte aber mit 138 Stimmen das absolute Mehr von 121 Stimmen im ersten Wahlgang problemlos. Nachdem anschliessend Schmid und Calmy-Rey im ersten Wahlgang wiedergewählt worden waren, schritt der Rat zur Neubesetzung des Sitzes von Villiger. Bereits im ersten Wahlgang lag Merz mit 115 Stimmen klar vor Beerli (83). Im zweiten Wahlgang wurde er mit 127 bei einem absoluten Mehr von 120 gewählt; Beerli war auf 96 Stimmen gekommen. Der 61jährige
Hans-Rudolf Merz vertrat seit 1997 den Kanton Appenzell Ausserrhoden im Ständerat. Politisch gilt der Volkswirtschafter als Rechtsfreisinniger mit starkem Engagement für Fragen der Finanzpolitik und der Finanzmärkte
[11].
Während sich die Wirtschaft über das Wahlergebnis freute,
reagierte die Linke, und dabei insbesondere ihre weiblichen Vertreterinnen mit Empörung. Nicht nur zog der von ihnen kategorisch als nicht wählbar erklärte Blocher in die Landesregierung ein, sondern durch den Sieg von Merz über die von der Linken unterstützte Beerli wurde die Vertretung der wirtschaftsnahen Rechten im Bundesrat noch zusätzlich verstärkt. Dazu kam, dass mit der Nichtwiederwahl Metzlers und der Niederlage von Beerli die Frauenvertretung in der Regierung auf Calmy-Rey zusammenschrumpfte. Daran waren allerdings die SP-Parlamentarierinnen nicht ganz unschuldig, hatten sie doch nach eigener Aussage bei der Besetzung des CVP-Sitzes für den ihnen politisch näher stehenden Deiss und nicht für Metzler gestimmt. Unzufrieden mit dem Wahlausgang waren aber auch die Frauen der CVP und der FDP. Am Abend nach der Wahl fand in Bern eine erste Protestdemonstration statt, welche am folgenden Samstag in grösserem Rahmen mit rund 12 000 Teilnehmenden wiederholt wurde
[12].
Bei der
Departementsverteilung kam es zu keiner Rochade. Alle Bisherigen behielten ihre Departemente und die Neuen übernahmen die frei werdenden Ressorts: Blocher das EJPD und Merz das Finanzdepartement
[13].
Als Erstrat befasste sich der Ständerat mit der vom Bundesrat vorgeschlagenen Regierungsreform. Man war sich zwar über den Reformbedarf einig, mehrheitsfähig erschien in der Debatte aber nur eine moderate Stärkung der Funktion des Bundespräsidenten. Zur Organisation der Regierung kamen aus der SPK vier Variantenvorschläge: Die Mehrheit wünschte einen vom Parlament bestätigten Stellvertreter für jeden Bundesrat, welcher diesen im Parlament und dessen Kommissionen, im Bundesrat oder im Ausland vertreten könnte, und dem von seinem Chef auch politische Aufgaben in seinem Departement zugeteilt werden. Eine Minderheit der SPK bevorzugte die Aufstockung der Regierung auf neun Mitglieder, eine weitere Minderheit verteidigte das vom Bundesrat vorgeschlagene zweistufige Modell der „Delegierten Minister“ (Stellvertreter mit Einsitz in die Regierung, aber ohne Stimmrecht) und eine dritte Kommissionsminderheit setzte sich für ein reduziertes Stellvertretermodell ein, bei dem jeder Bundesrat einen seiner Kaderleute zu seinem nebenamtlichen Stellvertreter ernennt.
Nachdem Eintreten unbestritten war, unterlagen die Varianten „Delegierte Minister“ und „Stellvertreter mit Minimalfunktionen“ in Eventualabstimmungen. Im definitiven Entscheid setzte sich die
Erhöhung der Zahl der Regierungsmitglieder auf neun mit 26 zu 8 Stimmen gegen das „Stellvertretermodell“ durch. Die Rolle des Bundespräsidenten wurde in dem Sinne gestärkt, dass seine bereits im Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz festgehaltene Führungsrolle nun auch auf Verfassungsstufe formuliert wurde. Konkret hat der Bundespräsident insbesondere dafür zu sorgen, dass der Bundesrat Prioritäten setzt, seine Aufsichts- und Informationspflicht erfüllt und die Termine einhält. Als Neuerung beschloss der Ständerat eine
Verlängerung der Amtszeit des Bundespräsidenten von einem auf zwei Jahre und seine Ausstattung mit einem kleinen Stab (Präsidialdienst). Die von der Kommissionsmehrheit vorgeschlagene Möglichkeit, einen Bundespräsidenten auch für eine zweite anschliessende Amtsperiode zu wählen, fand keine Mehrheit. Der Bundesrat selbst hatte sich aus Sorge um das Funktionieren des Kollegialitätsprinzips gegen jegliche Verlängerung der Amtsdauer ausgesprochen
[14].
Die Durchführung von
Vernehmlassungen ist in der Verfassung vorgesehen und bietet dem Bundesrat die Möglichkeit, Widerstände gegen seine Vorlagen frühzeitig zu erkennen und unter Umständen zu berücksichtigen. Die gegenüber früher stark angewachsene Zahl der Vernehmlassungen führte jedoch zu Klagen der Berücksichtigten, sie seien überfordert. Der Bundesrat gab zu Jahresbeginn einen Entwurf für eine Gesetzesvorlage in die Vernehmlassung, welche die Durchführung dieses Konsultationsverfahrens vereinheitlichen und straffen soll. Vorgesehen ist, dass Vernehmlassungen nur noch zu Vorhaben von „grosser politischer, finanzieller, wirtschaftlicher oder kultureller Bedeutung“ durchgeführt werden. Der Kreis der Beteiligten soll dabei gross bleiben, explizit zur Teilnahme eingeladen würden aber nur noch die Kantone, die im Parlament vertretenen Parteien, die Dachverbände der Interessenorganisationen und speziell interessierte Kreise. Das Echo, namentlich der vier Bundesratsparteien, fiel positiv aus. Der Gewerbeverband hingegen plädierte dafür, dass auch in Zukunft zu Vorlagen mit weitgehend technischem Gehalt (in der Regel Verordnungen) Konsultationsverfahren durchgeführt werden. Gegen Jahresende beauftragte der Bundesrat die Bundeskanzlei mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Gesetzesentwurfs
[15].
[1] Presse vom 17.9.03;
AB NR, 2003, S. 2143 ff.
[2] Nominationen:
Bund, 1.10.03 (Beerli);
AZ, 21.10.03 (Egerszegi);
CdT, 24.10.03 (Pelli); Presse vom 25.10.03 (Steinegger);
TA, 29.10.03 (Merz); Presse vom 27.11.03 (Fraktion).
[3] Korrekterweise müsste man nicht von einer Abwahl, sondern von einer Nichtwiederwahl sprechen, da die Amtszeit für alle bisherigen Bundesräte in der Dezembersession ablief (vgl. dazu
BaZ, 27.10.03). Eine Nichtwiederwahl hatte es seit 1848 erst zweimal (1854, Ochsenbein, und 1872, Chalet-Venel) gegeben. Beide wurden allerdings durch Herausforderer aus derselben Partei (FDP) verdrängt.
[4] Siehe dazu unten, Teil I, 1e (Eidgenössische Wahlen).
[5] Presse vom 20.10. und 21.10.03 (Ankündigung Maurers);
TA, 21.10.03 (Fraktionsführung); Presse vom 25.10.03 (Fraktion);
Bund, 22.10.03 und
TA, 23.10. und 24.11.03 (Kritik); Presse vom 1.12.03 (DV). Zur Vorbereitung der SVP-Ankündigung siehe
LT, 22.10.03 und
Blick, 24.10.03.
[6] Presse vom 21.10., 24.10. und 3.12.03.
[7]
Bund, 21.10.03;
TA, 23.10.03; Presse vom 3.12.03 (Fraktion). Zur CVP-internen Kritik siehe auch
NLZ, 6.11.03 (Gernet),
NZZ, 7.11.03 (Hartmann) und
AZ, 4.12.03 (Carlo Schmid). Zu den Hintergründen des Entscheids der CVP-Spitze siehe auch
SoZ, 28.12.03.
[8] Rechnerisch wäre eine derartige Koalition möglich gewesen, verfügte doch die Linke mit der CVP über eine knappe Mehrheit von 125:121 Stimmen in der Bundesversammlung.
[9]
SGT, 25.6. und 1.7.03;
Blick,
Bund und
TA, 31.10.03 (Forderungen an die CVP);
TA, 22.10.03 (FDP-Sitz);
Blick und
TA, 30.10.03 (CVP);
BZ, 8.11.03 (GP);
NZZ, 3.12.03 (SP-Fraktion).
[10] Da 1999 die Wahl von Metzler vor derjenigen von Deiss stattgefunden hatte, galt sie als Amtsältere und musste demnach zuerst antreten.
[11]
AB NR, 2003, S. 2146 ff.; Presse vom 11.12.03.
[12] Presse vom 11.12. und 15.12.03 (Reaktionen und Demonstrationen);
NZZ, 11.12.03 (CVP- und FDP-Frauen);
TA, 12.12.03 (Economiesuisse-Direktor Ramsauer).
[13] Presse vom 15.12.03. Zur Verabschiedung und Würdigung der nicht wiedergewählten Ruth Metzler siehe
BZ, 19.12.03;
BaZ, 29.12.03.
[14]
AB SR, 2003, S. 10 ff.; Presse vom 5.3.03. Nach diesen Entscheiden konnte der SR eine pa.Iv. Rhinow (fdp, BL) aus dem Jahre 1997 für eine Regierungsreform abschreiben (
AB SR, 2003, S. 46). Vgl.
SPJ 2002, S. 35 f.
[15]
BaZ, 24.1.03;
NZZ, 24.1., 16.4., 2.5. und 13.11.03;
LT, 2.5.03. Siehe auch
AB NR, 2003, S. 2120 und Beilage V, S. 3510 f. (Stellungnahme zu einer als Postulat überwiesenen Motion Keller, svp, ZH). Vgl. auch
Lit. Blaser.
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