Année politique Suisse 2003 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
 
Suchtmittel
Seit 1986 untersucht die Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA) alle vier Jahre die Trends im Konsum von psychoaktiven Substanzen durch Schüler. Das Ergebnis der repräsentativen Erhebung 2002 zeigte, dass Jugendliche nach wie vor sehr früh zur Zigarette greifen und sich gegenüber vorgängigen Untersuchungen markant häufiger mit Alkohol und illegalen Drogen berauschen. Rund ein Viertel der 15- bis 16-Jährigen raucht mindestens einmal wöchentlich, jeder sechste Jugendliche dieser Altersgruppe sogar täglich. Dies entspricht den Zahlen von 1998. Der Tabakkonsum hat sich somit auf hohem Niveau stabilisiert. Der Konsum von Alkohol hat gegenüber früheren Erhebungen hingegen massiv zugenommen. Etwa 40% der männlichen und rund 26% der weiblichen Jugendlichen trinken mindestens einmal pro Woche ein alkoholisches Getränk (1986: 25 resp. 10%). Die Mädchen neigen zu den gesüssten Alcopops, die Jungen bevorzugen nach wie vor Bier. Als problematisch bezeichnete die SFA die Tendenz unter Jugendlichen, sich mit dem Konsum von Spirituosen gezielt zu betrinken. Rund 50% der befragten Schülerinnen und Schüler gaben an, mindestens einmal in ihrem Leben Cannabis konsumiert zu haben (1990: knapp ein Viertel). Besorgniserregend ist gemäss SFA, dass auch die Zahl der mehrmals Konsumierenden stark angestiegen ist [33].
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Tabak
Nach langem Seilziehen einigten sich die 192 Mitglieder der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf eine Rahmenkonvention gegen das Rauchen, das erste internationale Abkommen überhaupt, das die WHO je ausgehandelt hat. Sie tritt in Kraft, wenn 40 Staaten sie ratifiziert haben. Gemäss der Konvention sollen Vertragsstaaten Werbung und Sponsoring verbieten oder zumindest erheblich einschränken, wenn ein Verbot mit ihrer Verfassung nicht zu vereinbaren ist. Der relativierende Zusatz war nötig, um verfassungsrechtliche Bedenken Deutschlands und der USA auszuräumen. Das Verbot gilt auch für grenzüberschreitende Werbung. Bezeichnungen wie „mild“ oder „light“, die verharmlosend wirken, sollen auf Zigarettenpackungen ganz verschwinden. Hinweise auf die Schädlichkeit des Rauchens müssen in Zukunft mindestens die halbe Oberfläche einer Schachtel einnehmen. Der Verkauf von Zigaretten an Minderjährige soll untersagt, die Besteuerung von Tabakwaren drastisch erhöht und der Schmuggel unterbunden werden [34].
Das erste Tabakmonitoring des BAG bestätigte die Vermutung, dass international verglichen die Schweizer viel rauchen. Knapp ein Drittel der 14- bis 65-Jährigen konsumiert täglich Tabak. Männer (37%) rauchen mehr als Frauen (29%). Bei den Jugendlichen ist dies nicht so ausgeprägt. Die Differenz zwischen jungen Frauen (27%) und jungen Männern (30%) wurde von der Studie als nicht relevant bezeichnet. Frauen rauchen zwar gesamthaft weniger, haben aber mehr Mühe, davon wegzukommen. In der Alterskategorie der über 35-Jährigen waren 39% der Männer, aber nur 20% der Frauen Exraucher und Exraucherinnen. Auch punkto Bildung, Region und Nichtraucher-Wunsch lieferte die Studie interessante Daten. Personen mit einer tieferen Schulbildung rauchen häufiger täglich (31%) als höher Ausgebildete (20%). In der Deutschschweiz gibt es – vor allem verglichen mit dem Tessin – signifikant weniger täglich Rauchende. Über die Hälfte der Tabakkonsumenten möchte von ihrer Abhängigkeit loskommen [35].
In der Frühjahrssession bereinigten die Räte die Differenzen beim Bundesgesetz über die Tabakbesteuerung. Umstritten war, ob dem Bundesrat die Ermächtigung zur Erhöhung der Steuersätze um bis 50% oder um bis 80% erteilt und ob aus den Mitteln der Tabaksteuer ein Präventionsfonds geschaffen werden soll. In der ersten Runde der Differenzbereinigung hielt der Nationalrat mit 95 zu 75 Stimmen an der Erhöhungskompetenz bis 80% fest, ebenso (mit 102 zu 65 Stimmen) an der Errichtung eines Präventionsfonds. Der Ständerat schloss sich bei der Erhöhungskompetenz dem Nationalrat an, beharrte aber, vorab aus verfassungsrechtlichen Bedenken, mit 22 zu 14 Stimmen auf seiner Ablehnung des Fonds. In der zweiten Runde bekräftigen beide Kammern mit praktisch dem gleichen Stimmenverhältnis (101 zu 64 resp. 18 zu 16 Stimmen) ihre Position. In der Einigungskonferenz obsiegte die Haltung des Nationalrates, worauf der Ständerat zustimmte, dass 2,6 Rappen pro Zigarettenpackung den Präventionsfonds alimentieren. Von dieser Abgabe werden jährlich rund 18 Mio Fr. erwartet. Die Organisation des Fonds obliegt dem BAG und dem BASPO gemeinsam [36].
Entgegen dem Antrag der vorberatenden Kommission wurde einer parlamentarischen Initiative Grobet (-, GE), die insbesondere ein Verbot der Tabakwerbung sowie Massnahmen für den Konsumentenschutz verlangte, mit 92 zu 85 Stimmen knapp keine Folge gegeben. Die von Gewerbeverbandsdirektor Triponez (fdp, BE) angeführten Gegner machten geltend, Werbeverbote würden Grundrechte verletzen [37].
Bezüglich einer Motion Sommaruga (sp, BE) für eine rauchfreie Wandelhalle vor dem Nationalratssaal beantragte das Büro dem Plenum zwar erfolgreich Umwandlung in ein Postulat, versprach aber gleichzeitig, die verlangte Massnahme umzusetzen [38].
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Alkohol
Eine im Auftrag des BAG durchgeführte Studie unternahm den Versuch, neben den materiellen Kosten wie ärztlicher Behandlung und Produktionsverlusten, die der Alkoholmissbrauch in der Schweiz verursacht, auch die immateriellen Kosten zu beziffern. Das menschliche Leid der Betroffenen und der Angehörigen sowie der Verlust an Lebensqualität (familiäre Spannungen, finanzielle Probleme, Gewalt und Kontrollverlust durch Alkohol) erwiesen sich mit 4,3 Mia Fr. als deutlich höher als die materiellen Kosten von 2,2 Mia Fr [39].
Nach dem Ständerat genehmigte auch der Nationalrat die Verordnung der Bundesversammlung über die Promillegrenzen im Strassenverkehr. Ein Nichteintretensantrag Föhn (svp, SZ), der einerseits eine höhere Fremdgefährdung bei Fahren mit einem Blutalkoholwert von zwischen 0,05% und 0,08% bestritt und sich andererseits für die freie (Gast-)Wirtschaft einsetzte, wurde nach einer längeren, teils emotional geführten Debatte mit 110 zu 63 Stimmen abgelehnt. In der Detailberatung erfolgte eine ganze Kaskade von Anträgen, welche die einfache Angetrunkenheit zwischen 0,02% (Gutzwiller, fdp, ZH) und 0,08% (Triponez, fdp, BE) ansetzen wollten, jene für qualifizierte Angetrunkenheit zwischen 0,05% (Wiederkehr, -, ZH) und 0,081% (Triponez). Schliesslich schloss sich der Rat mit 113 zu 42 dem Antrag der Kommission an, dem Ständerat zu folgen. Damit betragen die Limiten künftig 0,5 und 0,8 Gewichtspromille. In der Schlussabstimmung wurde die Verordnung im Ständerat mit 29 zu 5 Stimmen angenommen, im Nationalrat mit 111 zu 74 Stimmen [40].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Simoneschi (cvp, TI), welches den Bundesrat ersucht, die notwendigen Massnahmen zu treffen, um die langfristige finanzielle Sicherstellung der Aktion „Nez rouge“ und ähnlicher Projekte zu ermöglichen. In dieser Aktion bieten Freiwillige an, nicht mehr fahrtüchtige Festbesucher mitsamt deren Auto sicher nach Hause zu fahren, was besonders in ländlichen Regionen von grosser Bedeutung ist. 2000 hatte der Bund entschieden, seine Beiträge an den Fonds für Verkehrssicherheit, der die Aktivitäten von „Nez rouge“ weitgehend bezahlte, drastisch zu reduzieren, weshalb die Finanzierung nicht mehr gewährleistet ist [41].
Im Ständerat, der die Vorlage als erster behandelte, meldete nur Büttiker (fdp, SO) Kritik an der vom Bundesrat im Sinn des Jugendschutzes beantragten Einführung einer gegenüber bisher vervierfachten Sondersteuer auf sogenannten Alcopop-Getränken an (mit Limonade gesüsste Spirituosen, die vorwiegend von Jugendlichen konsumiert werden, denen Bier oder Wein zu bitter sind). Ohne weitere Diskussion stimmte die kleine Kammer der Steuererhöhung mit 38 zu 1 Stimme zu [42]. Im Nationalrat hatte die Vorlage einen viel härteren Stand. Die SVP-Fraktion sowie der Direktor des Gewerbeverbandes (Triponez, fdp, BE) beantragten Nichteintreten. Die SVP führte fiskalpolitische Gründe an: dem Bundesrat gehe es nicht um Jugendschutz, sondern bloss um Mehreinnahmen. Triponez bezeichnete die Sondersteuer als krass diskriminierend, da einzig mit Spirituosen angereicherte Getränke davon erfasst würden, nicht aber auf Wein oder Bier basierende Produkte. Schliesslich setzte sich aber die Einsicht durch, dass im Sinn der Prävention das Instrument einer Sondersteuer gerechtfertigt sei. Eintreten wurde mit 129 zu 36 Stimmen beschlossen. In der Detailberatung wurde ein Minderheitsantrag Tschuppert (fdp, LU), die Steuer lediglich um 100% zu erhöhen, mit ähnlichem Stimmenverhältnis abgelehnt. In der Schlussabstimmung nahm der Ständerat die Sondersteuer einstimmig und der Nationalrat mit 141 zu 44 Stimmen an [43].
Seit 1908 bestand in der Verfassung ein Absinthverbot. Bei der Totalrevision der Bundesverfassung wurde dieses Verbot nicht mehr ins Grundgesetz aufgenommen, doch verblieb es auf Gesetzes- und Verordnungsebene. Dagegen reichte Ständerat Cornu (fdp, FR) im Interesse der Wirtschaft des Val-de-Travers (NE), wo die „fée verte“ all die Jahre – wenn auch illegal – produziert wurde, eine parlamentarische Initiative ein, der von der kleinen Kammer diskussionslos Folge gegeben wurde [44].
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Illegale Drogen
Gemäss einer Untersuchung des Bundesamtes für Statistik nahm in den neunziger Jahren der Konsum von Cannabis markant zu. Die Zahl der polizeilichen Verzeigungen stieg von 12 000 im Jahr 1990 auf 30 000 Fälle im Jahr 2001, was einer durchschnittlichen jährlichen Steigerung um 8% entspricht. Die Zahl der verzeigten Minderjährigen verfünffachte sich in diesem Zeitraum von 1250 auf 6150, was das BFS zu der Aussage bewog, Cannabis sei heute die Modedroge der Jugendlichen. Im Gegensatz dazu scheint der Handel und Konsum von anderen illegalen Drogen rückläufig zu sein. So sank die Zahl von Verzeigungen wegen Handels oder Konsums von Heroin von 27 000 (1993) auf 12 000 (2001). Bei Kokain und Crack wurde der Höchststand 1998/99 erreicht (14 000 Fälle), bei anderen Substanzen wie Ecstasy oder Halluzinogenen erreichte man den Spitzenwert von 5000 Fällen im Jahr 1996. Je nach Regionen oder Kantonen scheinen die Verzeigungsraten höchst unterschiedlich zu sein. Insbesondere Kantone mit urbanen Zentren weisen höhere Raten auf als ländliche Gegenden. Durchschnittlich lag die Verzeigungsrate in den Jahren 1999 bis 2001 bei sechs Fällen pro 1000 Einwohner. Die Untersuchung machte auch deutlich, dass eine strafrechtliche Verurteilung kaum Auswirkungen auf das Konsumverhalten hat. So kommen 57% der Verurteilten innerhalb von zehn Jahren erneut mit dem Betäubungsmittelgesetz in Konflikt, die Hälfte von ihnen sogar innerhalb von zwei Jahren nach einer Verurteilung [45].
Der Nationalrat tat sich sichtlich schwer mit der Revision des Betäubungsmittelgesetzes, welche der Ständerat bereits Ende 2001 verabschiedet hatte. Ziel der Gesetzesänderung war die definitive gesetzliche Verankerung des Vier-Säulen-Modells mit der kontrollierten Heroinabgabe sowie die Einführung der Straffreiheit für den Konsum von Cannabis und eine Aufhebung der Strafverfolgungspflicht bei Anbau und Handel sowie deren staatliche Regulierung. In der vorberatenden Kommission waren diese beiden Stossrichtungen nicht bestritten; die Kommission ging noch einen Schritt weiter als der Ständerat und setzte die Alterslimite für den straffreien Cannabis-Konsum wieder auf 16 Jahre herab, wie dies auch der Bundesrat vorgeschlagen hatte; die kleine Kammer hatte sich für 18 Jahre ausgesprochen. Überraschend beschloss die Kommission mit 12 zu drei Stimmen eine vorher nie zur Diskussion gestandene Lenkungsabgabe auf Cannabis. Je nach Stärke des THC-Gehalts sollte eine Steuer zwischen acht und 15 Franken erhoben werden. Die Abgabe sollte schätzungsweise rund 300 Mio Fr. einbringen und je zur Hälfte der AHV und der Suchtprävention zugute kommen. Anbau, Produktion und Handel sollten gemäss der Mehrheit der Kommission zwar reglementiert, dafür aber toleriert werden. Im Gegensatz zum Ständerat entschied sich die Kommission auch beim Konsum von harten Drogen für das Opportunitätsprinzip, so wie dies der Bundesrat vorgeschlagen hatte. Demnach sollte der Konsum harter Drogen zwar verboten, aber nicht strafrechtlich verfolgt werden [46].
Ursprünglich für die Maisession vorgesehen, wurde die Beratung der Vorlage im Plenum mit dem offiziellen Motiv des Zeitmangels auf die Junisession verschoben und dann noch einmal auf die Septembersession. Die sichtbare Unlust des Nationalrats, das heisse Eisen anzufassen, erklärten Beobachter mit den bevorstehenden eidgenössischen Wahlen. Insbesondere FDP- und CVP-Vertreter aus der Westschweiz und den ländlichen Gebieten der Deutschschweiz hätten gerne zur Wahrung ihrer Wahlchancen bis nach den Wahlen Gras über die ganze Angelegenheit wachsen lassen [47].
Zu Beginn der Eintretensdebatte lagen dem Plenum nicht weniger als sechs Nichteintretensanträge von vehementen Gegners jeglicher Liberalisierung vor (Fraktionen der LP und der SVP; Schenk, svp, BE; Waber, edu, BE; Guisan, fdp, VD; Maitre, cvp, GE), ein Rückweisungsantrag (Neyrink, cvp, VD) an die Kommission sowie zwei Rückweisungsanträge (Studer, evp, AG; Wasserfallen, fdp, BE) an den Bundesrat. Von Befürworterseite hatte nur Leuthard (cvp, AG), um eine nüchternere Beurteilung der Vorlage nach den Wahlen zu ermöglichen, einen Antrag deponiert, und zwar auf Rückweisung an die Kommission mit dem Auftrag, noch offene Fragen (Opportunitätsprinzip, Lenkungsabgabe, Prävention und Jugendschutz) zu klären. In der eigentlichen Eintretensdebatte geisselte Ruey (lp, VD), dass auf Abstinenz verzichtet werde und erklärte, die Jugend brauche Autorität. Waber warnte in biblischer Sprache vor einer Politik der Verführung, welche die Jugend in den „Drogensumpf“ stürze und dem „Bösen“ ausliefere.
Die Befürworter hingegen erinnerten an die Nutzlosigkeit der seit 1975 praktizierten Repressionspolitik. Diese führe bei Justiz und Polizei zu einer Ressourcenverschleuderung und schaffe als Folge der von Kanton zu Kanton unterschiedlichen Strafverfolgungspraxis Rechtsungleichheit. Zudem sei es schwierig, wirkungsvolle Präventionsarbeit zu leisten, solange der Hanfkonsum strafbar ist, sich also die Konsumenten verstecken müssen. Mit der Entkriminalisierung des Konsums und der Regulierung von Anbau und Handel lasse sich die Szene aus dem Dunstkreis der organisierten Kriminalität lösen. Bundespräsident Couchepin sprach sich in einer engagierten Rede, seiner ersten zu diesem Thema, ebenfalls für die Revision aus. Er bekannte sich zu einer in den letzten Jahren gewonnenen liberalen Haltung und bat die Gegner, es ihm gleichzutun. Auch er wolle unbedingt, dass weniger Drogen konsumiert werden, aber er halte es für falsch, Staat, Justiz und Polizei mit der Lösung des Problems zu betrauen. Vielmehr gelte es, ein Gesetz zu schaffen, das der Realität Rechnung trage. Er empfahl seinen „compatriotes romands“, das Thema weniger emotional zu behandeln und sich ein Beispiel am Deutschschweizer Pragmatismus zu nehmen, der sich mehr ans Konkrete halte, statt grosse Prinzipien zu verkünden. Aber der eloquente Aufruf Couchepins fruchtete nichts. Nach einer insgesamt gehässigen Debatte beschloss der Nationalrat mit 96 zu 89 Stimmen bei vier Enthaltungen, auf die Vorlage nicht einzutreten. Für Nichteintreten sprach sich (mit Ausnahme von Gadient, GR) die geschlossene SVP-Fraktion aus, ebenso LP, EDU und EVP (ausser dem parteilosen Wiederkehr, ZH), 26 von 35 CVP-Abgeordneten sowie eine starke Minderheit der FDP. Der drogenpolitische „Röstigraben“ spielte einmal mehr stark: die Mehrheit der Neinstimmen aus FDP und CVP stammten aus der Romandie, ebenfalls die zwei Enthaltungen der SP. Mit diesem Entscheid war die brisante Frage der Entkriminalisierung von Cannabis rechtzeitig vor den Wahlen auf Eis gelegt [48].
Der geltende Bundesbeschluss über die ärztliche Verschreibung von Heroin an schwer Drogenkranke ist bis zum Inkrafttreten der Revision des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG), längstens aber bis zum 31. Dezember 2004 befristet. Wegen der Verzögerungen bei den Beratungen im Nationalrat erschien es immer wahrscheinlicher, dass das revidierte BetmG am 1. Januar 2005 noch nicht in Kraft sein wird und ab diesem Zeitpunkt keine gesetzliche Basis mehr für diese Therapieform besteht. In diesem Fall müssten die Behandlungszentren geschlossen werden und die Patientinnen und Patienten ihre Therapie, die ihnen die Führung eines möglichst normalen Lebens erlaubt, abrupt abbrechen. Um dies zu verhindern, hatte der Bundesrat dem Parlament im Vorjahr beantragt, den Bundesbeschluss um fünf Jahre, längstens jedoch bis zum Inkrafttreten des revidierten BetmG zu verlängern. Mit Unterstützung einer Mehrheit der SVP-Fraktion bekämpfte Waber (edu, BE) die Verlängerung mit der Behauptung, es sei noch kein einziger Abhängiger durch das Programm vom Heroin weggekommen. Die Vertreter von CVP, FDP und SP wiesen darauf hin, dass es sich lediglich um eine Verlängerung und nicht um eine Veränderung handle, weshalb hier nicht der Ort sei, um eine Grundsatzdebatte zur Drogenpolitik zu führen. Ziel der Heroinprogramme sei nie allgemeine Abstinenz gewesen, sondern vielmehr die Möglichkeiten für die Abhängigen, trotz ihrer Heroinsucht ein menschenwürdiges Leben führen zu können. Die Verlängerung wurde schliesslich mit 110 zu 42 Stimmen angenommen. Der Ständerat stimmte diskussionslos und einstimmig zu [49].
Mit 25 zu 17 Stimmen lehnte der Ständerat eine im Vorjahr vom Nationalrat angenommene Motion für eine Aufhebung der Krankenkassenpflicht der heroingestützten Behandlung ab. Die Befürworter der Motion aus CVP und SVP machten erneut geltend, die medizinisch kontrollierte Heroinabgabe sei weniger eine medizinische denn eine sozialpolitische Massnahme, weshalb sie über allgemeine Steuern zu bezahlen sei, die Gegner konterten, Opiatsucht sei eine international anerkannte Krankheit und deren Behandlung, in welcher Form auch immer, deshalb kassenpflichtig [50].
Der Kanton Tessin wandelte sich innert Jahresfrist vom freizügigsten Kanton in Fragen Cannabis-Konsum zum repressivsten Landesteil. In zahlreichen Razzien wurden sämtliche Indoor-Plantagen und Hanfläden dicht gemacht und gegen deren Betreiber Anklage erhoben. Das kompromisslose Vorgehen der Tessiner Behörden gegen Hanfanbauer und Ladenbesitzer soll in der ganzen Schweiz Schule machen. Im Mai einigten sich Staatsanwälte, Richter und Polizisten aus zehn Schweizer Kantonen (AG, BS, BE, FR, GR, SZ, TI, VD, VS und ZH) anlässlich einer Tagung in Bellinzona auf eine gemeinsame Nulltoleranzstrategie bei Anbau und Handel [51].
Unter dem Druck der Realität schien hingegen die traditionell repressive Westschweizer Hardliner-Front im Umgang mit den Konsumentinnen und Konsumenten von harten Drogen zu bröckeln. Nach Genf (2001) bekundete auch die Stadt Lausanne ihre Absicht, ein so genanntes Fixerstübli einzurichten, wollte jedoch nicht ohne Zustimmung des Kantons vorgehen. Aber sowohl der Waadtländer Staats- wie der Kantonsrat verweigerten ihre Zustimmung [52].
 
[33] Presse vom 25.4.03. Siehe SPJ 1999, S. 255.
[34] Presse vom 22.5.03; TA, 17.6.03. Für eine Einfache Anfrage Wyss (sp, BE) zum Beitritt der Schweiz zur Tabakrahmenkonvention der WHO vgl. AB NR, 2003, Beilagen IV, S. 269. Zur Vernehmlassung zur neuen Tabakverordnung, welche erste Elemente der Rahmenkonvention umsetzen will, siehe NZZ, 29.9.03; TA, 4.11.03.
[35] Presse vom 25.6.03. Für eine BAG-Umfrage zum Passivrauchen siehe NZZ, 29.10.03.
[36] AB NR, 2003, S. 187 ff., 370 ff., 455 und 519; AB SR, 2003, S. 230 ff., 292 f., 338 und 370. Siehe SPJ 2002, S. 203 f. Eine Motion Genner (gp, BL), welche den BR verpflichten wollte, bis 2005 eine Erhöhung des Preises des Zigarettenpäckchens um 80 Rp. vorzunehmen, wurde von Polla (lp, GE) bekämpft und die Beratung deshalb ausgesetzt (AB NR, 2003, S. 1724). Im Rahmen des Entlastungsprogramms hatte der BR vorgeschlagen, die Mittel des BAG in den Jahren 2004-2006 um 15 Mio Fr. zu beschneiden; auf Antrag der CVP, welche die Gelder lieber für die Bildung verwenden wollte, stimmte das Parlament einer weiteren Kürzung um 15 Mio Fr. zu; Hauptbetroffene wird das Programm zur Tabakprävention 2001-2005 sein: AB SR, 2003, S. 805; AB NR, 2003, S. 1634 ff.; WoZ, 11.9.03.
[37] AB NR, 2003, S. 2033 f. Eine Motion Wyss (sp, BE) zum Verbot der Tabakwerbung wurde von Scherer (svp, ZG) bekämpft und deshalb vorerst der Behandlung im NR entzogen (a.a.O., S. 501).
[38] AB NR, 2003, S. 2120.
[39] Presse vom 27.10.03. Zu einer analogen Studie über die Kosten des Tabakkonsums siehe SPJ 1998, S. 245 f.
[40] Die 74 Nein-Stimmen im NR stammten aus der beinahe geschlossenen SVP- und einer Mehrheit der FDP-Fraktion: AB NR, 2003, S. 121 ff., 128 ff. und 520; AB SR, 2003, S. 371.
[41] AB NR, 2003, S. 506.
[42] BBl, 2003, S. 2170 ff.; AB SR, 2003, S. 672 ff. und 1036. In seiner Botschaft machte der BR die alarmierende Zunahme des Konsums von Alcopops deutlich: 2002 wurden 40 Mio Fläschchen getrunken, 12 Mio mehr als 2001 und 38 Mio mehr als 2000. Er verwies darauf, dass in Frankreich, wo die Sondersteuer bereits 1996 eingeführt wurde, der Konsum seither fast auf null gesunken ist (Presse vom 27.2.03). Zu einer Kontroverse zwischen der Eidg. Alkoholverwaltung und den Spirituosenimporteuren über die Schädlichkeit der Alcopos siehe Presse vom 1.3. und 28.5.03.
[43] AB NR, 2003, S. 1543 ff. und 1753; AB SR, 2003, S. 1036.
[44] AB SR, 2003, S. 930 f.; LT, 12.7. und 29.8.03; NZZ, 22.9.03. In den Medien wurde mit einiger Verwunderung vermerkt, dass fast zeitgleich der SR einen der härtesten Schnäpse „rehabilitierte“ und der NR die Entkriminalisierung der „weichen“ Droge Cannabis ablehnte (siehe unten): Presse vom 26.9.03.
[45] Presse vom 14.1.04.
[46] Presse vom 24.1., 25.1., 22.2., 25.3. und 29.3.02. Zu Referendumsdrohungen bereits im Vorfeld der Debatte im NR siehe NLZ, 31.5.03; Bund, 6.6.03; 24h, 13.9.03. Vgl. SPJ 2001, S. 184 f. Zu widersprüchlichen Aussagen des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer zur Entkriminalisierung des Cannabiskonsums siehe NZZ, 23.1.03 und NLZ, 17.10.03.
[47] Presse vom 14.6. und 17.6.03; BZ, 22.9.93.
[48] AB NR, 2003, S. 562, 994 f., 1031 ff., 1276 f., 1490 ff. und 1517 ff. Das Scheitern der Vorlage zeichnete sich bereits im Frühsommer ab. Vom Magazin Facts befragt, gaben 83 Abgeordnete an, gegen die Strafbefreiung von Cannabis zu sein. Nur 69 waren dafür, 48 unentschlossen. Besonders FDP und CVP zeigten sich gespalten (NLZ, 5.6.03).
[49] AB NR, 2003, S. 2 ff. und 1246; AB SR, 2003, S. 427 und 718. Siehe SPJ 2002, S. 204.
[50] AB SR, 2003, S. 112 ff. Vgl. SPJ 2002, S. 205.
[51] Auch hier wurde die Verhärtung mehrheitlich mit den anstehenden Wahlen im Kanton TI erklärt: NZZ, 14.3., 22.3., 11.4., 13.5., 26.6. und 16.9.03. Vgl. SPJ 2002, S. 205 f. Zu einer Einfachen Anfrage Wyss (sp, BE) bezüglich der unterschiedlichen Praxis in den Kantonen, siehe AB NR, 2003, Beilagen IV, S. 295.
[52] TA, 20.1.03; Lib., 6.6. und 18.9.03.