Année politique Suisse 1983 : Allgemeine Chronik / Landesverteidigung
 
Landesverteidigung und Gesellschaft
In ganz Europa wurden 1983 die Bemühungen um die Friedenserhaltung stärker als bisher von Massenbewegungen herausgefordert. Diese setzten der Auffassung, dass Kriege in erster Linie durch die abschreckende Wirkung militärischer Präsenz verhindert werden könnten, die Alternative entgegen, dass es vor allem um die Schaffung eines allgemein verbreiteten, glaubwürdigen Friedenswillens gehe [1]. In der Schweiz erreichte das wachsende Unbehagen über die weltweite Aufrüstung und deren Eigendynamik mit der Friedensdemonstration vom 5. November auf dem Berner Bundesplatz ihren Höhepunkt. Mit einer geschätzten Teilnehmerzahl von über 50 000 war sie die grösste inländische politische Manifestation der Gegenwart. Um die angestrebte friedliche und völkerverbindende Dimension zu symbolisieren, organisierten die 85 veranstaltenden Gruppen eine von der amerikanischen bis zur sowjetischen Botschaft reichende, mehr als 12 km lange Menschenkette [2].
Die Grosskundgebung stand im Zusammenhang mit der von der deutschen Bundesrepublik (BRD) ausgegangenen, gegen die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen gerichteten Friedensbewegung. Für die schweizerische Aussenpolitik forcierten die Veranstalter der Manifestation Unabhängigkeit von den militärischen Blöcken ; daneben konzentrierten sie sich jedoch auf innenpolitische Anliegen. So verlangten sie die ideelle Entmilitarisierung der Gesellschaft und die Verlagerung von Aufwendungen für die Rüstung in den Sozialbereich. Erste wohlwollende Deutungen dieser ausserinstitutionellen Kraft suchten die Ursachen im bedrohten Weltfrieden. Sie verwiesen auf die stark emotionale Basis der Bewegung, welche von der Furcht vor einer atomaren Weltzerstörung getragen werde, und stellten die organisatorische Heterogenität in den Vordergrund.
Gemässigte Kritiker betonten demgegenüber die spezielle Rolle der Armee in einem neutralen Kleinstaat. Die Ursachen der Friedensbewegung fänden sich im Zerfall gemeinsamer westlicher Ziele und bürgerlicher Werte. Dadurch erzeugte Ängste bei einem Teil der Bevölkerung würden zu Unrecht auf die von den Pazifisten bevorzugten Objekte projiziert. Radikale Gegner favorisierten ihrerseits eine «Verschwörertheorie»: Aus dieser Sicht agitiert die Friedensbewegung als Instrument der von der Sowjetunion gelenkten politischen Kriegsführung. Repräsentative Meinungsumfragen ergaben ein verbreitetes Verständnis für die geäusserten Bedenken der neuen Bewegung; in der Bevölkerung geht die hohe Sympathie zur Friedensbewegung jedoch mit einer allgemeinen Befürwortung der Armee einher [3].
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Einbezug der Frauen in die Gesamtverteidigung
Die angestammte Linie sicherheitspolitischen Denkens zeigte sich in den Vorstössen für den Einbezug der Frauen in die Gesamtverteidigung. Anfangs Jahr unterbreitete eine Studienkommission, welche unter der Leitung der Soziologin R. Meyer den 1979 abgeschlossenen Bericht Weitzel für die Vernehmlassung weiterbearbeitet hatte, die neuen Ergebnisse der Öffentlichkeit. Der Bericht stellt insgesamt acht Varianten zur Auswahl, die von freiwilligen Frauendiensten in ihrer bisherigen Form bis zu einer allgemeinen weiblichen Dienstpflicht mit wiederholten Leistungen im Rahmen der Gesamtverteidigung reichen. Weiter unterscheiden sie sich in der Art, wie Informationen über Anliegen der Sicherheitspolitik verbreitet werden sollen, in der Form der praktischen Ausbildung und in der Frage eines allfälligen Einsatzes im Aktivdienst [4].
Im sehr breit gestreuten Vernehmlassungsverfahren, das bis Ende 1983 befristet war, fand der Bericht eine ausgesprochen rege Aufmerksamkeit. 2200 Exemplare wurden bestellt und landesweit eine grosse Zahl von Veranstaltungen abgehalten. Die Stellungnahmen in der Presse zeigten, dass zwischen den politischen Lagern beträchtliche Unterschiede bestehen. Nur die FDP strebt langfristig ein allgemeines Ausbildungsobligatorium mit wiederkehrenden Diensten an. Mit dem Vorwurf, Vorschläge ausserhalb der Gesamtverteidigung seien gar nicht erwogen worden, lehnten es die Sozialdemokraten grundsätzlich ab, auf die Vorschläge der Kommission einzugehen. Von den Interessengruppen der Frauen sprach sich die Eidgenössische Kommission für Frauenfragen gegen ein Dienstobligatorium, jedoch für eine allgemeine Grundausbildung in Katastrophenhilfe aus. Der eher traditionell orientierte Bund schweizerischer Frauenorganisationen stimmte darüber hinaus auch obligatorischen Wiederholungskursen zu. Vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) wurde eine verstärkte Mitwirkung der Frauen in der Gesamtverteidigung begrüsst. Betont wurde jedoch, dies habe auf freiwilliger Basis und in den bestehenden Organisationen zu geschehen. Kirchliche Vereinigungen gingen zum Friedensbegriff der Kommission auf Distanz, weil er allein auf der Abwesenheit von Krieg beruhe.. Endlich widersetzten sich feministische Gruppen jeglichen Versuchen, Frauen in die Gesamtverteidigung einzubeziehen, mit Vehemenz [5].
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Neues Armeeleitbild
Als Rahmen für die materielle Weiterentwicklung der Landesverteidigung hatte der Chef des EMD mit Spitzenvertretern der Armee gegen Ende 1982 ein neues Armeeleitbild der Offentlichkeit vorgestellt [6]. In der Folge war dieses einer überraschend intensiven Grundsatzdiskussion ausgesetzt. Ausgelöst wurde sie von der SP-Fraktion der Bundesversammlung, in deren Namen Ständerat E. Belser (BL) eine Motion lancierte und damit eine parlamentarische Diskussion über das Leitbild bewirkte. Längerfristig gesehen lässt sich der Vorstoss in die sozialdemokratische Kritik an einer «Grossmachtarmee im Taschenformat» einordnen. Unmittelbar ging das Anliegen von der Befürchtung aus, bestimmte hochtechnisierte und deshalb sehr teure Waffensysteme nähmen stets an Gewicht zu und würden die ausreichende Bewaffnung und den genügenden Schutz der Infanterie erschweren. Vom Bundesrat, der den Vorstoss als Postulat entgegennahm, wünschten die SP-Parlamentarier eine Überprüfung der Frage, ob die Armee nicht eine bessere Wirkung verspreche, wenn sie sich auf den Kampf der zahlenmässig bedeutsamen Infanterie und auf die Stärken des Geländes konzentriere [7].
Den Hintergrund zentraler Argumente des SP-Vorstosses bildete eine von Divisionär A. Stutz, Leiter der militärwissenschaftlichen Abteilung der ETH Zürich, propagierte Alternative. Zwischen 1981 und 1983 hatte er sie mit Genehmigung seiner Vorgesetzten mehrmals auch parlamentarischen Fachgremien vorgetragen. Sie orientiert sich an raumdeckenden Konzepten, welche im Ausland entwickelt worden sind, und fordert den Primat des Infanterieheeres, weil es den Kampfraum frei wählen und damit aufgeeignetes Gelände beschränken könne. Beim Erzwingen von militärischen Entscheidungen hätten die anderen Zweige der Streitkräfte nur eine unterstützende Funktion auszuüben. Aus den Vorschlägen von Divisionär Stutz ergäben sich finanziell keine Veränderungen; hingegen betont der Autor, durch die Verlagerung der Mittelkonzentration könnte ein verbessertes Kosten/Nutzen-Verhältnis erreicht werden. In zeitlicher Perspektive betrachtet, knüpfte Divisionär Stutz an Überlegungen an, welche eine wesentliche Komponente der Konzeption der schweizerischen Landesverteidigung von 1966 bildeten [8]. Der Generalstabschef der Armee, Korpskommandant J. Zumstein, betonte jedoch, der technologische Ausbau, wie er in den Leitbildern 80 und 90 vorgesehen ist, sei unerlässlich. Einem potentiellen Feind sei es heute durch den Einsatz geeigneter, elektronischer Mittel möglich, alles zu orten und zu vernichten. Deshalb sei die Rolle der Infanterie einer Prüfung unterzogen, konzeptionell der Verbund aller Waffen ins Zentrum gerückt sowie die Beweglichkeit und die militärische Aggressivität neu betont worden [9].
 
[1] Geschichte der schweizerischen Sicherheitspolitik: H. Senn, Friede in Unabhängigkeit. Von der Totalen Landesverteidigung zur Sicherheitspolitik, Frauenfeld 1983; vgl. auch NZZ, 31.12.83. Ausblicke: G. Däniker, « Sicherheitspolitik 2000», in 150 Jahre Schweizerische Offiziersgesellschaft, Sondernummer ASMZ, 1983; C. Gasteyger (Hg.), La sécurité de la Suisse. Les défis de l'avenir, Genève 1983. Vgl. auch: J. Gattung, Es gibt Alternativen! Vier Wege zu Frieden und Sicherheit, Opladen 1984. Zu den aussenpolitischen Bemühungen vgl. oben, Teil I, 2.
[2] Presse vom 7.12.83; Friedenszeitung, Sondernummer, Nov. 1983. Weitere Manifestation: Internationaler Friedensmarsch nach Basel (BaZ, 5.4.83; 24 Heures, 15.4.83). Vgl. auch SPJ, 1982, S. 43.
[3] Wohlwollend: P. Haffner, «Die Vielfalt der Friedensbewegungen und die Kirche», in Civitas, 39/1983, S. 73 ff. Kritisch: ASMZ, 149/1983, S. 39 ff.; «Sicherheitspolitik und Friedensbewegung», in SAMS-Informationen, 7/1983, Nr. 1. Zur Haltung der Kirchen vgl. auch H. B. Peter / R. Campiche (Hg.), Frieden schaffen, Frieden schützen, Bern 1983; U. Altermatt u.a., Formen schweizerischer Friedenspolitik, Bern 1982; ferner TA, 23.11.83 (H. Ruh / J. Zumstein). Darstellung der atomaren Gefahren: D. Frei, Der ungewollte Atomkrieg. Eine Risiko-Analyse, München 1983. Meinungsforschung: exemplarisch TA, 13.12.83.
[4] Zentralstelle für Gesamtverteidigung, Einführung in die Gesamtverteidigung, Bern 1984. «Meyer-Bericht»: Zentralstelle für Gesamtverteidigung, Bericht zur Vernehmlassung betreffend die Mitwirkung der Frau in der Gesamtverteidigung, Bern 1982; Presse vom 22.1.83; Ww, 3, 26.1.83; R. Meyer, «Die Mitwirkung der Frauen in der Gesamtverteidigung», in 150 Jahre Schweizerische Offiziersgesellschaft 1833-1983, Sondernummer ASMZ, 1983. Vgl. auch SPJ, 1980, S. 52; 1982, S. 47.
[5] Presse vom 31.12.83; BZ, 4.1.84; 17.1.84. Die Auswertung der Vemehmlassung ist noch im Gange (Presse vom 31.12.83).
[6] Vgl. SPJ, 1982, S. 43f.
[7] StR-Kommission: NZZ, 12.1.83; 5.2.83. NR-Kommission: NZZ, 28.1.83; TA, 29.3.83. StR-Debatte: Amtl. Bull. StR, 1983, S. 147 ff. Vgl. dazu TA, 9.2.83; Ww, 5, 9.2.83; 5.3.83; 17.3.83; NZZ, 25.2.83; 26.2.83; TW, 23.4.83.
[8] A. Stutz, Raumverteidigung. Utopie oder Alternative, Zürich 1982; vgl. auch TA, 6.10.83. Konzeption von 1966: SPJ, 1966, S. 34 f. Vgl. auch A. Ernst, Die Konzeption der Schweizerischen Landesverteidigung von 1815 bis 1966, Frauenfeld 1971.
[9] Ww, 4, 2.2.83; NZZ, 25.2.83; 26.2.83; TA, 5.3.83. Vgl. auch G. Hochauer, «Die Raumverteidigung auf dem Prüfstand», in ASMZ, 149/1983, S. 256 ff.; L. Carrel, «Sowjetische Blitzkriegtheorie », in ASMZ, 149/1983, S. 545 ff.; H. Senn, «Sind Struktur und Einsatzkonzeption unserer Armee überholt?», in ASMZ, 150/1984, S. 7 ff. u. S. 67 ff.