Année politique Suisse 1986 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Regierung
Die ohnehin nur lockere Zusammenarbeit der vier in der Landesregierung vertretenen Parteien war im dritten Jahr der laufenden Legislaturperiode keinen ernsthaften Krisen ausgesetzt. Immerhin waren sich die Parteiverantwortlichen einig, dass diese Kontakte (die sogenannten von Wattenwyl-Gespräche) grundsätzlich in bezug auf Form und Inhalte überdacht werden müssen
[2]. Auffallend war im Berichtsjahr die Tendenz bei einigen Medien und Politikern, die federführenden Departementschefs für kollegial getroffene Beschlüsse verantwortlich zu machen. So sah sich BR Stich im Anschluss an finanzpolitische Bundesratsentscheide (Zollerhöhungen auf Erdöl und -gas sowie WUST-Unterstellung des Treibstoffzollzuschlags) heftigen Attacken der NZZ und des «Blick» ausgesetzt. Der zweite sozialdemokratische Bundesrat, Aubert, wurde nach der Niederlage von Bundesrat und Parlament in der Volksabstimmung über den UNO-Beitritt von namhaften bürgerlichen Politikern (NR Oehler (cvp) und StR Bürgi (fdp), beide SG) zur Demission aufgefordert
[3].
Auf Ende 1986 sind die
beiden Vertreter der CVP aus dem Bundesrat zurückgetreten. Am 3. September gab Alphons Egli bekannt, dass er sich nicht zuletzt aus gesundheitlichen Gründen nach nur vier Jahren Amtszeit zurückziehen werde. Wenig später (am 22. September) folgte ihm Kurt Furgler; bei ihm hatte die Amtszeit 15 Jahre betragen. Bundesrat Furgler wurde in Würdigungen als Politiker von grossem Format gefeiert, der es — bei aller Liebe zur Präzision im Detail — verstanden habe, in grossen Linien zu denken. In zeitgeschichtlicher Perspektive wurde jedoch auch angemerkt, dass die Epoche der grossangelegten Entwürfe und Gesamtkonzeptionen, welche für das Denken Kurt Furglers wegweisend war, der Vergangenheit angehöre. Der vor seiner Wahl als konservativ eingeschätzte Alphons Egli fand grosse Anerkennung für seinen konsequenten Einsatz für den Umweltschutz. Gerade seine ehemaligen politischen Gegner rechneten es ihm hoch an, dass er die drohenden Gefahren nicht nur erkannt hatte, sondern auch bereit war, sich trotz Anfeindungen für die als notwendig erachteten Massnahmen einzusetzen
[4].
Zu ihren Nachfolgern
wählte die Bundesversammlung am 10. Dezember jeweils im ersten Wahlgang mit sehr hohen Stimmenzahlen die beiden offiziellen Kandidaten der CVP, den 53jährigen Nationalrat
Arnold Koller (AI) und den 47jährigen Nationalrat
Flavio Cotti (TI). Damit ist der italienischsprachige Landesteil erstmals seit dem Rücktritt von Nello Celio vor 13 Jahren wieder in der Landesregierung vertreten. Die weder von ihrer Kantonalpartei noch von der Fraktion unterstützte Kandidatur der Nationalrätin Judith Stamm (cvp, LU), welche erklärtermassen zum Ziel hatte, eine Korrektur an der Untervertretung der Frauen in der Exekutive anzubringen, brachte es auf 49 (gegen Koller) resp. 33 (gegen Cotti) Stimmen. Für Stamm hatten sich im Parlament lediglich die Fraktionen EVP/LdU und PdA/PSA/POCH sowie die Grünen eingesetzt; die SP-Fraktion hingegen beschloss Stimmfreigabe
[5]. Dieses konfliktscheue Verhalten der SP mag dazu beigetragen haben, dass der gerade im Berichtsjahr heftig kritisierte P. Aubert anschliessend von der Bundesversammlung mit einem Glanzresultat (186 Stimmen) zum Bundespräsidenten für 1987 gewählt wurde. Bei der Departementsverteilung ergab sich eine kleine Rochade. Mit Jean-Pascal Delamuraz übernahm nach nur vierjährigem christlichdemokratischem Interregnum wieder ein Freisinniger die Leitung des Volkswirtschaftsdepartements
[6].
Die im sogenannten Garantiegesetz festgehaltene Bestimmung, dass für die
Kantonszugehörigkeit der Mitglieder des Bundesrates die Heimatberechtigung als Kriterium gilt, hatte bei den Ersatzwahlen für einmal keine Rolle gespielt. Trotzdem stimmten beide Räte einer Anpassung dieser Norm in dem Sinne zu, dass neu primär der Ort der bisherigen politischen Tätigkeit ausschlaggebend ist. Aus föderalistischen Gründen soll jedoch weiterhin kein Stand mit mehr als einer Person in der Landesregierung vertreten sein. Eine parlamentarische Initiative Bircher (sp, AG), welche den Verzicht auf diese Verfassungsbestimmung gefordert hatte, fand im Nationalrat keine Mehrheit
[7].
Der zum Teil gesundheitlich bedingte Rücktritt von BR Egli hatte erneut auf das Problem der Überbelastung der Exekutivmitglieder hingewiesen. Mit der Überweisung einer Motion der FDP-Fraktion forderte der Nationalrat die Regierung auf, vermehrt nach
Entlastungsmöglichkeiten zu suchen. Die
vom Bundesrat nach wie vor abgelehnte Schaffung von zusätzlichen Staatssekretärposten ist zwar nicht im Motionstext selbst, hingegen in der dazu gelieferten schriftlichen Begründung als in Erwägung zu ziehendes Mittel erwähnt. Die Regierung befürchtet davon eine Aufsplitterung der politischen Führungsverantwortung. Genausowenig hält sie im Moment eine Erhöhung der Zahl der Bundesräte von sieben auf neun, wie dies Nationalrat Rebeaud (gp, GE) mit einer parlamentarischen Initiative fordert, für opportun. Sie glaubt vielmehr mit organisatorischen Massnahmen und dabei insbesondere mit der Aufwertung der Generalsekretariate der Departemente Wesentliches zur eigenen Entlastung beitragen zu können
[8]. Erstmals in der Parlamentsgeschichte machte E. Kopp anlässlich der Beratungen des Bundesgesetzes über das Internationale Privatrecht von der Möglichkeit Gebrauch, sich von einem Experten (Prof. Frank Vischer), der in der Debatte auch das Wort ergriff, assistieren zu lassen
[9].
Die unter dem Titel Finanzaffäre bekanntgewordenen Aufklärungen und Auseinandersetzungen um das
Finanzgebaren der Regierung des Kantons Bern zeitigten weitere Konsequenzen. Die fünf sich zu einer Wiederwahl stellenden Exekutivmitglieder wurden zwar alle in ihrem Amt bestätigt. Die bisherigen Regierungsparteien SVP und SP — die Freisinnigen sind in der neuen Exekutive nicht mehr vertreten — müssen sich jedoch mit der gemässigt grünen Freien Liste in die Regierungsverantwortung teilen. Der neu konstituierte Grosse Rat nahm in seiner ersten Session von einem Bericht der Besonderen Untersuchungskommission (BUK) über die Verwendung der den Regierungsräten zur Verfügung stehenden sogenannten Direktionskassen Kenntnis und beauftragte daraufhin einstimmig seine Präsidentenkonferenz mit der Einreichung einer Strafklage gegen die neun während der vergangenen Legislaturperiode amtierenden Regierungsräte und den ehemaligen Staatsschreiber Josi. Zudem hob das Parlament die Immunität der erwähnten Beschuldigten und — auf Ersuchen der Justizbehörden — ebenfalls von drei weiteren ehemaligen Regierungsräten auf. Kurz vor Jahresende wurde ausserdem bekannt, dass in den 70er Jahren die bernischen Regierungsparteien SVP, SP und FDP beträchtliche anonyme Spenden von Firmen erhalten hatten, die sich mehrheitlich in Staatsbesitz befinden (Kantonalbank, Hypothekarkasse und Bernische Kraftwerke). Federführend beteiligt an diesen Transaktionen war gemäss eigenen Aussagen der ehemalige SVP-Regierungsrat Martignoni
[10].
In
Solothurn konnte mit der Bestätigung des obergerichtlichen Urteils gegen vier Regierungsräte durch das Bundesgericht ein Schlussstrich gezogen werden. Auch in
Obwalden gerieten Regierungsmitglieder ins Schussfeld der Kritik. Den kantonalen Veranlagungsbehörden wurde von der eidgenössischen Finanzdirektion der Abschluss von unzulässigen Mindeststeuerabkommen mit ausländischen Steuerflüchtlingen vorgeworfen. Gegen den als mitverantwortlich bezeichneten Finanzdirektor Hophan (cvp), der seinen Rücktritt auf Ende der Amtsperiode erklärte, reichte ein regierungsrätlicher Disziplinarausschuss Strafanzeige ein. Bundesrat Stich rügte allerdings auch mögliche Interessenkollisionen bei Mitgliedern des Disziplinarausschusses. Gemeint war damit insbesondere Justizdirektor Hess, der neben seinem Regierungsamt in der Funktion als Anwalt auch steuerbegünstigte Personen vertritt
[11].
[2] NZZ, 20.5.86. Vgl. auch SPJ, 1984, S. 22. Zur Beteiligung des Parlaments an der politischen Planung siehe unten (Parlament). Vgl. auch U. Klöti, Regierungsprogramm und Entscheidungsprozess, Bern 1986.
[3] BR Stich: Blick, 5.3.86; 6.3.86; 10.3.86; 12.3.86; SP-Information, 201, 17.3.86 (O. Sigg); 202, 1.4.86 (P. Uebersax); NZZ, 8.3.86; Ww, 22, 29.5.86; TA, 7.3.86; siehe auch unten, Teil I, 5 (Einnahmen). Aubert: SGT, 18.3.86; siehe auch unten, Teil I, 2 (Organisation des Nations Unies).
[4] BR Egli : Presse vom 4.9.86 ; Amtl. Bull. NR, 1986, S. 2108 f. BR Furgler: Presse vom 23.9.86 ; Amtl. Bull. NR, 1986, S. 2105 ff. Vgl. auch TW, 4.9.86 ; J. Ribeaud, Kurt Furgler à coeur ouvert, Lausanne 1986. Im NR verlangt A. Müller (Idu, AG) mit einer Motion, dass Bundesräten erst nach sechsjähriger Amtszeit das volle Ruhegeld ausbezahlt wird ( Verhandl. B. vers., 1986, V, S. 82).
[5] Wahl : Amtl. Bull. NR, 1986, S. 2109 ff. ; Presse vom 11.12.86. Die Fraktionen der FDP, der SVP und der Liberalen unterstützten die offiziellen CVP-Kandidaten (BaZ, 3.12.86). Zur Kandidatur J. Stamm siehe auch LNN, 10.11.86 ; 11.11.86 (CVP/LU); Vat., 14.11.86 (Unterstützung durch den Vorstand der Frauenorganisation der CVP) ; 22.11.86 (CVP-Fraktion). Von ihren Kantonalsektionen portiert worden waren ferner StR Dobler (SZ) und NR Feigenwinter (BL) (LNN, 5.11.86; BaZ, 29.10.86). Zu den Auswahlkriterien der Parlamentarier vgl. Politik und Wirtschaft, 1/1986, Nr. 11, S. 12 ff.
[6] Zum Vizepräsidenten wurde O. Stich gewählt (Amtl. Bull. NR, 1986, S. 2112). Departementsverteilung: Presse vom 20.12.86.
[7] Amtl. Bull. NR, 1986, S. 678 ff. und 1521; Amtl. Bull. StR, 1986, S. 510 ff. und 626 ; BBl, 1986, III, S. 372 f. Der BR hatte sich zu dieser Revision ebenfalls positiv ausgesprochen (BBl, 1986, II, S. 68 ff.). Vgl. auch SPJ, 1985, S. 19. Die Regierung des Kantons Jura sprach sich negativ zu einer 1984 eingereichten Volksinitiative für die Einreichung einer Standesinitiative zugunsten der Volkswahl des Bundesrates aus (FAN, 22.12.86; vgl. auch SPJ, 1984, S. 25).
[8] Amtl. Bull. NR, 1986, S. 477 ff. und 1476 ff. (Motion FDP). Der StR hatte 1985 eine gleichlautende Motion Masoni (fdp,T1) überwiesen (vgl. SPJ, 1985, S. 19). NR Pini (fdp, TI) ersetzte seine Motion für die Einstellung von zusätzlichen Staatssekretären durch ein entsprechendes Postulat (Verhandl. B. vers., 1986, III/IV, S. 83 und V, S. 90). Rebeaud : Verhandl. B. vers., 1986, V, S. 20. Der BR hatte im Sommer ein Modellpflichtenheft für die Departementssekretariate ausgearbeitet (NZZ, 6.9.86). Siehe auch D. Berchtold, «Zur Rolle der Stabsorganisation im Verwaltungswandel» in Verwaltung + Organisation, 40/1986, S. 77 ff.; F. Landgraf, «Etats-majors des départements», a.a.O., S. 84 f. ; Ch. Furrer, Bundesrat und Bundesverwaltung: ihre Organisation und Geschäftsführung nach dem Verwaltungsorganisationsgesetz, Bern 1986.
[9] Amtl. Bull. NR, 1986, S. 1281.
[10] BZ, 30.5.86; 4.6.86; 5.12.86; SPJ, 1985, S. 19f. Vgl. auch H. Däpp / F. Hänni / N. Ramseier (Hg.), Finanzaffäre im Staate Bern, Basel 1986. Zu den bernischen Wahlen siehe unten, Teil I, 1e (Bern). Parteispenden: Berner Presse vom 18.-30.12.86; WoZ, 51, 19.12.86.
[11] Solothurn : SZ, 25.4.86 ; 4.6.86 ; SPJ, 1985, S. 20. Obwalden : Amtl. Bull. NR, 1986, S. 247 f. ; TA, 27.3.86 ; 3.4.86; LNN, 4.3.86; NZZ, 11.6.86; vgl. unten, Teil I, Id (Ständerat und Obwalden). Zur Praxis der Gewährung von Steuervorteilen zwecks Anlockung ausländischer Steuerflüchtlinge siehe TA, 25.4.86.
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