Année politique Suisse 2010 : Economie / Politique économique générale
 
Wettbewerb
Gestützt auf einen Evaluationsbericht aus dem Vorjahr eröffnete der Bundesrat im Sommer die Vernehmlassung zur Teilrevision des Kartellgesetzes. In institutioneller Hinsicht sollen eine unabhängige Wettbewerbsbehörde (ohne Einsitz der Wirtschaftsverbände) und ein erstinstanzliches Bundeswettbewerbsgericht geschaffen werden. Ersteres wäre zuständig für die Durchführung allfälliger Untersuchungen und letzteres würde mit der Fallbeurteilung betraut [19].
Das Wettbewerbsprinzip soll durch gezielte materielle Änderungen zusätzlich gestärkt werden. Hierbei wird eine Verbesserung des Widerspruchsverfahrens, die Stärkung der Zusammenschlusskontrolle sowie die einzelfallgerechte Analyse vertikaler Abreden bezüglich ihrer wettbewerbshindernden bzw. –fördernden Wirkung angestrebt. Zudem sollen die gesetzlichen Voraussetzungen für die internationale Zusammenarbeit der Wettbewerbsbehörden und die Ausweitung des kartellrechtlichen Zivilverfahrens auf die Endkunden geschaffen werden. Im Mai ernannte der Bundesrat den Neuenburger Rechtsprofessor Vincent Martenet zum Präsidenten der Wettbewerbskommission. Er trat Anfang Juli die Nachfolge von Walter Stoffel an [20].
Gegen den Willen des Bundesrats stimmte der Ständerat in der Herbstsession der durch den Nationalrat abgeänderten Motion Schweiger (fdp, ZG) für eine Änderung des Sanktionssystems im Kartellrecht zu. Während beide Kammern die neu vorgeschlagene direkte Sanktionierung natürlicher Personen beim Vorliegen vorsätzlicher kartellrechtlicher Verstösse angenommen hatten, hatte der Nationalrat in seiner Lesung die für Unternehmen mit bestmöglicher Compliance vorgesehene Exemptionsklausel gestrichen. Damit wurde dem allfälligen Nachweis unternehmensinterner Programme zur verstärkten Beachtung des Kartellrechts lediglich sanktionsmildernde, nicht aber sanktionsausschliessende Wirkung zugebilligt [21].
Im Herbst begann die kleine Kammer als Erstrat mit der Lesung zur Teilrevision des Bundesgesetzes über den unlauteren Wettbewerb (UWG). Die Schaffung von Rechtsgrundlagen für die Zusammenarbeit mit ausländischen Lauterkeitsaufsichtsbehörden und die Stärkung der Rechtsdurchsetzung waren unbestritten. In den Detailberatungen zum materiellen Lauterkeitsschutz hingegen wurden zwei breiter diskutierte Anträge gestellt. Angenommen wurde schliesslich der Vorstoss Savary (sp, VD). Er will die Missachtung von Telefonbuch-Vermerken für die Unterlassung von Werbeanrufen (mit einem Stern gekennzeichnete Nummern), als missbräuchlichen Tatbestand in den Katalog unlauterer Werbemethoden aufnehmen. Der Antrag Frick (cvp, SZ) hingegen, Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) nach bestehendem Recht lauterkeitsrechtlich weiterhin nur unter dem Tatbestand der Irreführung zu beurteilen, wurde abgelehnt. In Übereinstimmung mit dem Bundesrat wünscht sich der Ständerat künftig die Möglichkeit einer offenen und freien – auch inhaltlichen – gerichtlichen Beurteilung von AGB nach den Regeln von Treu und Glauben. In der Schlussabstimmung wurde der Revisionsentwurf einstimmig angenommen und damit zur Beurteilung an den Zweitrat überwiesen [22].
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Importe
Das Cassis-de-Dijon-Prinzip, das die Schweiz mit der Revision des Gesetzes über die technischen Handelshemmnisse (THG) mit einseitiger Wirkung eingeführt hatte, blieb auch nach seinem Inkrafttreten Anfang Juli v.a. im Lebensmittelbereich politisch umstritten. SVP- und Landwirtschaftsvertreter im Nationalrat wollten der befürchteten Nivellierung der Lebensmittelqualität nach unten die gesetzliche Grundlage entziehen. Nach dem gescheiterten Referendum gegen das Gesetz und der vergeblichen Opposition gegen die Verordnung zum revidierten THG Ende 2009, verlangten Erich von Siebenthal (svp, BE) und 39 Mitunterzeichnende der SVP und der Lega dei Ticinesi im Dezember 2010 in einer Motion die Streichung des Cassis-de-Dijon-Prinzips aus dem THG. Gleichzeitig lancierte Jacques Bourgeois (fdp, FR) eine Parlamentarische Initiative, welche die Streichung der Lebensmittel aus dem THG forderte und quer durch alle Parteien 86 Mitunterzeichnende fand. Beide Geschäfte standen Ende 2010 noch zur Behandlung im Plenum an. Bis Ende des Jahres hatte das Bundesamt für Gesundheit gemäss einer ersten Zwischenbilanz 21 Gesuche für den Import von Lebensmitteln nach dem Cassis-de-Dijon-Prinzip gutgeheissen und deren 14 abgelehnt. Gegen sechs Entscheide waren beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerden hängig [23].
Am 1.7.2010 trat das neue Bundesgesetz über die Produktesicherheit in Kraft, das die schweizerische Rechtsetzung, vorbehältlich sektorieller Regelungen im Bundesrecht, an die entsprechende EG-Gesetzgebung angleicht. Mit der dazugehörenden Verordnung wurden die Grundlagen für eine vom Seco und dem Büro für Konsumentenfragen gemeinsam betriebene Melde- und Informationsstelle geschaffen [24].
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Öffentliche Beschaffungen
Im Sommer 2009 hatte der Bundesrat beschlossen, die Totalrevision des Bundesgesetzes über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) zu sistieren. Dies aufgrund der Vernehmlassungsergebnisse sowie der Verzögerungen bei der Revision des Vergaberechts (Government Procurement Agreement) im Rahmen der WTO, auf welches das schweizerische Gesetz abgestimmt werden soll. Dringende Aspekte wie die Modernisierung des Beschaffungswesens mittels elektronischer Ausschreibung und die Flexibilisierung anhand funktionaler Vergabekriterien regelte er mit einer Teilrevision der Beschaffungsverordnung, die zu Beginn des Berichtsjahrs in Kraft trat. Über eine vorgezogene Teilrevision des BöB sollen zudem die Vergabeverfahren beschleunigt werden. Dadurch erhofft der Bundesrat, Kostensteigerungen künftig zu vermeiden, wie sie der öffentlichen Hand über die Blockierung von Neat-Gotthard-Projekten aufgrund von Einsprachen gegen Vergabeentscheide entstanden waren. Der bisher geltende Grundsatz der fehlenden aufschiebenden Wirkung soll dabei umgekehrt und den Bestimmungen im übrigen Verwaltungsrecht angepasst werden. Neu käme dabei allen, und nicht nur den per Gerichtsentscheid nachträglich bestimmten Beschwerden eine aufschiebende Wirkung zu. Vergaben von qualifiziertem und gewichtigem öffentlichen Interesse hingegen, die mit einem hohen Verzögerungsschaden einhergehen würden, wäre die aufschiebende Wirkung auch im Beschwerdefall grundsätzlich entzogen [25].
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Konsumentenschutz
Bereits vor der Übernahme des Cassis-de-Dijon-Prinzips durch die Schweiz waren die Lebensmittelqualität und damit verbunden die sozialen und ökologischen Bedingungen, unter denen Lebensmittel produziert werden, Thema verschiedener politischer Vorstösse. Im Berichtsjahr nahm die WAK-NR den Vorschlag ihrer Schwesterkommission im Ständerat auf, fünf 2008 und 2009 eingereichte Standesinitiativen ähnlicher Stossrichtung aus den Kantonen Freiburg, Jura, Neuenburg, Waadt und Genf gemeinsam zu prüfen. Sie fasste zwei der drei Hauptanliegen der Initiativen in je einer Motion und einem Postulat zusammen und brachte sie in der Wintersession zur Diskussion in den Rat. Mit 133 zu 27 Stimmen – gegen eine Minderheit aus der SVP- und eine Mehrheit der liberalen Fraktion – nahm der Rat die Motion an, die den Bundesrat dazu auffordert, sich in internationalen Wirtschaftsverhandlungen nicht nur durch Freihandelsbestrebungen leiten zu lassen, sondern sich dabei auch für die Verbesserung der sozialen und ökologischen Produktionsbedingungen einzusetzen. Daneben überwies die grosse Kammer ein Postulat, das den Bundesrat beauftragte, die staatlich anerkannten Nachhaltigkeitslabels der EU zu prüfen und die Vor- und Nachteile dieser Form der Konsumenteninformation im nationalen, aber auch internationalen Kontext zu diskutieren. Nachdem der Nationalrat mit der Annahme der beiden Vorstösse den Vorschlägen seiner Kommission gefolgt war, gab er danach und gegen ihren Willen mit einer relativ knappen Mehrheit von 85 zu 76 Stimmen auch den fünf Standesinitiativen Folge [26].
Einen Schritt in die vom Nationalrat gewünschte Stärkung des Nachhaltigkeitsprinzips über eine verbesserte Transparenz in der Produktion, insbesondere von ressourcenrelevanten Gütern war der Bundesrat im Sommer gegangen. Gestützt auf das Konsumenteninformationsgesetz verabschiedete er eine Deklarationspflicht für Holz und Holzprodukte, welche die nachhaltige Ressourcenbewirtschaftung in der Holzindustrie befördern soll [27].
 
[19] LT, 1.7.10; TA, 30.6.10; NZZ, 28.5., 1.7. und 14.10.10; TA, 1.7.10; NZZ 22.10.10 (mit Bezug zum Wettbewerbsschutz in der EU); BaZ, 9.11.10.
[20] Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement, Erläuternder Bericht zur Änderung des Bundesgesetzes über Kartelle und andere Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz, KG), Bern 2010; NZZ, 7.3., 17.3., 4.5., 14.5., 12.8., 9.11. und 16.11.10; LT, 14.5. und 26.6.10; TA, 4.5., 15.5. und 12.7.10; SN, 28.5.10; SGT, 30.6.10, Handelszeitung, 14.–20.10.10; Lib., 9.11.10; TG, 9.11.10.
[21] AB SR, 2010, S. 856 ff. Das Revisionsbegehren folgte ergänzend und im Anschluss an die laufende Gesetzesrevision, wie sie im Sommer in die Vernehmlassung ging. Ende 2010 stand die Entscheidung über eine allfällige Integration der vorgeschlagenen Sanktionsmöglichkeiten in die laufende Revision noch aus. Dazu: NZZ, 22.9.10; NLZ, 22.9.10.
[22] Vgl. SPJ 2009, S. 101; AB SR, 2010, S. 929 ff.; BaZ, 30.9.10; NZZ, 30.9.10.
[23] SPJ, 2009, S. 102. Die Presse ging v.a. auf die erwarteten, aber nicht eingetroffenen Preissenkungen, die Skepsis und Vorbehalte des Detailhandels und der Bauern, die Ernüchterung der Konsumentenschützer sowie die Ausnahmeregelungen ein: Lib., 20.5.10; BaZ 30.6.10; NZZ, 1.7. und 23.9.10; So-Bli, 30.5.10; Handelszeitung, 9.–15.6.10; TA, 12.7. und 20.12.10; LT, 21.12.10; Presse vom 22.10.10. Vgl. auch Motion Bourgeois (fdp, FR) Qualitätssicherung in der Schweizer Landwirtschaft, überwiesen am 14.9.10 (Zustimmung NR zur Änderung SR); Mo. 09.4340 „Beschlüsse des Parlamentes zum THG respektieren“ von Nationalrätin Glauser-Zufferey (svp, VD) vom 11.12.09; Mo. 10.3922; Pa. Iv. 10.538.
[24] SECO, Medienmitteilungen, 10.5.2010 und 7.7.2010; NZZ, 10.6.10.
[25] Vgl. auch SPJ 2008, S.102; AS 2010, S. 6149 ff.; BBl, 2010, S. 4051 ff.; Lib., 5.2.10; NZZ, 20.5. und 6.8.10; Zur Modernisierung: Lit. Tanner.
[26] AB NR, 2010, S. 1992 f.
[27] AS 2010, S. 2873 ff.