Année politique Suisse 2010 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Familienpolitik
Im Januar lancierte die SVP eine bereits angekündigte Volksinitiative für eine steuerliche Besserstellung von Familien, die ihre Kinder selbst betreuen. Diesen soll mindestens der gleiche Steuerabzug gewährt werden wie Eltern, die ihre Kinder durch Dritte betreuen lassen. Laut der SVP bestraft das geltende Recht nämlich traditionelle Familien. Diese würden wegen der Kinder auf ein Zweiteinkommen verzichten und gleichzeitig mit ihren Steuergeldern die Krippen und Betreuungsangebote für Doppelverdiener-Paare unterstützen. Eine Motion von Rotz (svp, OW), welche ebenfalls eine steuerliche Besserstellung von Familien mit traditioneller Rollenteilung forderte, wurde vom Nationalrat mit 96 zu 64 Stimmen verworfen [43].
Ebenfalls im Januar lancierten christlich-konservative Kreise eine Volksinitiative mit dem Titel „Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache“. Die Initianten möchten die Abtreibungskosten aus dem Leistungskatalog der obligatorischen Krankenkasse streichen. Eine Ausnahme soll bei Frauen gelten, die Opfer einer Vergewaltigung wurden oder deren Leben durch die Schwangerschaft gefährdet würde [44].
Der Nationalrat überwies in der Frühjahrssession eine Motion Fehr (sp, ZH), die eine Änderung des Zivilgesetzbuches über das Adoptionsgeheimnis fordert. Den leiblichen Eltern soll ein Anspruch auf Kenntnis der Personalien ihrer adoptierten Kinder zuerkannt werden, wenn diese die Volljährigkeit erreicht und ihr Einverständnis für die Kontaktaufnahme gegeben haben [45].
Zudem verlängerte die grosse Kammer mit 97 zu 88 Stimmen die Frist für eine parlamentarische Initiative Hochreutener (cvp, BE) um zwei Jahre. Damit konnte seine Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit an einem Verfassungsartikel für eine umfassende Familienpolitik weiterarbeiten. Im November schickte sie einen entsprechenden Entwurf in die Vernehmlassung. Dieser sieht vor, die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit als Staatsaufgabe in die Verfassung aufzunehmen. Bund und Kantone sollen insbesondere verpflichtet werden, für ein bedarfsgerechtes Angebot an familien- und schulergänzenden Tagesstrukturen zu sorgen [46].
Im Mai präsentierte der Bundesrat einen überarbeiteten Entwurf für ein neues Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik (PID). Die Regierung hatte der Kritik an der letzten Vorlage Rechnung getragen und eine liberalere Regelung ausgearbeitet. Es soll erlaubt werden, eine beliebige Anzahl Embryos künstlich zu zeugen. Der erste Vorschlag enthielt noch eine Obergrenze von drei Embryos pro Paar. Davon wurde mit dem neuen Vorschlag abgewichen, weil die Chancen einer erfolgreichen Behandlung bei drei Embryos minimal sind. Generell fallenlassen will der Bundesrat das Verbot, die Embryonen nach der In-vitro-Fertilisation aufzubewahren. Festgehalten hat er dagegen an der Einschränkung, wonach PID nur bei erblich schwer belasteten Paaren angewandt werden darf. Die vorgeschlagenen Anpassungen bedingen eine Verfassungsänderung [47].
Der Ständerat überwies im Berichtsjahr mit 32 zu 7 Stimmen eine Motion Gutzwiller (fdp, ZH) für ein zeitgemässes Erbrecht. Der Vorstoss, welcher von 24 Ständeräten aus allen grossen Parteien unterzeichnet und auch vom Bundesrat begrüsst wurde, zielt darauf ab, das Pflichtteilsrecht flexibler auszugestalten und es den stark geänderten demografischen, familiären und gesellschaftlichen Lebensrealitäten anzupassen. Während die generelle Stossrichtung der Motion begrüsst wurde, stiess die darin vorgesehene Besserstellung von Konkubinatspaaren auf Widerstand. Insbesondere Politiker der CVP beurteilten den Vorschlag der Ehe-Entprivilegierung sehr skeptisch [48].
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Ausserfamiliäre Kinderbetreuung
Im Februar verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zur Verlängerung der Bundesfinanzhilfen für Krippen. Dabei hatte er den Finanzrahmen gegenüber früheren Vorstellungen deutlich reduziert. Statt der ursprünglich vorgesehenen 140 Mio Fr. sollten nur noch 80 Mio Fr. fliessen. Er wollte das Programm ganz auf Projekte im Vorschulbereich ausrichten, also vor allem auf Kindertagesstätten. Schulergänzende Projekte sollten hingegen ganz den Kantonen überlassen werden. Schliesslich sah der Entwurf vor, die Finanzhilfen nur noch an neue Krippen zu gewähren und nicht mehr an solche, die ihr Angebot aufstocken [49].
In den Kantonen regte sich Widerstand gegen dieses Sparprogramm des Bundes. Die Erziehungsdirektorenkonferenz und die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren protestierten gemeinsam gegen den geplanten Verzicht auf Finanzhilfen bei der schulergänzenden Kinderbetreuung [50].
In der Sommersession stimmte der Nationalrat der Verlängerung der Krippenförderung um weitere vier Jahre zu. Dabei sprach er sich mit 89 zu 88 Stimmen für einen Förderbeitrag von 120 Mio Fr. aus. Anders als der Bundesrat wollte der Nationalrat auch weiterhin schulergänzende Angebote unterstützen. Innenminister Burkhalter und bürgerliche Parlamentarier wandten vergeblich ein, dass die Kantone gemäss dem Schulkonkordat HarmoS für die Bereitstellung solcher Betreuungsplätze zuständig sind. Die Linken und Teile der CVP befürchteten eine Benachteiligung von Kantonen und Gemeinden, die bisher keine schulergänzenden Betreuungsstrukturen geschaffen haben [51].
Der Ständerat hiess das Impulsprogramm in der Herbstsession ebenfalls gut. Im Unterschied zur grossen Kammer wollte er die Finanzhilfen nicht auf neue Institutionen beschränken, sondern wie bisher auch bestehende Einrichtungen unterstützen, wenn diese ihr Angebot um mindestens zehn Plätze erhöhen. Ebenfalls in der Herbstsession bereinigte der Nationalrat diese letzte Differenz und willigte ein, Finanzhilfen auch an bestehende Betreuungseinrichtungen auszurichten. In der Schlussabstimmung wurde die Vorlage vom Ständerat mit 38 zu 2 Stimmen bei 2 Enthaltungen und vom Nationalrat mit 124 zu 65 Stimmen gegen den Widerstand der SVP sowie einzelner FDP- und CVP-Mitglieder gutgeheissen [52].
Im September schickte der Bundesrat einen überarbeiteten Entwurf der Kinderbetreuungs-Verordnung in die Vernehmlassung. Laut dem neuen Vorschlag sollen Verwandte und enge Freunde auch ohne Bewilligung Kinder hüten dürfen. Das Gleiche gilt für im Privathaushalt angestellte Kindermädchen und Au-Pairs. Andere Personen, welche Kinder mehr als zehn Stunden pro Woche gegen ein Entgelt betreuen, benötigen laut dem Entwurf künftig eine Bewilligung einer kantonalen Fachinstanz. Für die Bewilligungserteilung möchte der Bundesrat grundsätzlich den Besuch eines Einführungskurses voraussetzen. Bei Verletzung der Bewilligungsvorschrift ist eine Busse von bis zu 5000 Fr. vorgesehen [53].
Auch in der überarbeiteten Form stiess der Entwurf auf erheblichen Widerstand. Für die bürgerlichen Parteien stellte auch die neue Verordnung einen zu starken Eingriff in die elterliche Erziehungsarbeit dar. Sie sahen es als übertrieben an, dass die private, stundenweise Betreuung gegen Entgelt nur noch mit staatlicher Bewilligung erlaubt werden sollte. Kritik gab es auch von Fachorganisationen. Die Pflegekinderaktion Schweiz bemängelte, dass die Vorlage viel zu stark auf die Tagesbetreuung von Kindern aus „normalen Familien“ ausgerichtet sei und der speziellen Situation von Pflegekindern zu wenig Rechnung trage. Sie fand es bedenklich, dass Verwandte oder den Eltern nahe stehende Personen gemäss Entwurf nur noch dann eine Bewilligung für die Aufnahme eines Pflegekindes bräuchten, wenn es sich um eine behördliche Platzierung handelte. Opposition gab es schliesslich auch von der Rechtskommission des Nationalrats. Sie forderte den Bundesrat auf, die Betreuung von Pflegekindern in einer separaten Verordnung zu regeln und trat ausserdem mit 16 zu 2 Stimmen auf eine parlamentarische Initiative Leutenegger (fdp, ZH) ein, die im Zivilgesetzbuch selbst explizit festhalten will, dass die private Kinderbetreuung keine Bewilligung erfordert [54].
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Elternschaftsurlaub
Im Juni entschied der Bundesrat, die Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber an die Erwerbsersatzordnung (EO) von 0,3 auf 0,5 Lohnprozente anzuheben. Die Beitragserhöhung wurde erforderlich, weil die Reserven des EO-Fonds seit Einführung der Mutterschaftsversicherung im Jahre 2005 unter den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestbetrag gesunken waren [55].
Die eidgenössische Kommission für Familienfragen (EKFF) lancierte im Berichtsjahr eine Debatte über eine Elternzeit. In einer im Oktober veröffentlichten Publikation forderte sie, dass Mütter und Väter nach der Geburt eines Kindes 24 Wochen Elternzeit erhalten sollen, die sie sich gemeinsam aufteilen können. Während dieser Zeit erhielten sie 80% des Lohnes; maximal 5880 Fr. im Monat. Die Elternzeit müsste nicht am Stück, sondern könnte bis zur Einschulung des Kindes in Tranchen oder auch als Teilzeitarbeit bezogen werden. Die Kosten für die Einführung der Elternzeit schätzte die EKFF auf 1,1 bis 1,2 Mia Fr. Eine Finanzierung des Elterngeldes über die Erwerbsersatzordnung würde eine Erhöhung bei den Lohnprozenten von je 0,2% für Arbeitnehmende und Arbeitgebende bedeuten. Bei einer Finanzierung über die Mehrwertsteuer müsste der Satz um 0,4 bis 0,5% angehoben werden. Bei bürgerlichen Politikern und der Wirtschaft stiess die Idee auf Widerstand. Sie wehrten sich gegen zusätzliche Sozialabgaben und bezweifelten die zentrale Bedeutung einer Elternzeit für die Standortattraktivität der Schweiz [56].
Der Ständerat überwies mit 27 zu 10 Stimmen ein Postulat Seydoux-Christe (cvp, JU), welches den Bundesrat beauftragt, die Einführung eines ausreichend langen bezahlten Urlaubs für Eltern von schwerkranken Kindern zu prüfen. Ein vom Rat ebenfalls gutgeheissenes Postulat Maury Pasquier (sp, GE) fordert die Regierung dazu auf, das Problem des Einkommens der Frau zu klären, wenn der Anspruch auf Entschädigung durch die Mutterschaftsversicherung infolge der Hospitalisierung des Neugeborenen aufgeschoben wird. Nach geltendem Recht können Mütter ihren Anspruch auf Leistungen der Mutterschaftsversicherung hinausschieben, wenn das Neugeborene nach der Geburt länger als gewöhnlich im Spital bleiben muss. Aufgrund des Arbeitsverbots während der ersten acht Wochen nach der Niederkunft stelle sich jedoch die Frage nach dem Verdienst während dieser Zeit [57].
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Familienzulagen
Im Jahr 2009 hatte der Nationalrat einer Ausdehnung der Familienzulagen auf Selbständigerwerbende zugestimmt. Der Ständerat beschloss hingegen im Berichtsjahr mit dem Stichentscheid seiner Präsidentin Erika Forster-Vannini (fdp, SG), nicht auf die Vorlage einzutreten. Die Mehrheit der Kommission hatte sich gegen eine Änderung des lediglich seit einem Jahr geltenden Familienzulagengesetzes ausgesprochen. Sie war der Ansicht, die Regelung, wonach die Kantone die Kinderzulagen auch für Selbständigerwerbende freiwillig einführen können, genüge vollauf. Der Nationalrat entschied sich jedoch in der Frühjahrssession an dem auf eine parlamentarische Initiative Fasel (csp, FR) zurückgehenden Einbezug von Selbständigerwerbenden festzuhalten. Im zweiten Anlauf hiess der Ständerat einen Minderheitsantrag seiner Kommission gut und trat mit 23 zu 20 Stimmen schliesslich ebenfalls auf die Vorlage ein. Diese ging anschliessend zur Detailberatung an die Kommission zurück [58].
Eine Motion Rossini (sp, VS), welche die Erhebung statistischer Daten zur Anwendung der Bundesgesetzgebung über die Familienzulagen gefordert hätte, wurde vom Nationalrat in der Sommersession abgelehnt [59].
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Ehe- und Scheidungsrecht
Als Zweitrat überwies der Ständerat in der Wintersession eine Motion Humbel-Näf (cvp, AG). Der Bundesrat wird damit beauftragt, die gesetzlichen Grundlagen dafür zu schaffen, dass im Scheidungsfall obligatorische und überobligatorische Altersguthaben je im gleichen Verhältnis aufgeteilt werden [60].
Die vom Bundesrat 2009 vorgeschlagene Änderung des Vorsorgeausgleichs bei Scheidungen war in der Vernehmlassung mehrheitlich begrüsst worden und die Regierung beauftragte daher im Oktober das Justiz- und Polizeidepartement mit der Ausarbeitung der Botschaft zu einer Gesetzesänderung. Nach geltendem Recht werden die Vorsorgegelder bei einer Scheidung vor der Pensionierung hälftig geteilt. Wenn die Scheidung erst nach Eintritt des Vorsorgefalls erfolgt, müssen sich die Ehepartner mit einer Entschädigung begnügen, die mit dem Tod des zur Leistung verpflichteten wegfällt. Neu sollen bei einer Scheidung die Pensionskassengelder immer hälftig geteilt werden [61].
 
[43] BBl, 2010, S. 281 ff.; NZZ und SGT, 27.1.10; AB NR, 2010, S. 927 ff. (Mo. Rotz). Siehe auch SPJ 2009, S. 236.
[44] BBl, 2010, S. 285 ff.; AZ, 27.1.10.
[45] AB NR, 2010, S. 551.
[46] AB NR, 2010, S. 383 f.; BBl, 2010, S. 8354.
[47] NZZ, SGT und SZ, 27.5.10.
[48] TA, 19.6. und 1.9.10; BZ und NZZ, 24.9.10.
[49] BBl, 2010, S. 1627 ff.; Exp, NZZ und TA, 18.2.10. Siehe auch SPJ 2009, S. 236.
[50] AZ, 20.3.10; BaZ, 20.3. und 1.4.10.
[51] AB NR, 2010, S. 952 ff.; NF und NZZ, 15.6.10.
[52] AB SR, 2010, S. 819 ff. und 1110; AB NR, 2010, S. 1421 f. und 1675; BBl, 2010, S. 6571 ff.
[53] BBl, 2010, S. 6021; NZZ und TG, 18.9.10; NLZ, 21.9.10. Siehe auch SPJ 2009, S. 235 f.
[54] NZZ, 18.11. und 21.12.10; TA, 21.12.10.
[55] NZZ, 19.6.10.
[56] BZ, NLZ und TA, 27.10.10; Lit. Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen.
[57] AB SR, 2010, S. 43 f. (Po. Seydoux-Christe) und 793 f. (Po. Maury Pasquier).
[58] BBl, 2010, S. 4263 ff.; AB SR, 2010, S. 70 ff. und 237 ff.; AB NR, 2010, S. 378 ff. Siehe auch SPJ 2009, S. 237.
[59] AB NR, 2010, S. 1127.
[60] AB SR, 2010, S. 1088 f. Siehe auch SPJ 2009, S. 239.
[61] NZZ, 21.10.10. Siehe auch SPJ 2009, S. 238 f.