Année politique Suisse 1990 : Parteien, Verbände und Interessengruppen / Parteien
Grüne und links-grüne Gruppierungen
Die beiden nationalen grünen Gruppierungen, die Grüne Partei der Schweiz (GPS) und das Grüne Bündnis Schweiz (GBS) klärten das Terrain für die Aufnahme von
Fusionsverhandlungen ab. Nachdem im Dezember 1989 der GPS-Ausschuss auf einen Fusionswunsch des GBS eingegangen war, präsentierte das Grüne Bündnis die Rahmenbedingungen, unter denen es sich eine Fusion vorstellen könnte. Formelle Kriterien wie z.B. ein neuer Name der fusionierten Gruppen sowie inhaltliche Problemkreise — die Verteidigungs- und Sozialpolitik, die Frauenfrage und die Frage nach dem Stellenwert der Parlamentsarbeit — sollten gemeinsam diskutiert werden. Allerdings liessen aber bald darauf beide Parteien verlauten, die Basis für eine Fusion sei zur Zeit nicht vorhanden. Innerhalb des Grünen Bündnisses äusserten vor allem die Sozialistisch-Grüne Alternative Zug (SGA) und die Winterthurer Opposition (WOP) Zweifel an Sinn und Machbarkeit einer Fusion
[45].
An der Delegiertenversammlung in Lenzburg nahm die GPS das
Grüne Bündnis Luzern definitiv auf. Ausserdem erhielten die "Grünen Solothurn" und das von der Kantonalsektion abgespaltene "Movimento dei Verdi Ticinesi (MVT)" den Beobachterstatus; diesen hatte auch die Gruppierung "Grüne Baselland", hervorgegangen aus der POCH, im April an der Delegiertenversammlung in Bern erhalten
[46].
Der
Tessiner Sektion "Movimento ecologista ticinese (MET)" wurde mit dem Ausschluss aus der GPS gedroht, falls sie weiterhin mit der im letzten Jahr gegründeten Bewegung "Svolta ecopolitica (SVEPO)", bei welcher der ehemalige NA-Nationalrat Oehen eine wichtige Rolle spielt, zusammenarbeite. Nach der Konstituierung der MVT ist die SVEPO die zweite Abspaltung, welche aus dem MET hervorging
[47]
.
In
Baselstadt scheiterten Fusionsverhandlungen zwischen der GP Baselstadt — ihrerseits schon das Produkt einer Fusion mit der radikalen "Grünen Alternative Basel (GAB)" — und der grün-liberalen Gruppierung "Grüne Mitte (GM)" vorerst. Letztere bildet im Grossen Rat eine Fraktionsgemeinschaft mit dem LdU. Die GPS hatte eine Aufnahme der beiden grünen Organisationen an die Bedingung einer Fusion geknüpft...Dabei spielte für die GPS-Leitung die Uberlegung eine Rolle, den Platz für eine zweite Partei in Basel für die "Progressiven Organisationen Basel-Stadt (POB)", welche ebenfalls Gespräche mit der GPS suchten, freizuhalten
[48].
Die GPS umfasste am Ende des Jahres folgende
Kantonalparteien: Grüne Aargau, Freie Liste Bern, Grüne Partei Bern, Grüne Partei Baselland, Parti écologiste fribourgeois, Parti écologiste genevois, Glarner Umweltgruppen (GUG), Grünes Bündnis Luzern, Ecologie et Liberté (NE), Kritisches Forum Schwyz, Grüne Partei des Kantons Thurgau, Movimento Ecologista Ticinese, Groupement pour la protection de l'environnement GPE (VD), Grüne Partei des Kantons Zürich. Diese vierzehn Parteien zählen insgesamt über 5000 Mitglieder. Den Beobachterstatus bei der GPS hatten folgende Gruppierungen: Grüne Baselland, Grüne Partei Baselstadt (GP/GAB), Grüne Mitte (BS), Die Grünen Basel-Stadt, Grünes Bündnis des Kantons St. Gallen, Grüne Kanton Solothurn, Movimento dei Verdi Ticinesi, Parti écologiste valaisan/Walliser Grüne Partei
[49]
.
An der Delegiertenversammlung in Lenzburg (AG) wurde Nationalrätin Irène Gardiol (VD) als Nachfolgerin von Peter Schmid (TG) zur
Parteipräsidentin gewählt. Gardiol hatte vorher die Fédération romande des consommatrices (FRC) präsidiert und war anfangs Jahr für den in die Lausanner Stadtregierung gewählten Brélaz in den Nationalrat nachgerückt. Sowohl Partei- als auch Fraktionspräsidium (Rosmarie Bär, BE) befinden sich damit in weiblichen Händen
[50].
In der Sachpolitik setzte die GPS im Berichtsjahr mit ihrer Forderung nach einem
staatlich garantierten Mindesteinkommen (GME) einen Akzent. Gemäss dem Thesenpapier der GPS soll dieses seit einiger Zeit von neoliberalen Ökonomen vertretene Modell die bestehenden Sozialwerke teilweise ersetzen und vor allem jenen zugute kommen, die keine Lohnarbeit verrichten oder wegen reduzierter Erwerbstätigkeit (z.B. infolge von Erziehungsaufgaben) das Existenzminimum nicht erreichen. Das Mindesteinkommen soll nicht mehr über Lohnprozente, sondern über eine Besteuerung der gesamten Wirtschaftskraft finanziert werden. Zudem sollte das Obligatorium der beruflichen Vorsorge (BVG) abgeschafft und die AHV gestärkt werden
[51].
Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Stellungnahme zur Rolle der Schweiz im
europäischen Integrationsprozess. An der Delegiertenversammlung in Bern wurde in der Diskussion mehrheitlich gegen die als umweltschutzfeindlich und zentralistisch kritisierte Politik der EG votiert, ohne dass dazu allerdings ein formeller Beschluss gefasst wurde. In einer Resolution sprachen sich die Delegierten für ein Europa der Regionen als implizites Gegenmodell zur EG aus. Darin müssten die kulturelle Vielfalt, die Selbstbestimmung und die demokratischen Rechte erhalten und gefördert werden. Dabei sei das Prinzip der internationalen Solidarität zwischen der weltweiten Völkergemeinschaft zu achten und ein weitsichtiges Handeln anzustreben, welches nicht auf kurzfristige wirtschaftliche Vorteile ausgerichtet ist
[52].
Die GPS empfahl die Ja-Parolen zu den Strassenbauinitiativen und zu allen Energievorlagen; die Revision des Strassenverkehrsgesetzes, der Rebbaubeschluss und die Revision der Bundesrechtspflege lehnte sie hingegen ab
[53].
Bei allen kantonalen und kommunalen Wahlen, zu denen sie antrat, konnte die GPS kräftig Sitze zulegen, ausser in Bern, wo sie sitzmässig stagnierte, jedoch Wähleranteile gewann
[54]..
Innerhalb des Grünen Bündnisses wurden die Bestrebungen in Richtung einer Fusion mit der GPS stärker spürbar, da die
Absetzbewegungen der Sektionen von St. Gallen, Luzern und Baselland, die den Beobachterstatus bei der GPS erworben haben resp. als Mitglied aufgenommen worden sind, Substanz kosteten. Das GBS zeigte auch Bereitschaft, im Falle eines Scheiterns der Fusion im Rahmen einer "grünen Koordination" regelmässig mit der GPS zusammenzukommen, um Themen und Aktivitäten zu besprechen
[55].
Im Gegensatz zu diesem Trend wurde im Kanton
Aargau der Versuch gemacht, unabhängig von der Kantonalsektion der GPS, Grüne Aargau, einen dem Grünen Bündnis nahestehenden Zusammenschluss zu schaffen. Sieben grüne und alternative Gruppierungen (Grüne Brugg, grüne Listen Zurzach und Baden, Wettigrün, Eichlebutzer Würenlingen, SAP und Ofra) gründeten die Grüne Liste als kantonale Koordination neu; eine solche war schon 1987 im Hinblick auf die Nationalratswahlen gebildet worden
[56].
Auf Parlamentsebene trat die einzige Nationalrätin des Grünen Bündnisses, Susanne Leutenegger Oberholzer (BL) in die Fraktion der Grünen Partei ein
[57].
Die Parolen zu den eidgenössischen Abstimmungen deckten sich mit denjenigen der GPS
[58]
.
Die SAP ist im Berichtsjahr praktisch nur noch als Gruppierung innerhalb der Organisationen, welche zum Grünen Bündnis gehören, aktiv gewesen. Die Sektion Zürich hat sich als Partei aufgelöst, wird aber unter der Bezeichnung "Bresche Forum Zürich" als organisierte Strömung weiterexistieren
[59].
Der Auflösungsprozess der POCH ging auch im Berichtsjahr weiter. Die POCH-Sektion
Bern schloss sich mit der Grünen Partei/Demokratische Alternative (GP/DA) zur Grünen Partei Bern zusammen, nachdem sie schon bei den Grossratswahlen im Frühling eine gemeinsame Liste aufgestellt hatten. Die neue Partei ist wie die alte GP/DA-Formation eine Kantonalpartei der GPS
[60]. In
Zürich hat sich die POCH im August aufgelöst; ihre zwei Abgeordneten im Stadtparlament hatten sich im Frühjahr bereits auf der "Alternativen Liste/Züri 90" und nicht mehr auf einer eigenen Liste wählen lassen. Ein Teil der Parteimitglieder bekundete die Absicht, früher oder später in die GPS einzutreten. Der Zürcher POCH-Nationalrat Herczog wurde gegen Jahresende in die SP-Fraktion aufgenommen
[61].
Damit ist die
POCH Basel (POB), welche zwölf Grossräte stellt, die einzige noch funktionierende Sektion. Doch auch sie suchte Gespräche mit der GPS über eine nähere Zusammenarbeit. Ein Hintergedanke dieser Bestrebungen mag darin gelegen haben, ihrem Nationalrat Baerlocher (BS) den Eintritt in die GPS-Fraktion zu erleichtern, welcher von dieser vorerst abgelehnt worden war
[62]
.
[45] BaZ, 5.3.90. Kritik der SGA Zug in WoZ, 11.4.90; Kritik der WOP in Vr, 20.4.90. Zur Geschichte und Einschätzung der GP siehe W. Seitz, "Die Basis ist kritischer als die Führung", in WoZ, 20.4.90 sowie Lit. Hug, Kreuzer und Ladner. Vgl. auch SPJ 1989, S. 320.
[46] TA, 23.4.90 (DV in Bern); Presse vom 27. und 29.10.90 (DV in Lenzburg). Baselland verfügt bereits über eine Kantonalsektion der GP. Zum GB Luzern siehe auch LNN, 18.10. und 19.10.90.
[47] CdT, 9.10 und 10.1.90; Bund, 16.1.90; TA, 5.4.90 (Abspaltung). Presse vom 29.10.90 (Ausschlussdrohung an DV in Lenzburg).
[48] LNN, 14.7. und 25.10.90.
[49] GPS, Who is who, Dezember 1990. Zu den Grünen Baselland siehe BaZ, 15.1., 19.1. und 17.3.90.
[50] Presse vom 29.10.90; L'Hebdo, 1.11.90; BZ, 5.11.90 (Interview mit Gardiol).
[51] Vgl. oben, Teil I, 7c (Grundsatzfragen) sowie Presse vom 17.1.90; TW, 18.1.90.
[53] TA, 23.4.90; SGT, 10.9.90.
[54] Vgl. oben Teil I, 1e.
[55] Grüne Tribüne, 1990, Nr. I.
[56] BaZ, 26.3.90; AT, 29.3.90; WoZ, 30.3.90.
[57] BaZ, 27.3.90. Sie figuriert im Amtlichen Bulletin der Bundesversammlung der Sommersession erstmals unter der GP-Fraktion.
[58] NZZ, 12.1.90; TW, 6.9.90.
[60] Bund, 6.2. und 26.11.90; BZ, 26.11.90. Vgl. auch das Interview mit B. Schneider in TW, 20.8.90.
[61] WoZ, 17. und 31.8.90; TA, 27.8.90; BZ, 1.10.90. Herczog figuriert im Amtlichen Bulletin der Bundesversammlung der Wintersession erstmals unter der Fraktionszugehörigkeit der SP.
[62] WoZ, 15.6.90; LNN, 14.7.90; BaZ, 22.9.90.
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