Année politique Suisse 1979 : Grundlagen der Staatsordnung / Föderativer Aufbau
 
Beziehungen zwischen Bund und Kantonen sowie unter den Kantonen
Die Auseinandersetzung über eine Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Bund und Kantonen stand, wie wir bereits festgestellt haben, im Zentrum der Diskussion über die Totalrevision der Bundesverfassung; der Vorstoss für eine grundlegende Reform auf weite Sicht, den die Expertenkommission unternommen hatte, begegnete jedoch verbreitetem Widerstand [1]. Mehr Erfolg als der Entwurf für eine Neuordnung auf Verfassungsstufe hatten die Bemühungen um eine mittelfristige Lösung, die vor allem auf der Gesetzgebungsebene getroffen werden sollte; diese wurden allerdings noch nicht dem Rampenlicht der Öffentlichkeit ausgesetzt. Eine Studienkommission des EJPD legte im Sommer erste Vorschläge vor, die aus einer Zusammenarbeit mit dem vom Bundesrat 1978 eingesetzten interkantonalen Kontaktgremium hervorgegangen waren [2]. Diese Vorschläge tendierten auf eine gewisse Entflechtung der Aufgaben beider Ebenen, und zwar sowohl in rechtlicher wie in finanzieller Hinsicht, Der Bund sollte sich namentlich im Schulwesen, im Gesundheitswesen, in der Sozialfürsorge, in der Wohnbauförderung und im öffentlichen Regionalverkehr ganz oder teilweise aus der Verantwortung zurückziehen. Bei der AHV würde der Bund die eigentliche Versicherung voll übernehmen, die Ergänzungsleistungen dagegen gänzlich den Kantonen überlassen. Weitgehend fiele dem Bund auch der Unterhalt der Nationalstrassen zu. Für die Kantone erwartet man von der Neuregelung eine Mehrbelastung von rund 2–300 Mio Fr. Um diese für die finanzschwachen Bundesglieder zu erleichtern, regte man eine Verstärkung des Finanzausgleichs (aus den Kantonsanteilen an der Wehrsteuer) an. Das Kontaktgremium stimmte im Herbst den meisten Vorschlägen zu; die Kantonsvertreter zeigten unter dem Eindruck des Volksverdikts gegen die zweite Mehrwertsteuervorlage eine gewisse Bereitschaft zur vermehrten Belastung der kantonalen Ebene. Einwände wurden vor allem gegen eine stärkere Beteiligung der Kantone an den Lasten des Regionalverkehrs erhoben. Der Bericht der Studienkommission gelangte aber 1979 noch nicht ins Vernehmlassungsverfahren. Die definitive Zustimmung der Kantonsregierungen zu seinen Vorschlägen wurde dadurch erschwert, dass der Bundesrat für 1981 ein neues Sparprogramm ankündigte, das seinerseits eine zusätzliche Belastung der kantonalen Finanzen vorsieht [3]. Anderseits meldete sich von sozialdemokratischer Seite Opposition gegen die Abtretung sozialer Aufgaben durch den Bund, da eine solche der Bevölkerung finanzschwacher Gliedstaaten eine Verschlechterung ihrer Lage bringen könnte [4].
top
 
print
Interkantonale Zusammenarbeit
In der interkantonalen Zusammenarbeit ist als Erfolg zu verzeichnen, dass es gelang, eine Vereinbarung über Hochschulbeiträge abzuschliessen. Wenn diese in den einzelnen Kantonen noch die Hürden der parlamentarischen Genehmigung und erforderlicher Volksabstimmungen nimmt, so besteht Aussicht, dass der seit der Verwerfung des eidgenössischen Hochschulförderungsgesetzes im Jahre 1978 drohende Numerus clausus vermieden werden kann. Dornenvoller erscheint der Versuch, durch regionale Polizeikonkordate Ersatz für die vom Volk abgelehnte Busipo zu schaffen; in mehreren Kantonen wurden Referendumsaktionen gegen einen Beitritt eingeleitet [5]. Dass auch der kooperative Föderalismus als zentralistisch empfunden werden kann, zeigten die Reaktionen auf den Beschluss der Erziehungsdirektorenkonferenz, die in Genf eingerichtete Dokumentationsstelle für Schul- und Bildungsfragen und die Aarauer Koordinationsstelle für Bildungsforschung in die Bundeshauptstadt zu verlegen [6]. Eine neue — vierzehnte — Direktorenkonferenz gründeten die Vorsteher der für Energiefragen zuständigen Departemente [7]. Um den Föderalismus neu zu beleben, schlug die Liberale Partei der Schweiz die Bildung einer Konkordatskammer vor, die jeweils zuerst die Möglichkeit einer interkantonalen Vereinbarung zu prüfen hätte, bevor der Bund eine neue Aufgabe übernähme. Jeder Kanton wäre in ihr mit einem für die eidgenössische Zusammenarbeit zuständigen Regierungsmitglied vertreten [8].
top
 
print
Gemeinden
Die in mehreren Kantonen zu verzeichnenden. Bestrebungen, von der Entwicklung überforderte Gemeinden durch verschiedene Formen des Zusammenschlusses zu entlasten, stiessen weiterhin auf Widerstände. Im Tessin hatten vier Gruppen von sich entvölkernden Kleingemeinden zur Frage einer vollen Verschmelzung Stellung zu nehmen, wie sie ein Programm der Regierung von 1976 vorschlug. In den meisten Kommunen lautete der Entscheid negativ, so dass man in Bellinzona von einer Fusion noch absah, ohne allerdings die Zielsetzung aufzugeben [9]. Im Thurgau lösten Empfehlungen einer Regierungskommission, die auf eine Vereinfachung des komplizierten Gemeindegefüges (Munizipal-, Orts-, Schulgemeinden usw.) abzielten, lebhafte Diskussionen aus. In Zürich liess nun auch das Parlament die Expertenvorschläge von 1977 für die Bildung von regionalen Gebietskörperschaften zwischen Kanton und Gemeinde fallen; dafür wurde eine Revision des Gemeindegesetzes in Aussicht genommen. Vor- und Nachteile einer Regionenbildung beschäftigten ausserdem den Schweizerischen Gemeindeverband [10].
 
[1] Vgl. oben. Teil I, 1a (Totalrevision der Bundesverfassung).
[2] Erste Vorschläge zur Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen, Bericht der Studienkommission für die Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen. (Bern) 1979. Zum Kontaktgremium vgl. SPJ, 1978. S. 25 (dort «groupe de travail»). Vgl. auch NZZ, 12, 16.1.79: 18, 23.1.79.
[3] NZZ (sda), 230. 4.10.79; 288, 11.12.79. Zum Sparprogramm vgl. unten. Teil I, 5 (Plan financier).
[4] TW, 230. 2.10.79; Vr, 229, 2.10.79.
[5] Hochschulbeiträge: vgl. unten, Teil I, 8a (Hautes écoles). Polizeikonkordate: vgl. oben. Teil I, 1b (öffentliche Ordnung). Vgl. auch SPJ, 1978, S. 26.
[6] Vgl. unten. Teil I, 8a (Ecoles primaires et secondaires).
[7] NZZ (ddp), 207. 7.9.79; (sda), 291, 14.12.79. Über eine engere Zusammenarbeit der Urkantone (UR. SZ, OW. NW) vgl. TA, 250, 27.10.79.
[8] BaZ, 236. 9.10.79; JdG, 235. 9.10.79; TA, 234. 9.10.79.
[9] CdT, 27, 2.2.79; 112-116. 16.-21.5.79; 147, 30.6.79; Bund, 163. 4.5.79. Vgl. SPJ, 1976. S. 25.
[10] Thurgau: NZZ, 46. 24.2.79; TA, 191. 20.8.79. Zürich: NZZ, 276. 27.11.79: vgl. SPJ, 1978. S. 26. Gemeindeverband: Bund, 209. 7.9.79; 24 Heures, 108. 7.9.79. Zur Problematik der Autonomie kleiner Gemeinden vgl. auch R. Albonico. Nebenamtlich–Nebenbei? Selbstvenraltung in kleinen Gemeinden. Eine Untersuchung über Möglichkeiten und Grenzen des Miliz-Systems auf Gemeinde-Ebene in Graubünden, Fanas 1979.