Année politique Suisse 1988 : Bildung, Kultur und Medien / Kultur, Sprache, Kirchen
Kirchen
Die innerkirchlichen Auseinandersetzungen um politische und theologische Richtungen erreichten 1988 einen Höhepunkt an Heftigkeit. Zunehmend selbstbewusster und dank einer wachsenden Anhängerschar auch lautstarker traten insbesondere die fundamentalistischen protestantischen beziehungsweise die integristischen katholischen Kreise auf und drängten sozialreligiös und politisch engagierte Kirchenmitglieder in die Defensive. In religionswissenschaftlichen Erklärungsversuchen wird auf das höchst problematische Verhältnis zwischen Aufklärung und Christentum aufmerksam gemacht. Während die monotheistische Religion tendenziell einen autoritativ formulierten öffentlichen Wertekonsens herzustellen sucht – in dieser Hinsicht und mit ihrem Symbolsystem ist sie dem monarchischen Feudalstaat verwandt –, stützt sich die Aufklärung auf die Vernunft des einzelnen als Autoritätsprinzip. Diese Betonung der individuellen Autonomie, die demokratische Konsenssuche und die prekäre Erfahrungsbasis aller Religion führen tendenziell zu einer Individualisierung und Privatisierung der religiösen Wertvorstellungen, gleichzeitig aber auch zu einer diffus wahrgenommenen Orientierungslosigkeit und zur Sehnsucht nach festen, allgemein verbindlichen Regeln und nach einer sinnlichen Gewissheit der Präsenz eines Gottes. Tatsächlich besitzen denn auch die fundamentalistischen und integristischen Bekehrungsgemeinschaften – und ihnen ähnlich auch die synkretistischen neureligiösen Bewegungen – den Hang zu reaktionären Positionen nicht nur auf religiösem,sondern auch auf politischem Gebiet, was die Auseinandersetzung mit fortschrittlichen religiösen Kreisen verworren und aggressiv macht
[24].
Überaus heftige Auseinandersetzungen um den theologischen, vor allem aber auch den praktisch-seelsorgerischen Kurs fanden innerhalb der römisch-katholischen Kirche statt. Dass die Kirchenleitung mit ihrem autoritären traditionalistischen Impetus breite Protestaktionen seitens des lokalen Klerus und des Kirchenvolkes auslöste und gleichzeitig das Schisma des integristischen Erzbischofs M. Lefebvre nicht verhindern konnte, zeigt eindrücklich den erreichten Grad an Polarisierung.
Im
Bistum Chur entzündete sich der Streit anlässlich der
Wahl eines Weihbischofs mit Nachfolgerecht auf den Bischofssitz. Das Churer Domkapitel besitzt das Recht, aus einem Dreiervorschlag aus Rom den Bischof zu wählen. Dieses Wahlrecht wurde nun umgangen, indem der amtierende Bischof J. Vonderach mit einem eigenen Vorschlag in Rom um die Ernennung eines Koadjutors (Weihbischofs) nachsuchte. Der Papst ernannte darauf den von Vonderach favorisierten Liechtensteiner
W. Haas – der seinerseits eine streng konservative und somit romtreue Linie vertritt – und stattete ihn gleichzeitig mit dem Nachfolgerecht auf den Bischofssitz aus. Dies löste heftige Proteste des Domkapitels aus, welches zwar nicht das Recht der Weihbischofswahl besitzt, sein Recht der Bischofswahl aber durch die Gewährung des Nachfolgerechts verletzt sah; ausserdem sei der Geist und eine Bestimmung des II. Vatikanischen Konzils, welches die Berücksichtigung ortskirchlicher Gremien forderte, missachtet worden. Tausende von Protestbriefen trafen bei der bischöflichen Kurie ein, eine Mehrheit der Zürcher Priester, der Priesterrat des Bistums Chur und der Schweizerische Katholische Frauenbund forderten Haas' Verzicht auf die Weihe oder wenigstens auf das Nachfolgerecht; der Schwyzer Kantonsrat forderte die Regierung auf, Haas zum Rücktritt zu bewegen, da ein geltender Staatsvertrag zwischen dem Kanton und dem Vatikan verletzt worden sei (der Kanton hat Anrecht auf zwei Domherrensitze und besitzt somit ein indirektes Wahlrecht); verschiedene Kirchgemeinden drohten mit der Sistierung ihrer Bistumsbeiträge. Es waren allerdings weniger juristische Erwägungen, welche diesen Proteststurm auslösten, als vielmehr die Person des künftigen Bischofs, der mit seinen vorkonziliären Ansichten aneckt. Insbesondere sein Wunsch, Laien, darunter vor allem die Frauen, von der Mitwirkung bei der Heiligen Messe auszuschliessen, den kirchlichen Dogmen wieder vermehrt Nachachtung zu verschaffen und im Priesterseminar die integristische Lehre zu bevorzugen und die Laientheologinnen und -theologen von den künftigen Priestern abzusondern, wurde von der Kirchenbasis nicht verstanden. Haas berief sich auf seine Gehorsamspflicht gegenüber dem Papst. Seine Weihe wurde von Demonstrationen begleitet, und auch danach blieb der Widerstand ungebrochen, indem sich zahlreiche Pfarreien weigerten, den Neugeweihten für die Firmung zu empfangen. Als Stimme der fortschrittlichen und basiskirchlichen Bewegungen wurde eine neue Zeitschrift gegründet. Das eigenmächtige Vorgehen Roms löste auch Widerstände gegen die Neueinteilung der Bistümer, insbesondere gegen die Errichtung eines Bistums Zürich aus. Die Katholische Synode des Kantons Zürich hielt jedoch an ihrer diesbezüglichen Forderung fest, betonte aber ihren Wunsch nach einem Mitbestimmungsrecht bei der Bischofswahl
[25].
Der bereits 1976 vom kirchlichen Dienst suspendierte
Erzbischof M. Lefebvre wendet sich prinzipiell gegen Aufklärung, Demokratie und Modernismus, und da er sich damit auf dem einzig möglichen Weg der Wahrheit glaubt, löste er sogar ein Schisma (Kirchenspaltung) aus, als er trotz fehlender kurialer Erlaubnis vier Bischöfe zu seinen Nachfolgern weihte. Bereits im Winter hatte er mit der Ankündigung von zwei Klostergründungen im Wallis und am Genfersee signalisiert, dass sich seine integristische Glaubensgemeinschaft ausbreite. Die jährlich vorgenommenen Weihen von Priestern, die in seinem Seminar in Ecône ausgebildet werden, waren in der Vergangenheit von Rom noch stillschweigend toleriert worden, doch nützten jetzt auch intensive Kontakte mit der Kurie und die Warnungen des Papstes und der Schweizerischen Bischofskonferenz nichts mehr: Lefebvre zog sich samt den von ihm geweihten Bischöfen mit dem Weiheakt die automatische Exkommunikation zu. Ein Teil seiner Anhänger lehnte jedoch das Schisma ab und gründete eine eigene integristische Priesterbruderschaft. Der grosse Zustrom zur traditionalistischen Glaubensrichtung bewog in der Folge Bischof Mamie, in seinem Bistum Lausanne/Freiburg/Genf die lateinische Messe wieder zuzulassen
[26].
Auch die protestantische Kirche blieb dieses Jahr von Richtungskämpfen nicht verschont, sie betrafen jedoch eher politische als theologische Fragen, auch wenn alle Beteiligten jeweils die Bibel für sich als handlungsweisend reklamierten. Im Kanton Zürich machten 14 Kirchgemeinden von ihrem Recht Gebrauch, statt stiller Bestätigungswahlen geheime Wahlen abzuhalten. Die Gründe für den Unmut gegen die Pfarrer waren mannigfaltig, wurde ihnen doch nicht nur unzulässiges politisches Engagement vorgeworfen, sondern bisweilen einfach Unfähigkeit oder aber die Zugehörigkeit zu einer fundamentalistischen Glaubensrichtung. Drei Pfarrer wurden abgewählt. Am meisten Aufsehen erweckte die Abwahl von P. Walls, der im Jahre 1985 52 abgewiesenen chilenischen Flüchtlingen in seiner Kirche Asyl gewährt hatte, um sie vor der drohenden Ausschaffung zu schützen. Späte Unterstützung wurde Walls durch eine Arbeitsgruppe des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) zuteil, die in einem Bericht zur Auffassung gelangte, dass Widerstand gegen staatliche Anordnungen darin erlaubt sei, wenn alle demokratischen Möglichkeiten ausgeschöpft seien
[27].
Zu einer Demonstration und zu Protestschreiben der Gemeindebehörden und des örtlichen Kirchenrates führte die Amtsenthebung eines Priesters im Wallis. Gemäss Bischof H. Schwery hatte sich der Priester von einigen Dogmen der katholischen Kirche entfernt und sich dafür eher protestantisch-fundamentalistischen Positionen angenähert, weshalb er ihn als Häretiker aus der Kirche entfernte
[28].
Die
Stellung der Frau in der Kirche war insbesondere bei den Katholiken ein polarisierendes Thema. Während sich die traditionalistische Kirchenleitung für eine Ausgrenzung der Laien von allen priesterlichen Funktionen einsetzt, ist die Kirchenbasis eher in Sorge um den akuten Priestermangel und sucht deshalb auch die Laien in den kirchlichen Dienst zu integrieren. Die Katholische Synode des Kantons Aargau empfahl gegen den Priestermangel sogar die Aufhebung des Zölibats für Priester und die Zulassung der Frauen zur Diakonenweihe, welche bestimmte liturgische Aufgaben zu übernehmen erlaubt. Der Schweizerische Katholische Frauenbund sammelte 11 000 Unterschriften unter einen Brief an den Papst, der die Enttäuschung der Frauen über den für sie nachteiligen Ausgang der Bischofssynode des vergangenen Jahres ausdrückte. Der Papst wandte sich in einem Apostolischen Schreiben zwar gegen die Diskriminierung der Frauen, sprach sich jedoch erneut gegen deren Zulassung zum Priesteramt aus. Die Abgeordnetenversammlung des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes entschied sich hingegen, bei künftigen Wahlen zur besseren Integration der Frauen und der Jugend eine Frauenquote von 50% und eine Jugendlichenquote von 20% in allen ihren Gremien einzuhalten
[29].
Fragen der
Sexualmoral und speziell des kirchlichen Umgangs mit der Homosexualität wurden mit wenig Sinn für Kompromisse angegangen. Die Schweizerische Bischofskonferenz entliess den kirchlichen Medienbeauftragten P. Jeannerat unter anderem wegen dessen Beteiligung an einer Fernsehsendung über die Homosexualität, und die Delegiertenversammlung der katholischen Kirchgemeinde Zürich kürzte der renommierten Paulus-Akademie das Budget, da diese Tagungen zum selben Thema durchgeführt hatte. Das Thema der Sexualität berührte auch die Verfilmung eines älteren griechischen Romans, in welchem Jesus zu seiner Todesstunde von einem bürgerlichen Leben halluziniert. Der Film "Die letzte Versuchung Christi" von M. Scorsese stellt dar, dass der erträumten mehrfachen Vaterschaft Sexualkontakte vorausgegangen wären, eine Vorstellung, die als Sakrileg empfunden wurde und zu Demonstrationen vor Kinos und zu einer Interpellation im Ständerat führte. Im Kanton Wallis wurde die Aufführung des Films untersagt
[30].
[24] Vgl. Kursbuch, Nr. 93, 1988 zum Thema "Glauben"; F. Stolz, "Fundamentalisten, Evangelikale, Enthusiasten – Formen kommender Religiosität?", in M. Dahinden (Hg.), Neue soziale Bewegungen – und ihre gesellschaftlichen Wirkungen, Zürich 1987, S. 127 ff.; vgl. auch Lit. Stolz, Rothschild und Olvedi.
[25] Ernennung Haas': Presse vom 8.4.88. Proteste dagegen: allgemein: NZZ, 12.4. und 5.5.88; BüZ, 19.4., 26.4. und 4.5.88; TA, 20.4., 22.4. und 3.5.88; Domkapitel: Presse vom 11.5. und 13.5.88; Priesterrat: BüZ, 26.8.88; Kt. Schwyz: Vat. und LNN, 16.4.88; Val., 20.5., Presse vom 21.5.88; Vat., 28.9., 25.10. und 15.11.88; Verweigerung der Bistumsbeiträge: Vat., 13.6., 22.6. und 30.11.88; LNN, 14.6.88; TA, 25.6.88; Weihe: Presse vom 24.5.88; Verweigerung der Firmung: LNN, 25.5.88; Vat., 27.5.88; BüZ, 10.12.88; Bistum Zürich: NZZ, 18.5.88; Ww, 7.7.88; Stellungnahmen von Haas: Vat. und TA, 19.5.88; Vat., 5.9.88; TA, 21.1 1.88. Die neue Zeitschrift heisst Aufbruch – Forum für eine offene Kirche, vgl. dazu TA, 29.11.88; SZ, 3.12.88. Hintergründe und Zusammenfassungen der Affäre Haas: Ww, 5.5. und 22.12.88; TA, 21.11.88. Vgl. auch Lit. Engel und Herold.
[26] Klostergündungen: Ww, 21.1.88; NZZ, 29.2.88. Verhandlungen mit Rom: Suisse, 5.2. und 22.5.88; NF und 24 Heures, 9.4.88; BZ, 3.6.88; Presse vom 17.6.88. Weihe: Presse vom 1.7.88. Massnahmen Mamies: Suisse, 16.7.88; Vat., 18.7.88. Neue Priesterbruderschaft: NZZ, 25.7., 30.7. und 3.8.88. Vgl. auch Stellungnahmen der Theologen L. Kaufmann (Ww, 23.6.88 und TW, 4.7.88) und H. Küng (TA, 29.6.88). Zur Ausbreitung der integristischen Vereinigung "Comunione e liberazione" im Tessin vgl. NZZ, 19.2.88; SGT, 19.3.88. Vgl. auch SPJ 1987, S. 230.
[27] Vr., 23.2.88; TA, 24.2.88; NZZ, 27.2.88; Vr., TA und NZZ, 7.3.88; TA, 4.8.88. SEK: Lit Saladin und Presse vom 23.8.88; dazu eine Entgegnung von Alt-Bundesrat R. Friedrich in NZZ, 23.9.88. Zur juristischen Sicht vgl. auch Lit. Robbers. Im Lit. auch weiteres zum Verhältnis zwischen Kirche und Politik.
[28] TA, 25.10.88; Ww, 3.11.88.
[29] Aargauer Synode: AT, 3.1 1.88. SKF: Bund, 2.2.88; TA und Vat., 30.3.88. Papst: Vat., 1.10.88; Ww, 6.10.88. Zur Stellung der Frauen im Katholizismus vgl. auch NZZ, 1.10.88. SEK: NZZ, 27.9.88; SZ, 1.10.88. Zur feministischen Theologie und ihrem Verhältnis zur Politik vgl. Lit.
[30] Jeannerat: Vat., 14.1.88; SZ, 23.1.88; BaZ, 25.1.88; NZZ, 26.1.88. Paulus-Akademie: TA, 24.12.88; vgl. dazu auch allgemein: BaZ, 2.2.88. Film: Ww, 22.9. und 6.10.88; JdG und Vat., 24.9.88; Suisse, 24.12.88; Interpellation Schönenberger (cvp, SG): Amtl. Bull. SIR, 1988, S. 771 f.; TA, 30.11.88; Ww, 8.12.88. Beispielhaft für den kirchlichen Umgang mit der Frage der Sexualmoral ist die umfangreiche Untersuchung zum "Fall Pförtner" von L. Kaufmann; vgl. Lit.
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