Année politique Suisse 2013 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
 
Gerichte
Mit Francesco Parrino wählte die Vereinigte Bundesversammlung Ende September den Nachfolger von Aldo Borella als hauptamtlichen Bundesrichter italienischer Sprache. Parrino wurde von der SP vorgeschlagen und von allen Fraktionen ausser der FDP-Liberalen und der CVP/EVP-Fraktion unterstützt, welche ihrerseits Luca Grisanti vorschlugen. Die Gerichtskommission hatte sich für den SP-Kandidaten ausgesprochen, weil die SP am Bundesgericht stärker untervertreten sei als die FDP. Die Freisinnigen machten hingegen geltend, dass es bei den Wahlen um die Vakanz in der sozialrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes gehe, wo bereits jetzt drei von zehn Richtern der SP angehörten. Der zurücktretende Aldo Borella gehört der FDP an. Grisanti, seinerseits Mitglied der FDP, erhielt allerdings lediglich 86 Stimmen und Parrino wurde mit 152 Stimmen gewählt. In der Wintersession wählte die Bundesversammlung zudem einen Nachfolger für den zurücktretenden Roland Schneider (svp). Die Wahl von Yves Rüedi (svp) – dem nach über 100 Jahren erst dritten Glarner Bundesrichter in der Geschichte – war nicht umstritten [56].
Im Geschäftsbericht des Bundesgerichts wurde darauf hingewiesen, dass die Geschäftslast erneut stark zugenommen habe. 2012 waren 7 871 neue Beschwerden erhoben worden, was gegenüber 2011 einer Zunahme von 6% (453 zusätzliche Fälle) entsprach. Die Erledigungszahlen wurden zwar gesteigert – 2012 konnten 7 667 Fälle erledigt werden, 2011 waren es 7 327 – trotzdem stiegen die Pendenzen leicht an (2012: 2 469 Fälle; 2011: 2 267 Fälle). Mit einer verbesserten Informatik und der Einsetzung einer Arbeitsgruppe, die geeignete Massnahmen vorschlagen soll, will das Bundesgericht den Problemen Herr werden. Die Räte nahmen in der Sommersession vom Geschäftsbericht Kenntnis [57].
In seinem Evaluationsbericht zur neuen Bundesrechtspflege, den er Ende Oktober vorlegte, zog der Bundesrat insgesamt ein positives Fazit. Der auf ein Postulat Pfisterer (fdp, AG) zurückgehende Bericht kam zum Schluss, dass die 2007 in Kraft getretene Reform der Bundesrechtspflege gelungen sei. Die Reform hatte unter anderem zur Schaffung des Bundesverwaltungs- und des Bundesstrafgerichts als erstinstanzliche eidgenössische Gerichte geführt. Als Problem wurde allerdings die zunehmende und teilweise falsche Belastung des Bundesgerichtes mit unbedeutenden Fällen geortet. Als Massnahme schlug der Bundesrat deshalb vor, den Ausnahmekatalog zu überprüfen. Zudem findet sich im Bericht auch ein Vorschlag für eine Art Verfassungsgerichtsbarkeit: in einem Bestätigungsverfahren müsste das Parlament die Verfassungsmässigkeit eines Gesetzes innerhalb einer bestimmten Frist bejahen, falls das Bundesgericht einen Widerspruch feststellen würde [58].
Mit einem Postulat Caroni (fdp, AR) soll geprüft werden, wie das Bundesgericht entlastet werden kann. Das vom Nationalrat in der Wintersession diskussionslos angenommene Begehren schlägt insbesondere vor, Bagatellfälle zu definieren und diese nicht mehr vom Bundesgericht beurteilen zu lassen. Der Bundesrat kündigte an, die Vorschläge im Rahmen einer Revision der Bundesrechtspflege zu prüfen [59].
Anfang September legte der Bundesrat seine Botschaft zur Revision des Bundesgesetzes über das Bundesgericht vor. Die auf eine Motion Janiak (sp, BL) zurückgehende Änderung sieht vor, dass das Bundesgericht in Zukunft bei Beschwerden gegen Entscheide des Bundesstrafgerichtes die Feststellung des Sachverhaltes und die Beweisführung der Vorinstanz prüfen darf. Bisher war das oberste Gericht an den vom Bundesstrafgericht festgestellten Sachverhalt gebunden. In den Räten wurde der Entwurf im Berichtjahr noch nicht debattiert [60].
Die Transparenz von Gerichtsverfahren war im Berichtjahr Gegenstand von Diskussionen. Im Ständerat löste eine Motion Martin Schmid (fdp, GR) eine Debatte aus. Der Vorstoss fordert eine Live-Stream-Direktübertragung von öffentlichen Urteilsberatungen des Bundesgerichtes analog zu den Parlamentsdebatten. Der Motionär machte geltend, dass die bundesgerichtliche Entscheidfindung nur einem kleinen Kreis Interessierter vor Ort zugänglich sei. Dies sei unbefriedigend, da eine vollständige Nachvollziehbarkeit der Urteile mit Hilfe einer nachträglichen Konsultation der kürzeren schriftlichen Veröffentlichung, die zudem Minderheitsmeinungen in der Regel nicht beinhalte, nicht möglich sei. Dies führe zu Kritik und schliesslich zu Misstrauen in die Gerichte. In seiner Stellungnahme amtierte der Bundesrat als Sprachrohr der Bundesrichter, die einer Übertragung von öffentlichen Beratungen überaus skeptisch gegenüberstanden. Das geltende Prozessrecht garantiere bereits Öffentlichkeit und eine Direktübertragung könne die Transparenz kaum steigern. Die kleine Kammer schenkte diesen Bedenken allerdings kein Gehör und überwies die Motion mit 34 zu 6 Stimmen an den Nationalrat, der sie im Berichtjahr noch nicht behandelte. Auch eine Motion Ribaux (fdp, NE), die das Verbot von SMS und Tweets aus Gerichtssälen vorsieht, stand zur Behandlung im Plenum noch an [61].
Mit der Wahl zweier Richter der SVP ans Bundesverwaltungsgericht – Christoph Rohrer und David Weiss – wurde die Untervertretung der Volkspartei laut Präsident der Gerichtskommission auf ein akzeptables Mass reduziert. Die CVP-Kandidatin Karin Huber-Studerus hatte keine Chance, obwohl auch die CVP eine Untervertretung anmahnte. Beide SVP-Richter werden im Bereich des Gesundheits- und Sozialversicherungsrechts tätig sein. Bereits in der Frühjahrssession hatte die Bundesversammlung vier Mitglieder gewählt, damals allerdings ohne Gegenkandidaturen. Die vakante Richterstelle deutscher Sprache besetzt neu Esther Karpathakis (glp) und für die drei Richterstellen französischer Sprache wurden Sylvie Cossy (gp), Pascal Richard (cvp) und William Waeber (sp) gewählt [62].
Eine parlamentarische Initiative der Rechtskommission des Nationalrats, die mit einer Verordnung die Zahl der Richterstellen am Bundesverwaltungsgericht von 65 auf 68 Vollzeitstellen erhöhen wollte, erlitt im Berichtjahr Schiffbruch. Zuerst hatte die ständerätliche Kommission im Vorjahr zwar Zustimmung zur Ausarbeitung eines Entwurfs gegeben und der Nationalrat hatte diesen noch Ende 2012 trotz Einwänden des Gerichtspräsidenten und des Bundesrates gutgeheissen. Die kleine Kammer beschloss allerdings in ihrer Frühjahrssession, nicht auf das Geschäft einzutreten. Der Ständerat folgte mit 27 zu 13 Stimmen seiner Kommissionsminderheit und der Regierung, die darauf hinwies, dass zum jetzigen Zeitpunkt kein Bedarf an zusätzlichen Stellen bestehe, da Pendenzen und Arbeitsbelastung des Gerichtes in letzter Zeit abgenommen hätten. Stellen auf Vorrat sollen keine geschaffen werden. Im Sommer schloss sich die grosse Kammer diesem Argument an und der Vorstoss wurde beerdigt [63].
In der Herbstsession wählte die Vereinigte Bundesversammlung Daniel Kipfer Fasciati und Jean-Luc Bacher zum Präsidenten und Vizepräsidenten des Bundesstrafgerichts. Es handelte sich dabei um Routine-Wahlen; Kipfer Fasciati war bis anhin Vizepräsident und sollte für 2014/2015 die Leitung übernehmen. Im November des Berichtjahres konnte zudem der neue Sitz des Bundestrafgerichtes in Bellinzona bezogen werden [64].
Die im Vorjahr von beiden Rechtskommissionen per parlamentarische Initiative angeregten Verordnungen zur Anzahl Richterstellen und zur Entschädigung der nebenamtlichen Richterinnen und Richter am Bundesstrafgericht wurden im Berichtjahr in den Räten ohne Debatte und einstimmig angenommen. In Zukunft sollen höchsten 16 voll- und 3 nebenamtlich tätige Bundesstrafrichterinnen und -richter tätig sein und die Höhe der Vergütungen denjenigen am Bundesgericht angepasst werden [65].
Unterstützt von Parlamentarierinnen aller Couleur reichte Kiener-Nellen (sp, BE) eine parlamentarische Initiative ein, die eine angemessene Vertretung von Frauen an den eidgenössischen Gerichten fordert. Ende 2013 betrug die Frauenquote am Bundesgericht 28,9%, am Bundesstrafgericht 27,8% und am Bundesverwaltungsgericht 32,4%. Diese Untervertretung soll mit geeigneten Mitteln behoben werden. Der Vorstoss wurde im Berichtjahr noch nicht behandelt [66].
In der Frühjahrssession nahm auch der Ständerat die Motion Vogler (csp, OW) an. Da die grosse Kammer den Vorstoss für ein Anwaltsgesetz bereits im Vorjahr gutgeheissen hatte, wurde der Bundesrat mit Beschluss der kleinen Kammer aufgefordert, das Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA) so zu revidieren, dass es alle, insbesondere auch die beratend tätigen Anwältinnen und Anwälte erfasst und die Zulassung zum Anwaltsberuf sowie die Organisationsmöglichkeiten von Anwaltskanzleien kantonal einheitlich regelt [67].
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Bundesanwaltschaft
In der Sommersession wählte die Vereinigte Bundesversammlung mit Paul-Xavier Cornu einen neuen Stellvertretenden Bundesanwalt für den Rest der Amtsperiode 2012 bis 2015. Die Wahl war aufgrund des Rücktritts von Maria-Antonella Bino nötig geworden, die sich beruflich neu orientieren wollte. Die Gerichtskommission hatte sich für Cornu entschieden und sich damit gegen andere Bewerber gestellt, darunter auch gegen Claude Nicati, den im Berichtjahr abgewählten Neuenburger Staatsrat, der die Stelle schon einmal inne gehabt hatte [68].
In seinem Mitte April der Aufsichtsbehörde vorgelegten Tätigkeitsbericht für das Jahr 2012 versuchte Bundesanwalt Michael Lauber den Eindruck von Normalität zu vermitteln. Strukturen und Abläufe seien dank eines neuen Controllingsystems optimiert und einige langjährige Verfahren abgeschlossen worden. Zudem sei das Jahr von Offenheit, Vertrauen und Professionalität geprägt gewesen. Auch die Aufsichtsbehörde beschrieb in ihrem Bericht einen grundsätzlich positiven Eindruck. Einzig die zu hohe Verfahrensdauer wurde kritisiert. Es gäbe zwar durchaus plausible Gründe für die lange Frist, die durchschnittliche Behandlungsdauer von drei bis vier Jahren müsse aber verringert werden. In der Presse wurde es als zu früh erachtet, die Leistungen von Lauber nach nur einem Jahr Amtszeit zu bewerten. [69].
Beide Räte überwiesen diskussionslos eine auch vom Bundesrat unterstützte Motion Ribaux (fdp, NE), die eine Revision des Artikels 23 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPo) verlangt, damit die Fälschung von Autobahnvignetten nicht mehr von der Bundesanwaltschaft, sondern von den kantonalen Gerichten geahndet werden muss. Tatsächlich sieht Art. 23 StPo vor, dass die Fälschung von Urkunden des Bundes der Bundegerichtsbarkeit unterstehe. Darunter fällt auch die Autobahnvignette, was allerdings bei etwa 900 Fälschungsfällen pro Jahr mit einer sehr starken Belastung der Bundesanwaltschaft einhergeht [70].
Die Justizaffäre ‚Holenweger‘ erhielt im Berichtjahr neue Nahrung. Der Bankier Oskar Holenweger war 2010 von der Bundesanwaltschaft der Geldwäscherei angeklagt, 2012 aber vom Bundesgericht vollumfänglich frei gesprochen worden. Anfang Juni des Berichtjahres wurde bekannt, dass Holenweger vom Bund Entschädigung fordern will. Er stellte beim Eidgenössischen Finanzdepartement ein Begehren um Staatshaftung, weil er faktisch zum Verkauf seiner Privatbank gezwungen worden sei [71].
 
[56] Parrino: AB NR, 2013, S. 1785; NZZ, 25.9.13; Rüedi: AB NR, 2013, S. 2245; NZZ, 24.9., 25.9. und 26.9.13; SOGL, 11.12.13; NZZ und SOGL, 12.12.13; SOGL, 14.12.13.
[57] BRG 13.002: AB SR, 2013, S. 462 ff.; AB NR, 2013, S. 1027 ff.; Pressemitteilung BG vom 11.3.13; NZZ und LT, 12.3.13.
[58] BBl, 2013, S. 9077 ff.; Po. 07.3420 (Pfisterer); Medieninformation BR vom 30.10.13; NZZ, 31.10.13.
[59] Po. 13.3694: AB NR, 2013, S. 2207; So-Bli, 7.7.13; NZZ, 31.10.13; LZ und SGT, 5.11.13; So-Bli, 29.12.13.
[60] BRG 13.075: BBl, 2013, S. 7109 ff.; Mo. 10.3138 (Janiak).
[61] Mo. 13.3660: AB SR, 2013, S. 707 ff.; Mo. 13.3447 (Ribaux); AZ, 21.6.13; NZZ, 24.7. und 9.8.13; Presse vom 12.9.13.
[62] AB NR, 2013, S. 548, 1785 f.; Bericht der Gerichtskommission vom 7.3.13; NZZ, 21.3. und 25.9.13.
[63] Pa.Iv. 12.425 (RK-NR): AB SR, 2013, S. 187 ff.; AB NR, 2013, S. 708; NZZ, 12.3. und 4.6.13; vgl. SPJ 2012, S. 57.
[64] AB NR, 2013, S. 1786; NZZ, 25.10.13; Presse vom 26.10.13.
[65] Pa.Iv. 12.462: AB SR, 2013, S. 582 f.; AB NR, 2013, S. 1834 f.; BBl, 2013, S. 2951 ff.; Medienmitteilungen RK-SR vom 12.2.13 und RK-NR vom 25.10.13; NZZ, 27.11.13; vgl. SPJ 2012, S. 57.
[66] NZZS, 8.12.13.
[67] Mo. 12.3372: AB SR, 2013, S. 196; vgl. SPJ 2012, S. 58.
[68] BBl, 2013, S. 5239 f.; AB NR, 2013, S. 1222; Medienmitteilung BA vom 8.1.13; NZZ, 9.1.13; SoZ, 2.6.13; Blick, 3.6.13.
[69] Medienmitteilung BA vom 12.4.13; SPJ 2012, S. 59; NZZ, 23.2.13; BaZ und NZZ, 13.4.13; TA, 14.8.13.
[70] AB NR, 2013, S. 1182; AB SR, 2013, S. 1022.
[71] NZZS, 2.6.12; NZZ, 3.6.12; vgl. SPJ 2011, S. 52 f.