Année politique Suisse 2003 : Politique sociale / Assurances sociales
Krankenversicherung
Am 18. Mai gelangte die
Volksinitiative der SP „Gesundheit muss bezahlbar bleiben“ („Gesundheitsinitiative“) zur Abstimmung. Neben Massnahmen zur Kostendämpfung (insbesondere verstärkte Kompetenzen des Bundes bei Planung, Steuerung und Festlegung von Preisen) zielte sie vor allem auf eine grundlegend
andere Finanzierung des Gesundheitswesens ab: Die obligatorische Krankenversicherung sollte einerseits maximal zur Hälfte durch Mehrwertsteuerprozente, andererseits durch einkommens- und vermögensabhängige Prämien finanziert werden. Nach dem Scheitern der 2. KVG-Revision Ende 2002, welche von den bürgerlichen Parteien wegen des Ausbaus der Prämienverbilligung stets als indirekter Gegenvorschlag zur Initiative bezeichnet worden war, wurden der Initiative anfänglich gute Chancen eingeräumt. In einer zu Beginn des Jahres durchgeführten repräsentativen Umfrage gaben 75% der Befragten an, mit einkommensabhängigen Prämien „sehr“ oder „eher“ einverstanden zu sein
[41].
Gleich nach der Volksabstimmung zur Neuregelung der Spitalfinanzierung (siehe oben, Teil I, 7b, Gesundheitspolitik) eröffneten sowohl die Befürworter wie die Gegner die
Abstimmungskampagne, welche bald in einen heissen
Zahlenstreit mündete, konnte doch weder die eine noch die andere Seite schlüssig darlegen, wer bei einer Annahme der Initiative gewinnen und wer allenfalls verlieren würde. Die SP machte geltend, ein Ja zur Initiative bedeute tiefere Prämien für 80% der Versicherten und führe zur Entlastung einer Durchschnittsfamilie um rund 6000 Fr. pro Jahr. Die Gegner – der Bundesrat und die bürgerlichen Parteien – konterten, wegen der Erhöhung der Mehrwertsteuer erfolge lediglich eine Umverteilung; für Leute mit geringem Einkommen, welche heute dank der Prämienverbilligungen praktisch nichts an die Grundversicherung bezahlen, würde dies sogar zu einer Schlechterstellung führen. Über diesem Zahlenhickhack gerieten jene Elemente, welche eine Kostendämpfung anstrebten, etwas in den Hintergrund. Die Unklarheiten der Finanzierung – insbesondere wurde auch darüber gestritten, ob eine Annahme der Initiative zu einer Mehrwertsteuererhöhung um 3,5% (Bürgerliche) führen würde, oder ob 1,5% (SP) ausreichen würden – sorgten für grosse Verunsicherung in der Bevölkerung und erwiesen sich für das Begehren schliesslich als fatal, was auch in den Meinungsumfragen zum Ausdruck kam, in denen die Zustimmung kontinuierlich zurückging. Um der Initiative etwas Konstruktives entgegen zu setzen, arbeiteten Bundesrat und vorberatende Kommission der kleinen Kammer zudem fieberhaft an einer Neuauflage der 2. KVG-Revision, welche das Element einer zusätzlichen Prämienentlastung für Familien wieder aufnahm, und die bereits in der Frühjahrssession im Ständerat behandelt wurde (siehe unten)
[42].
Trotz bröckelnder Unterstützung rechnete niemand mit dem Ausmass der Ablehnung an der Urne. Die Initiative wurde mit
knapp 73% der Stimmen und
in allen Kantonen
verworfen. Wie allgemein voraus gesagt worden war, schnitt sie in den „Prämienhöllen“ der Westschweiz besser ab als in der Deutschschweiz, aber auch da blieb die Zustimmung weit unter den Erwartungen. In Genf, wo die Prämien doppelt so hoch sind wie in der Ostschweiz, reichte es gerade mal zu 38% Ja-Stimmen. So etwas wie einen Achtungserfolg errang das Begehren lediglich im Kanton Jura, wo 44% zustimmten. In der Deutschschweiz kam die Initiative nirgends über 40%: in Basel-Stadt, ebenfalls einem Kanton mit hohen Prämien, wurde mit 36,6% die höchste Zustimmung erreicht. In der „prämiengünstigen“ Ostschweiz und in der Innerschweiz lag die Ablehnung meist über 80%; besonders massiv war das Nein in Nidwalden und Appenzell-Ausserrhoden (rund 87%)
[43].
Volksinitiative „Gesundheit muss bezahlbar bleiben“
Abstimmung vom 18. Mai 2003
Beteiligung: 49,7%
Ja: 652 073 (27,1% / 0 Stände)
Nein: 1 682 694 (72,9% / 20 6/2 Stände)
Parolen:
– Ja: SP, GP (1*), EVP (2*), CSP, PdA; SGB, Travail.Suisse
– Nein: FDP, CVP, SVP, LP, SD, EDU, FP; Economiesuisse, SBV; Santésuisse
– Stimmenthaltung: Lega
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die
Vox-Analyse dieser Abstimmung zeigte, dass die Parteiparolen mehrheitlich befolgt wurden, am deutlichsten von den Anhängerschaften der CVP und SVP mit Neinstimmen-Anteilen von 95 resp. 93%. Dass die Initiative aber auch unter den SP-Sympathisanten nicht unbestritten war, zeigt der beträchtliche Neinstimmen-Anteil von 41%. Bereits bei der Lancierung der Initiative war die SP gespalten gewesen; eine bedeutende Minderheit in der Partei hätte einen alternativen, abgeschwächten Initiativtext bevorzugt. Personen in sehr guten wirtschaftlichen Verhältnissen lehnten die Initiative erwartungsgemäss überdurchschnittlich ab (84%). Aber auch die Haushalte mit den tiefsten Einkommen stimmten etwas häufiger Nein (74%) als das Mittel. Die Autoren der Studie erklärten dieses Stimmverhalten mit der Furcht vor (ungewissen) Veränderungen; offenbar bevorzugten diese Personen den Status quo, bei dem sie am meisten von Prämienverbilligungen profitieren. Auch sprachregionale Differenzen beeinflussten den Stimmentscheid, aber nur in geringem Ausmass
[44].
Mitte Januar lancierte die
SVP ihre seit längerem angekündigte
Volksinitiative „für tiefere Krankenkassenprämien in der Grundversicherung“
(„Prämiensenkungsinitiative“). Mit mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen und einer Straffung des Leistungskatalogs will die SVP die Krankenkassenprämien um 15 bis 20% senken. Sie verzichtete allerdings darauf zu konkretisieren, wo und wie der Leistungskatalog ausgedünnt werden soll, und erklärte, es gehe in erster Linie darum, einen weiteren unnötigen Leistungsausbau zu verhindern. Indem die geltenden Bestimmungen über den Leistungskatalog auf Verfassungsstufe verankert werden, sollen sie mehr Gewicht erhalten; zudem wäre ihre Veränderung dem obligatorischen Referendum mit Volks- und Ständemehr unterstellt. Durch eine Koppelung der Beiträge des Bundes und der Kantone an das Kostenwachstum soll die öffentliche Hand vermehrt in die Verantwortung genommen werden, um verstärkt zu Einsparungen beizutragen. Mit ihrer Forderung nach Aufhebung des Kontrahierungszwangs von Versicherern und Leistungserbringern und Einführung der monistischen Spitalfinanzierung nahm die Initiative Themen auf, die für die 2. oder 3. KVG-Revision schon auf dem Tisch liegen. Die im Vorjahr präsentierte Idee, die Grundversicherung einzuschränken und eine neue, freiwillige Ergänzungsversicherung einzuführen, wurde als zu kompliziert erachtet und deshalb wieder aufgegeben
[45].
Nur eine gute Woche nach dem Scheitern der SP-Gesundheitsinitiative lancierte die Westschweizer Organisation „Mouvement populaire des familles“ die
Volksinitiative „für eine soziale Einheitskrankenkasse“. Sie strebt eine nichtstaatliche Einheitskasse mit einkommensabhängigen Prämien (ohne Einbezug der Mehrwertsteuer zu deren Finanzierung) und die völlige Transparenz bezüglich der Verwendung der Gelder der Grundversicherung und der Reserven an. Hinter dem Begehren standen von Anbeginn die Grüne Partei der Schweiz, die SP-Sektionen Waadt, Genf und Unterwallis, die Jungsozialisten (Juso), die PdA sowie die Gewerkschaft Comedia. Nationalrat Cavalli (sp, TI) kündigte bereits am Abstimmungssonntag an, seine Partei werde diese Initiative unterstützen. Von der SP-Geschäftsleitung wurde er allerdings umgehend desavouiert. Parteipräsidentin Brunner (GE) sprach sich deutlich für eine Denkpause aus. Damit setzte sie sich Ende Juni an der Delegiertenversammlung ihrer Partei auch durch; die
SP befürchtete offenbar, dass die Unterstützung einer Einheitskasse als erster Schritt zur Einführung von gesamtschweizerischen Einheitsprämien verstanden würde, in der Deutschschweiz mit ihrem tieferen Prämienniveau wohl kein populäres Thema so kurz vor den nationalen Wahlen. Mitte November sprach sich die SP-Geschäftsleitung dann doch für eine politische Unterstützung der Volksinitiative aus; die Delegiertenversammlung stellte sich daraufhin ebenfalls hinter dieses Vorhaben
[46].
Sowohl der Ständerat wie der Nationalrat sprachen sich in der Frühjahrssession klar gegen die Schaffung einer
Einheitskasse aus. Sehr deutlich, mit 31 zu 5 Stimmen, lehnte der Ständerat eine Standesinitiative des Kantons Jura ab, die eine zentrale Landeskasse und einkommensabhängige Prämien verlangte. Die Gegner machten geltend, eine Studie des BSV sei zum Schluss gekommen, dass eine Einheitskasse kaum eine positive Wirkung auf die Eindämmung der Kosten hätte. Die Erfahrungen des Auslandes hätten gezeigt, dass Monopolsituationen im Krankenversicherungsbereich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu schlechterer Servicequalität und beeinträchtigter Produktevielfalt führe. Gesamtschweizerisch einheitliche Prämien würden zudem die Kantone östlich von Bern wesentlich stärker belasten als bisher. Mit den gleichen Argumenten und mit 106 zu 63 Stimmen wurde vom Nationalrat auch eine parlamentarische
Initiative Zisyadis (pda, VD) verworfen, die für die obligatorische Grundversicherung eine nationale Einheitskrankenkasse mit Bundesgarantie wollte
[47]. In der Wintersession lehnte der Ständerat – allerdings im klar weniger deutlichen Verhältnis von 18 zu 11 Stimmen – eine weitere Standesinitiative des Kantons Tessin ab, welche eine Einheitskasse auf Bundesebene, mehr Transparenz in der Rechnungslegung der Versicherer und den Einbezug der Krankenkassenprämien in den Landesindex der Konsumentenpreise anstrebte
[48].
Ein ebenfalls mehrfach vorgetragenes Anliegen nahm eine Standesinitiative des Kantons Jura auf, nämlich eine umfassende
Taggeldversicherung im KVG bei krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit, welche den daraus resultierenden Lohn- oder Verdienstausfall deckt. Die Kommission des Ständerates anerkannte zwar, dass die heutige Regelung unbefriedigend ist, da der Verdienstausfall in der Grundversicherung nach KVG individuell nur minim versichert werden kann. Da die meisten Arbeitnehmer aber über den Arbeitgeber für eine gewisse Dauer versichert sind, eine umfassende Taggeldversicherung also einer Zwangsumverteilung von Personen, die in einem geregelten Arbeitsverhältnis stehen, zu Personen, die lediglich über eine prekäre Anstellung verfügen, gleichkäme, beantragte sie die Initiative zur Ablehnung. Diese wurde denn auch diskussionslos verworfen
[49].
Insbesondere in der Westschweiz schien das Misstrauen gegen die als intransparent empfundene Politik der Reservebildung gewisser Krankenkassen weiter zuzunehmen, führte allerdings im Parlament nur selten zu konkreten Ergebnissen. Der Nationalrat hatte im Vorjahr gegen den Willen des Bundesrates eine Motion Meyer (cvp, FR) angenommen, welche die Einführung einer detaillierteren
Rechnungslegung der Krankenversicherer verlangte. Der Ständerat unterstützte diese Forderung diskussionslos. 2001 hatte er noch zwei Standesinitiativen der Kantone Waadt und Genf abgelehnt, welche einheitliche Methoden zur statistischen Erfassung der Finanzdaten insbesondere der überkantonal agierenden Krankenkassen verlangten. Im Nationalrat erreichte nun eine Minderheit aus der SP mit Unterstützung von bürgerlichen welschen Abgeordneten, dass den vom Ständerat abgelehnten Initiativen mit 81 zu 67 Stimmen Folge gegeben wurde. In der Differenzbereinigung hielt der Ständerat allerdings an seinem ersten Beschluss fest, worauf ihm der Nationalrat zustimmte. Auch zwei weitere Standesinitiativen der Kanton Genf und Wallis, welche die Transparenz und Veröffentlichung der Rechnungen postulierten resp. dem BSV mehr Mittel zugestehen wollten, um diese Rechnungen zu prüfen, wurden in der grossen Kammer wie schon im Ständerat abgelehnt
[50].
Im Vorjahr hatte der Ständerat eine Standesinitiative des Kantons Jura für einen verbesserten
Risikoausgleich unter den Krankenkassen angenommen. Auf Antrag einer rechtsbürgerlichen Minderheit wurde diese vom Nationalrat aber mit 86 zu 67 Stimmen mit dem Argument abgelehnt, eine Ausdehnung des Risikoausgleichs über die beiden Kriterien Alter und Geschlecht hinaus würde diesen kaum noch handhabbar machen. Auch hier hielt der Ständerat am ersten Beschluss fest, da das Begehren jenem entsprach, das die kleine Kammer in die KVG-Revision aufgenommen hatte
[51]. Der Nationalrat nahm aber ein Postulat seiner SGK an, das den Bundesrat einlädt, Bericht und Antrag zu einer Neuordnung des Risikoausgleichs vorzulegen. Dabei sollen insbesondere auch alternative Modelle einbezogen werden (Hochkostenpool für Behandlungskosten ab bestimmter Höhe pro Jahr oder für bestimmte Personengruppen und Rückversicherung im Rahmen von Ärztenetzen). Der Bundesrat erklärte in seiner Stellungnahme, der Antrag für den Bericht zur Neuordnung des Risikoausgleichs sei im Rahmen des Projekts „Grundlagen 3. Teilrevision KVG“ bereits erteilt worden; der Hochkostenpool solle bei diesem Bericht jedoch nicht im Vordergrund stehen
[52].
Der geltende Beschluss über die jährlichen Beiträge des Bundes an die
Prämienverbilligung der Kantone lief Ende 2003 aus. Wegen der Verzögerungen bei der KVG-Revision beantragte der Bundesrat dem Parlament eine Übergangsregelung. Gegenüber den 2,3 Mia Fr. im laufenden Jahr sollen die Beiträge 2004-2007 jährlich um 1,5% steigen. Im Ständerat verlangte eine Minderheit um die Genfer SP-Abgeordnete Brunner eine Erhöhung der Beitragsleistung des Bundes um je 500 Mio Fr, scheiterte aber mit 30 zu 6 Stimmen. Im Nationalrat beantragte eine Minderheit Guisan (fdp, VD) eine Erhöhung um je 100 Mio Fr., während eine Minderheit Gross (sp, TG) den Antrag Brunner wieder aufnahm. In einer Eventualabstimmung setzte sich vorerst Guisan mit 97 zu 58 Stimmen gegen Gross durch, unterlag dann aber mit 91 zu 69 Stimmen dem Antrag der Kommissionsmehrheit, Bundesrat und Ständerat zu folgen
[53].
Auf dem Verordnungsweg nahm das EDI eine
Erhöhung von Selbstbehalt und Franchise auf Anfang 2004 vor. Begründet wurde dieser Schritt mit dem Kostenanstieg seit Inkrafttreten des neuen KVG (1996) resp. seit der letzten Anpassung der Minimalfranchise (1998). Die Minimalfranchise wurde von 230 auf 300 Fr. angehoben, der Selbstbehalt von bisher 600 auf jährlich maximal 800 Fr. für Erwachsene und von 300 auf 400 Fr. für Kinder. Nach Schätzungen des BSV wird dadurch das gesamte Prämienvolumen um rund 1,5% zurückgehen, doch werden die Haushalte stärker direkt belastet. Gleichzeitig wurden auch die Rabatte für freiwillig erhöhte Franchisen neu ausgestaltet, weil festgestellt worden war, dass Versicherte mit selbst gewählter höherer Franchise zwar weniger Kosten auslösen, ihre Rabatte aber meist bedeutender waren als das zusätzlich eingegangene betragsmässige Risiko. Die Rabatte wurden auf 80% des mit der Wahlfranchise zusätzlich übernommenen Risikos begrenzt (bisher 100%). Für mehr Transparenz wurde zudem eine einheitliche Einteilung der kantonalen Prämienregionen eingeführt
[54].
Erstmals wurde eine Krankenkasse von der Aufsichtsbehörde geschlossen. Wegen gravierender organisatorischer und finanzieller Mängel entzog das BSV der Accorda auf Anfang 2004 die Betriebsbewilligung. Aber auch andere Krankenversicherer kämpften mit finanziellen Problemen. Neben der Accorda wiesen noch drei weitere der insgesamt 90 Kassen einen negativen Reservestand aus. Der Intras wurde deshalb eine vorgezogene Prämienerhöhung im laufenden Jahr gestattet. Dass die
Reserven der Kassen zum Teil weit unter das gesetzliche Minimum von 15% des Prämienvolumens gesunken sind, wurde nicht zuletzt der Politik angelastet. In der Ära Dreifuss/Piller waren die Versicherer ermuntert worden, Reserven abzubauen, um die Prämienerhöhungen zu begrenzen, resp. waren ihnen nicht die Prämienerhöhungen zugestanden worden, die sie als wirtschaftlich notwendig erachteten
[55].
Der Ständerat hiess einstimmig eine Motion sowie eine Empfehlung seiner SGK gut, welche verlangen, dass das
Beschwerdeverfahren zum KVG gestrafft und beschleunigt wird. Das geltende Recht billigt dem Bundesrat vier bis maximal acht Wochen zur Erledigung einer Beschwerde zu; in der Realität wird diese Frist aber regelmässig überschritten. Heikle Beschwerden ziehen sich sogar über Jahre hinweg. Für die Kantone und Spitäler hat dies ernsthafte Konsequenzen. Sie können ihre Rechnungen vergangener Jahre nicht ordnungsgemäss abschliessen und haben entsprechende Probleme bei der Erstellung ihrer Budgets
[56].
Nachdem das Revisionsvorhaben in der Wintersession des Vorjahres im Nationalrat in der Gesamtabstimmung gescheitert war, lag der Ball wieder beim
Ständerat, der sich umgehend an die Differenzbereinigung machte. In mehreren Sitzungen erarbeitete dessen SGK zusammen mit der Verwaltung neue Lösungen, in der Hoffnung, diese würden bei den involvierten Akteuren auf eine breitere Zustimmung stossen. In der Eintretensdebatte im Plenum führte der Kommissionssprecher aus, man wolle grundsätzlich an den ersten Beschlüssen vom Dezember 2001 festhalten. Die Vorlage sei aber verbessert, Ideen aus dem Nationalrat seien aufgenommen und neue Entwicklungen berücksichtigt worden. In der Detailberatung wurden die Vorschläge der Kommission weitgehend akzeptiert, insbesondere der Übergang zur dual-fixen Spitalfinanzierung sowie die Lockerung des Vertragszwangs im ambulanten Bereich (siehe oben, Teil I, 7b, Gesundheitspolitik). Bei der
Prämienverbilligung schwenkte der Ständerat auf die Lösung des Nationalrates und damit den Vorschlag des Bundesrates um. Die maximale Prämienbelastung wurde nicht fix bei 8% des Einkommens festgelegt, wie dies die kleine Kammer in erster Lesung beschlossen hatte, sondern für Familien mit Kindern je nach Einkommen in einer Bandbreite zwischen 2% und 10% festgelegt, für alle anderen zwischen 4% und 12%. Zusätzlich wurde beschlossen, einem Entscheid des Nationalrats aus dem Vorjahr zu folgen und die Prämie für das erste Kind zur Hälfte und für alle weiteren
Kinder vollständig durch Mittel der öffentlichen Hand zu
subventionieren. Diese Bestimmung, von Beerli (fdp, BE) als verpönte „Giesskanne“ angeprangert, war allerdings sehr umstritten und wurde mit 18 zu 17 Stimmen nur ganz knapp angenommen. Um diese Entlastung der Familien zu finanzieren, schlug die Mehrheit der Kommission vor, die Bundesbeiträge für die Prämienverbilligung ab 2004 um 200 Mio Fr zu erhöhen. Beerli beantragte eine Anhebung um lediglich 150 Mio Fr. und setzte sich mit 17 zu 14 Stimmen durch. Gegen einen Antrag Beerli beschloss der Ständerat, dass die jährlichen Bundesbeiträge aufgrund der Kostenentwicklung in der obligatorischen Krankenversicherung und unter Berücksichtigung der Finanzlage des Bundes und der Kantone indexiert werden
[57].
Der Nationalrat begann die Beratung der Differenzen in der Sommersession. Gleich zu Beginn machte die bürgerliche Ratsmehrheit der SP klar, dass sie nach dem Scheitern ihrer „Gesundheitsinitiative“ (siehe oben) auf kein Entgegenkommen mehr zählen könne. Die Anträge der SP wurden gleich reihenweise abgeschmettert, selbst solche, die im Vorjahr noch angenommen worden waren. So sagte die grosse Kammer Nein zu einem Verbot der Billigkassen, zur Verschreibung der Wirkstoffe anstatt der Originalmedikamente, zu vermehrter Planungskompetenz des Bundes, zur Einführung eines Qualitätsmanagements im ambulanten Bereich, zu einer freiwilligen Hotellerie-Versicherung in der Grundversicherung, zu einkommensabhängigen Franchisen und zur Schaffung eines von Bund, Kantonen und Kassen alimentierten Hochrisiko-Pools, mit dem besonders kostspielige Behandlungen finanziert werden sollten.
Grundsätzlich unbestritten blieb das neue System der
Prämienverbilligung mit einem differenzierten Sozialziel. Auf Antrag von Guisan (fdp, VD) fügte der Rat mit 108 zu 33 Stimmen eine Klausel ein, wonach die Kantone für den Anspruch auf Prämienverbilligung ein Höchsteinkommen festzulegen haben. Der Entscheid zur
Prämienbefreiung von Kindern wurde mit 84 zu 65 Stimmen bekräftigt. In der Frage der Finanzierung der Prämienverbilligung, bzw. der Erhöhung der
Bundesbeiträge nach Inkrafttreten der Gesetzesrevision, standen verschiedene Vorschläge im Raum, nämlich ein Antrag einer bürgerlichen Kommissionsminderheit I auf 150 Mio Fr. sowie der Antrag einer links-grünen Minderheit II auf 500 Mio Fr. Schliesslich setzte sich der Antrag der Kommissionsmehrheit (zusätzliche 200 Mio Fr.) mit 75 zu 67 Stimmen gegen den geringeren und mit 90 zu 52 Stimmen gegen den höheren Betrag durch; die jährliche Indexierung sollte sich, anders als vom Ständerat beschlossen, aber nur auf die Kostenentwicklung in der Krankenversicherung beziehen
[58].
In der zweiten Runde der
Differenzbereinigung schloss sich der Ständerat bei der Erhöhung der Bundesbeiträge dem Nationalrat an (+ 200 Mio Fr). Da in der Zwischenzeit die kantonalen Finanzdirektoren bei der Kommission vorstellig geworden waren und auf die enormen Kosten verwiesen hatten, die auch auf sie zukommen würden, entschied er diesmal mit 22 zu 19 Stimmen, auf die zusätzliche einkommensunabhängige Subventionierung der
Kinderprämien zu verzichten
[59]. Im Nationalrat setzte aber eine Koalition aus CVP, SP und Grünen mit 92 zu 90 Stimmen durch, dass daran festgehalten wurde. Mit 10 zu 12 Stimmen schloss sich die Einigungskonferenz dem Ständerat an; sie lehnte auch einen Kompromissvorschlag ab, der die Kinderprämien nur für Familien mit einem Einkommen bis 126 000 Fr. übernehmen wollte. Der Ständerat stimmte den Anträgen der Einigungskonferenz diskussionslos zu
[60].
Im
Nationalrat wiederholte sich dann aber das
Debakel des Vorjahres – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. SP und Grüne lehnten die Vorlage geschlossen ab, weil ihrer Meinung nach für das neue Modell der Prämienverbilligung zu wenig Geld gesprochen wurde und weil sie mehr Planung statt mehr Wettbewerb wünschten. Die CVP enthielt sich wegen der gestrichenen Kinderrabatte ebenso geschlossen der Stimme. Besonders in der neuen Zusammensetzung der grossen Kammer hätte diese Allianz allein nicht genügt, um die Vorlage bachab zu schicken. Auch die je vier Abweichler in FDP (die drei Waadtländer Favre, Vaudroz und Guisan, der formell den Antrag auf Ablehnung stellte, sowie Markwalder, BE) und SVP (die drei Zürcher Kaufmann, Keller und Maurer sowie Dunant, BS), welche die Revision gegen den Willen der Fraktionsmehrheit ablehnten, hätten nicht unbedingt zum Kippen der Vorlage führen müssen. Ausschlaggebend waren letztlich Absenzen: Auf der linken Seite fehlten nur zwei Nationalräte, während bei der FDP acht und bei der SVP neun Mitglieder abwesend waren. FDP-Fraktionschef Pelli (TI) äusserte sich entsprechend enttäuscht über seine Leute, die andere Termine dieser wichtigen Abstimmung vorgezogen hätten. Pelli ortete aber auch ein „Problem Couchepin“: im Nationalrat habe dieser zwar noch mit einem dringlichen Appell versucht, die Vorlage zu retten; tags zuvor habe er sie im Ständerat aber scheinbar lustlos verteidigt und erklärt, bei einem Referendum würde es zwar nicht unmöglich, aber schwierig, das Volk von dieser Revision zu überzeugen. Die Vorlage wurde
mit 71 zu 66 Stimmen verworfen. Da sie in rund drei Jahren das ganze parlamentarische Verfahren durchlaufen hatte, war sie damit
definitiv gescheitert [61].
[41]
NLZ, 24.1.03. Siehe
SPJ 2002, S. 221.
[42] Presse vom 12.2.-17.5.03, insbesondere vom 12.2. (SP), 26.2. (BR Couchepin), 29.3. (Nein-Komitee) sowie
NZZ, 26.2. (NR Cavalli, sp, TI / NR Gutzwiller, fdp, ZH), 9.4. (Arbeitgeberverband), 7.5. (SR Brändli, svp, GR) und 9.5.03 (CVP-Präsident und SR Stähelin, TG);
TA, 27.3. (Cavalli / Gutzwiller);
Bund, 29.3. (Cavalli / Couchepin). Santésuisse setzte rund 1,5 Mio Fr. zur Bekämpfung der Initiative ein, was für recht viel Wirbel sorgte, da nicht klar war, aus welchen Quellen diese Summe stammte (
TA, 4.3. und 13.3.03); siehe dazu auch die Stellungnahme des BR zu Fragen im NR:
AB NR, 2003, S. 148 f.
[43]
BBl, 2003, S. 5164 ff.; Presse vom 19.5.03.
[44] Blaser, Cornelia et al.,
Analyse der eidgenössischen Abstimmung vom 18. Mai 2003, Vox Nr. 81, Zürich 2003.
[45]
BBl, 2003, S. 422 ff.; Presse vom 17.1.03. Siehe
SPJ 2002, S. 221. Der NR überwies eine Motion Mörgeli (svp, ZH) für den vollen Abzug der Prämien sowohl der Grund- wie der Zusatzversicherungen von der allgemeinen Bundessteuer in Postulatsform (
AB NR, 2003, S. 1223).
[46]
BBl, 2003, S. 3977 ff.; Presse vom 19.5., 24.5., 27.5., 28.5., 30.6., 14.11. und 1.12.03;
WoZ, 7.8.04. Die im Vorjahr vom Westschweizer Komitee „Rassemblement des Assurés et des Soignants“ lancierte Volksinitiative „Krankenkassenprämien in den Griff bekommen“ kam nicht zustande:
BBl, 2003, S. 5935. Siehe
SPJ 2002, S. 220.
[47]
AB SR, 2003, S. 111 f.;
AB NR, 2003, S. 497 ff. Zum Bericht des BSV, der auf ein Postulat der SGK des NR zurückgeht, siehe
NZZ, 30.5.03. Für eine Machbarkeitsstudie im Auftrag der Westschweizer Sanitäts- und Sozialdirektorenkonferenz vgl.
NZZ, 25.11.03.
[48]
AB SR, 2003, S. 1121.
[49]
AB SR, 2003, S. 1122. Siehe dazu auch ein überwiesenes Postulat Robbiani (cvp, TI) in
AB NR, 2003, Beilagen I, S. 310 f. sowie eine (abgelehnte) pa.Iv. Thanei (sp, ZH):
a.a.O., S. 1456 ff. Vgl.
SPJ 2001, S. 195.
[50]
AB SR, 2003, S. 112 (Motion) und 999 f. (Waadt und Genf);
AB NR, 2003, S. 725 ff. (Waadt und Genf), 728 (Waadt) und 731 (Wallis). Siehe
SPJ 2002, S. 223 und
2001, S. 195.
[51]
AB NR, 2003, S. 728 ff.;
AB SR, 2003, S. 1001. Siehe
SPJ 2002, S. 223.
[52]
AB NR, 2003, S. 1899.
[53]
BBl, 2003, S. 4349 ff.;
AB SR, 2003, S. 753 ff.;
AB NR, 2003, S. 1345 ff. Eine pa.Iv. der SP-Fraktion für ein Moratorium für die Krankenkassenprämien wurde mit 112 zu 59 Stimmen klar abgelehnt (
AB NR, 2003, S. 163 ff.).
[54] Presse vom 17.4., 19.4., 21.5., 31.5. und 7.6.03. Zu einer Studie über die Auswirkungen von erhöhten Wahlfranchisen auf die Gesundheitskosten siehe Presse vom 7.6.03;
CHSS, 2003, S. 152 f. Höhere Franchisen und Selbstbehalte waren insbesondere von dem im Vorjahr gegründeten „Gesundheitsrat“ verlangt worden (
NZZ, 28.2. und 1.3.03). Zur Rolle dieses FDP-dominierten Gremiums als „Einflüsterer“ Couchepins siehe
Bund, 28.2.03. Vgl.
SPJ 2002, S. 221*.
[55]
NZZ, 6.9. und 4.11.03.
[56]
AB SR, 2003, S. 618 ff.
[57]
AB SR, 2003, S. 195 ff. und 338 ff.; Presse vom 29.1. und 25.2.03 (Kommission). Vgl.
SPJ 2002, S. 224 f.
[58]
AB NR, 2003, S. 1059 ff., 1072 ff., 1080 ff., 1090 ff., 1106 ff., 1110 ff. und 1118 ff.; Presse vom 10.5. und 21.5.03 (Kommission).
[59]
AB SR, 2003, S. 733 ff.
[60]
AB NR, 2003, S. 1888 ff. und 2048 ff.;
AB SR, 2003, S. 1096 ff., 1102 ff. und 1171 ff.
[61]
AB NR, 2003, S. 2048 ff.; Presse vom 18.12. (Kommentare) - 20.12.03 (von Couchepin skizziertes weiteres Vorgehen).
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