Année politique Suisse 1980 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
 
Öffentliche Ordnung
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Jugendunruhen
Die öffentliche Ordnung wurde 1980 in mehreren Grossstädten durch neue Jugendunruhen herausgefordert. Ursachen und Motive dieser Erscheinung werden wir in anderem Zusammenhang aufzuzeigen versuchen [22]. Hier sollen nur die Konfrontation mit der bestehenden Rechtsordnung und ihren Vertretern sowie deren unmittelbare Auswirkungen zur Sprache kommen.
Der Ausbruch erfolgte nach den Jahren der Rezession unerwartet und übertraf an Heftigkeit die Manifestationen der 68er Bewegung [23]. Die Reaktion der Gesellschaft und ihrer Organe fiel uneinheitlich aus. Die Behörden zeigten eine gewisse Bereitschaft, auf die Begehren der demonstrierenden Jugendlichen einzugehen; da diese jedoch kein Verständnis für die Bedingungen und Regeln des politisch-administrativen Verfahrens besassen und in ihrem radikalen Demokratismus keine verantwortlichen Vertfeter abordneten, redete man weitgehend aneinander vorbei. So kam es leicht zu neuen gewaltsamen Konfrontationen. Es war freilich jeweils nur eine Minderheit der Demonstranten, die zu illegalen Akten (insbesondere Schaufenstereinwürfe) schritt, doch die Polizei reagierte darauf wiederholt gleich mit der Auflösung der Ansammlungen, was zur Eskalation beitrug. Konfliktverschärfend wirkte auch das Beharren der Behörden auf der Bewilligungspflicht für Demonstrationen; da man die Gesuchsteller für allfällige Schäden haftbar machte, unterblieben solche Gesuche bald einmal [24].
Die Behörden rechtfertigten ihr Bestehen auf Ordnung und Legalität mit dem Hinweis darauf, dass sich in der Bevölkerung Unmut über die Verkehrsbehinderungen, Sprayanschriften und Zerstörungen seitens der Demonstranten verbreitete und in aggressiven Äusserungen, ja im Ruf nach Bürgerwehren entlud. Immerhin ergaben Repräsentativumfragen vom August, dass sowohl in der Stadt Zürich wie in der ganzen Schweiz das Verständnis für die Unruhe in der Jugend weit verbreitet war und nur eine Minderheit auf hartes Durchgreifen setzte [25]. Das gelegentlich brutale Verhalten der Polizei, auch gegenüber Festgenommenen, erntete wiederholt scharfe Kritik; dieser wurde freilich die zeitliche und nervliche Überbeanspruchung der Ordnungskräfte entgegengehalten [26].
So war die Frage, wie man den Unruhen begegnen solle, in der Öffentlichkeit stark umstritten. Auf der einen Seite plädierten namentlich bürgerliche Kreise für Härte und brandmarkten Konzessionen unter dem Druck der Strasse als Schwächezeichen [27]. Demgegenüber kam auf der Linken eine gewisse Sympathie für die jungen Rebellen zum Ausdruck, auch wenn Versuche linker Gruppen, diese für ihre Ziele einzuspannen, auf Ablehnung stiessen [28]. Selbst der sozialdemokratische Bundesrat Ritschard bekundete in einem Massenblatt Verständnis für die Anliegen der unruhigen Jugend und warnte vor der Zweischneidigkeit des Polizeieinsatzes; in der Zürcher Stadtregierung löste dies Unwillen aus [29]. Da und dort wurde versucht, zwischen Behörden und Protestbewegung zu vermitteln oder Kontakte herzustellen, wobei sich neben linken vor allem auch kirchliche Persönlichkeiten exponierten; sie gerieten leicht unter doppelten Beschuss [30]. Interesse und Verständnis fand die neue Erscheinung in den Massenmedien; dass insbesondere das Fernsehen jungen Herausforderern der Gesellschaft seine Publizitiitswirkung lieh, brachte ihm heftige Vorwürfe ein [31].
Am frühesten und härtesten wurde Zürich von den Unruhen betroffen. Nach einigem Zögern stellte die Stadtexekutive schon Ende Juni, kaum einen Monat nach dem ersten Krawall, Raum für ein autonomes Jugendzentrum zur Verfügung; die Sozialdemokratische Partei übernahm die Trägerschaft. Das Einlenken der Behörde wurde jedoch in der bürgerlichen Presse als Schwäche getadelt. Dies mag zu einer Versteifung der behördlichen Haltung beigetragen haben. Bereits Anfang September wurde dem jugendlichen Selbstverwaltungsversuch ein Ende gesetzt, nachdem eine Razzia allerlei Ungesetzlichkeiten zutage gefördert hatte. Die Zurücknahme des Gewährten verschärfte die Konfrontation. Das stärker offensive Vorgehen der Polizei gegen grössere Ansammlungen liess zwar die Zahl der Demonstranten zurückgehen, wurde aber auf seiten der Revolte durch eine Art Guerillataktik mit Überraschungsaktionen beantwortet. Die Sachschäden nahmen erheblich zu [32]. Noch im September drohte der Konflikt in eine politische Grosskonfrontation umzuschlagen, als die Stadt auf das gleiche Wochenende den extremen Linksparteien einen Demonstrationszug und einem rechtsgerichteten Komitee eine «eidgenössische Landsgemeinde für Recht und Ordnung» auf der Landiwiese bewilligte. Die Verschiebung der auch von bürgerlicher Seite als unüberlegt bezeichneten Landsgemeinde und der Verzicht der SP, sich dem Zug der extremen Linken anzuschliessen, entschärften die Situation. Trotz Vermittlungsbemühungen blieb jedoch der Limmatstadt ein neuer Krawall am Heiligen Abend nicht erspart [33].
In den anderen Grossstädten hielten sich die Tumulte in engeren Grenzen. Vor allem Bern erlebte vom Juni bis in den Oktober einen heissen Sommer mit Sachbeschädigungen und Polizeieinsätzen. Die grundsätzliche Zustimmung des Stadtparlaments zur Errichtung eines Begegnungszentrums im September und die trotz allerlei Hindernissen nicht ganz erfolglosen Bemühungen einer Parlamentsdelegation, die Exekutive mit den «Unzufriedenen» ins Gespräch zu bringen, halfen vermeiden, dass gewaltsame Konfrontationen auf die Dauer die Szene beherrschten. In Basel und Lausanne nahm die Spannung noch geringere Ausmasse an, und die Polizei übte auch mehr Zurückhaltung, so dass es bei relativ wenigen Zusammenstössen blieb. Genf hatte überhaupt keine Unruhen zu verzeichnen, was seiner grosszügigeren Jugendpolitik zugeschrieben wurde [34].
Die neuen Zusammenstösse zwischen Polizei und Demonstranten warfen die grundsätzlichen Fragen der Demonstrationsfreiheit und des Widerstandsrechts auf. Zwei junge Berner Juristen vertraten die Ansicht, dass eine Demonstration nur bei grosser Wahrscheinlichkeit eines Umschlagens in gewalttätige Auseinandersetzungen, vorab mit Gegendemonstranten, verboten oder aufgelöst werden sollte [35]. Und am Schweizerischen Juristentag wandte sich der waadtländische Kantonsrichter P. Abravanel gegen eine ausnahmslose Durchsetzung der öffentlichen Ordnung; wichtiger als diese sei der innere Friede, der vor allem auf der Gerechtigkeit beruhe. Einen solchen Ermessensspielraum in der Rechtsanwendung lehnte jedoch Bundesrat Furgler als doppelte Legalität entschieden ab [36]. In ähnlichem Sinne verwarf Nationalrat R. Friedrich (fdp, ZH) ein Widerstandsrecht im demokratischen Staat und mass dem Hinweis eines Kritikers auf die unterschiedlichen Machtverhältnisse keine Bedeutung zu [37].
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Polizei
Während die Jugendunruhen die kommunalen und kantonalen Polizeikräfte in den Grossstädten in Atem hielten, wurden die Bemühungen um eine Verstärkung der interkantonalen polizeilichen Zusammenarbeit fortgesetzt. Das von den zentralschweizerischen Kantonen vorbereitete Konkordat, dem bereits im Vorjahr vier Stände beigetreten waren, wurde im März mit der Genehmigung durch den Bundesrat . rechtskräftig. Im Juni entschieden die Stimmbürger auch in Luzern für eine Beteiligung [38]. Das Projekt eines elektronischen kriminalpolizeilichen Informationssystems (MS) blieb weiter umstritten. In verschiedenen Kantonen waren Bestrebungen wirksam, den Entscheid über die Mitarbeit in die Kompetenz des Parlaments oder des Volkes zu stellen. So hob der Landrat von Baselland seine im Vorjahr gegebene Zustimmung zum Beitritt wieder auf und machte für einen solchen die Genehmigung durch die Stimmbürger sowie den Erlass eines kantonalen Datengesetzes zur Bedingung [39]. Der Bundesrat erklärte dagegen die Einführung des KIS als eine Verwaltungsangelegenheit und anerkannte nur für die Finanzierung eine Zuständigkeit des Parlaments. Die Inbetriebnahme sah er für die Mitte der 80er Jahre vor; für den erforderlichen Datenschutz stellte der Chef des EJPD bereits auf 1982 Gesetzesvorlagen in Aussicht [40].
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Internationaler Terrorismus
Der internationale Terrorismus trat für die Schweiz 1980 mit veränderten Aspekten in Erscheinung. Wiederholt kam es zu Anschlägen der bis dahin wenig beachteten armenischen Untergrundorganisationen [41]. Die Erschiessung eines Zoll- und eines Polizeibeamten an der aargauischen Rheingrenze wurde mit dem Bestreben, deutsche Rechtsextremisten mit schweizerischen Waffen zu versorgen, in Zusammenhang gebracht [42]. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte auch der Prozess gegen einen Deutschen, der in der Bundesrepublik der linken Terrorszene zugerechnet wird und sich 1979 in Zürich an einem Banküberfall beteiligt hatte. Im Gegensatz zu einem ähnlichen Verfahren zwei Jahre zuvor waren diesmal keine Zwischenfälle zu verzeichnen, obwohl das kantonale Gericht dem Angeklagten einen Mord zur Last legte und ihn zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilte [43]. Um die Terroristen möglichst bald daran zu hindern, sich weiterhin in unserem Lande Waffen zu beschaffen, schlug der Tessiner Nationalrat Pini (fdp) vor, die angekündigte Vereinheitlichung der schweizerischen Waffenhandelsgesetzgebung durch einen dringlichen Bundesbeschluss zu beschleunigen. Gegen eine strenge Kontrolle des Waffenbesitzes wandte sich jedoch eine breite Opposition von Sammlern und Schützen, die nicht zuletzt Erfordernisse der Landesverteidigung ins Feld führte; der Bundesrat sah sich dadurch zu einem behutsamen Vorgehen veranlasst [44].
 
[22] Vgl. vor allem unten, Teil I, 7d (Jeunesse), ferner Teil I, 8b (Kulturpolitik).
[23] Vgl. SPJ, 1968, S. 15 ff . ; 1969, S. 17 f . ; 1970, S. 17; 1971, S. 16 ff. ; ferner Ww, 23, 4.6.80.
[24] Keine verantwortlichen Vertreter: NZZ, 129, 6.6.80; TW, 285, 4.12.80; Bund, 291, 11.12.80. Illegale Akte : Eidg. Kommission für Jugendfragen, Thesen zu den Jugendunruhen 1980. Bern 1980, S. 6 ff. Polizei : NZZ, 133, 11.6.80; Bund, 144, 23.6.80; BaZ, 146, 25.6.80; 150, 30.6.80; 24 Heures, 244, 20.10.80. Bewilligungspflicht: TW, 152, 2.7.80; NZZ, 162, 15.7.80; BaZ, 245, 18.10.80.
[25] Bevölkerung : BaZ, 134, 1 1.6.80 ; Ww, 27, 2.7.80 ; 40, 1.10.80 ; Bund, 164, 16.7.80 ; vgl. auch Thesen zu den Jugendunruhen 1980, S. 15 f. Bürgerwehren: NZZ, 211, 11.9.80; BaZ, 219, 18.9.80; TA, 240, 15.10.80; 297. 20.12.80; Blick, 300, 23.12.80. Umfragen: TA, 203, 2.9.80; 216, 17.9.80. Eine frühere Befragung im Kanton Zürich ergab eine härtere Haltung (Ww, 30, 23.7.80).
[26] BaZ, 168, 21.7.80 (Medienjournalisten); TW, 198, 25.8.80 (Schweizer Jungsozialisten); LNN, 225. 27.9.80 (Erlebnisbericht eines Schriftstellers); Ww, 41. 8.10.80 (Zürcher Polizeioffizier); Blick. 242, 16.10.80 (Polizisten); ferner BaZ, 196, 22.8.80; NZZ, 225, 27.9.80; TLM, 296, 22.10.80.
[27] NZZ, 145, 25.6.80 (FDP im Kantonsrat von ZH); 213, 13.9.80 (Inserat der Aktion Freiheit und Verantwortung); 265, 13.11.80 (SVP Zürich); 24 Heures, 236, 10.10.80 (Inserat der Libertas Lausanne); ferner SGT, 142, 20.6.80; NZZ, 148, 28.6.80.
[28] Sympathie: Vr, 106, 3.6.80 u. 120, 23.6.80 (SP Zürich); SP-Information, 79, 26.6.80 (SPS); Vorwärts, 26, 26.6.80 (PdAS); Bresche ab 161, 23.6.80; PZ, 25, 26.6.80. Ablehnung: Bund, 130, 6.6.80; TA, 136, 14.6.80 ; 234, 8.10.80.
[29] Ritschard: Blick, 244, 18.10.80. Reaktion Stadtpräsident Widmers: BaZ, 262, 7.11.80.
[30] TA, 142, 21.6.80; 143, 23.6.80. 301, 27.12.80; Bund, 148, 27.6.80; 292, 12.12.80; NZZ, 213. 13.9.80.
[31] Vgl. unten, Teil I, 8c (Radio und Fernsehen).
[32] BaZ, 245, 18.10.80; vgl. dazu NZZ, 148, 28.6.80; 206, 5.9.80; 207, 6.9.80; TA, 266, 14.11.80.
[33] Konfrontation: BaZ, 218, 17.9.80; TA, 213. 13.9.80; 216, 17.9.80; Vr, 183, 18.9.80; NZZ, 218, 19.9.80; 219, 20.9.80; Lib., 43, 20.11.80. Heiliger Abend: Presse vom 27.12.80.
[34] BaZ, 245, 18.10.80. Vgl. ferner zu Bern : Bund, 214, 12.9.80; 292, 12.12.80 ; 297, 18.12.80; zu Basel : LNN, 269, 19.11.80; zu Lausanne und Genf: LNN, 199, 28.8.80; NZZ, 199, 28.8.80; 250, 27.10.80; BaZ, 230, 1.10.80.
[35] T. Cottier u. C. Wyss in Bund, 260, 5.11.80.
[36] P. Abravanel, «La protection de l'ordre public dans l'Etat régi par le droit », in Zeitschrift für schweiz. Recht. NF, 99/1980, II, S. 1 ff., insbes. S. 58; NZZ, 214, 15.9.80.
[37] NZZ, 213, 13.9.80; 257, 4.11.80.
[38] Inkrafttreten : AS, 1980, S. 420 ff. Als erste Kantone waren SZ, OW, ZG und NW beigetreten. Luzern : Vat.. 131, 9.6.80. In Uri blieb die Frage wegen eines Referendums noch offen (LNN, 124, 30.5.80; 242, 17.10.80). Vgl. SPJ, 1979, S. 19 f.
[39] Baselland: BaZ, 15, 18.1.80. Weitere Bestrebungen in Genf (JdG, 87, 15.4.80 ; Suisse, 176, 24.6.80) und Waadt (JdG, 118, 22.5.80). Während der Zürcher Polizeidirektor die Frage der Zuständigkeit offenliess (Vr, 49. 11.3.80), anerkannte der Waadtländer Grosse Rat die Kompetenz der Regierung (24 Heures, 275, 26.11.80). Vgl. SPJ, 1979. S. 20 f.
[40] Antwort auf Interpellation Reichling (svp, ZH): Amtl. Bull. NR, 1980, S. 800 ff. Vgl. auch Amtl. Bull. StR, 1980, S. 366 fr. ; Ww, 25, 18.6.80. Die Geschäftsprüfungskommission des NR hatte der Datenschutzgesetzgebung Priorität vor der Einführung des KIS gegeben (Amtl. Bull. NR, 1980, S. 619). Zum Datenschutz vgl. auch oben. Grundrechte.
[41] Presse vom 7.2.80 (Anschlag auf den türkischen Botschafter in Bern) sowie vom 5.I 1.80 (Explosion im Genfer Justizpalast). Vgl. ferner NZZ (ddp). 232, 6.10.80; 304, 31.12.80; TLM, 282, 8.10.80; 24 Heures, 260. 7.11.80; Presse vom 12.11.80 sowie SPJ, 1976, S. 17, Anm. 23.
[42] Presse vom 27.12.80; NZZ (sda), 302, 29.12.80; (sda), 12. 16.1.81.
[43] TA, 205. 4.9.80; NZZ, 209, 9.9.80; 222. 24.9.80; 223, 25.9.80; 225. 27.9.80; Ww, 38, 17.9.80. Der verurteilte Clemens Wagner focht das Urteil an (BaZ, 232, 3.10.80). Die Bundesrepublik stellte ein Auslieferungsbegehren (TA, 231. 4.10.80). Vgl. dazu SPJ, 1978, S. 17; 1979, S. 21.
[44] Pinis Motion wurde ohne das Begehren nach einem Dringlichkeitsbeschluss als Postulat überwiesen (Amtl. Bull. NR, 1980, S. 1385 fr.). Zur Opposition vgl. SGT, 55, 6.3.80; 24 Heures, 78, 2.4.80; BaZ, 191. 16.8.80. Vgl. ausserdem NZZ, 57, 8.3.80; BaZ, 306, 31.12.80; SPJ, 1979, S. 21.