Année politique Suisse 1990 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Stimm- und Wahlrecht
Die Männer
Appenzell-Innerrhodens lehnten an der Landsgemeinde vom 29. April die von Regierung und Parlament empfohlene Einführung des kantonalen
Frauenstimm- und wahlrechts nach 1973 und 1982 zum dritten Mal deutlich ab. Als Reaktion darauf erhoben Appenzeller Bürgerinnen und Bürger beim, Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde. Im weitem reichten sie eine Volksinitiative für die politische Gleichberechtigung ein; die Regierung kündigte im Herbst an, dass sie das Begehren mit einer zustimmenden Empfehlung an der Landsgemeinde vom nächsten Frühjahr zur Abstimmung bringen werde
[14].
Der negative Entscheid der Landsgemeinde führte auch zu parlamentarischen
Vorstössen auf Bundesebene. Mit Motionen forderten die Fraktionen der CVP und der GP sowie die Freisinnige Nabholz (ZH) Verfassungsänderungen, welche die politische Gleichberechtigung auch für die Kantone zwingend vorschreiben. Der Bundesrat beantragte anfangs Oktober, die Motionen bloss in Postulatsform zu überweisen, da nach dem Bundesgerichtsurteil über die erwähnten staatsrechtlichen Beschwerden auf eine aufwendige Verfassungsänderung eventuell verzichtet werden könne. Falls das Urteil negativ ausfalle und auch die Landsgemeinde die Einführung des kantonalen Frauenstimmrechts 1991 nochmals ablehne, werde er unverzüglich die geforderte Verfassungsrevision einleiten
[15].
Das
Bundesgericht befasste sich am 27. November mit den Beschwerden und kam einstimmig zum Entscheid, dass der Kanton Appenzell-Innerrhoden den Frauen
ab sofort das vollumfängliche aktive und passive Stimm- und Wahlrecht zugestehen muss. Das Richterkollegium begründete sein Urteil mit dem Gleichberechtigungsartikel der Bundesverfassung (Art. 4.2 BV). Dieser sei direkt anwendbar und den Bestimmungen von Art. 74.4 BV über die kantonale Regelung des Wahlrechts übergeordnet
[16].
Das Parlament machte mit seinem im Vorjahr abgegebenen Versprechen ernst, das Volk im Jahr der Zentenarfeier über die
Senkung des Stimm- und Wahlrechtsalters auf 18 Jahre abstimmen zu lassen. Im Januarlegte eine Nationalratskommission ihren Bericht und Antrag vor, und bereits in der Frühjahrssession stimmte die grosse Kammer ohne Gegenstimmen der Verfassungsänderung zu. Der Ständerat schloss sich in der Herbstsession ebenfalls einstimmig diesem Entscheid an
[17].. Nachdem im Berichtsjahr auch Schaffhausen, Tessin und Zürich in Volksabstimmungen der Senkung des kantonalen Stimmrechtsalters auf 18 Jahre zugestimmt haben, gilt diese Regelung in mehr als der Hälfte der Kantone
[18].
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund startete im August eine Kampagne für die Verbesserung der politischen Rechte der Ausländer. In Baselstadt lancierte die SP zusammen mit anderen Organisationen am 1. Mai eine Volksinitiative für die Einführung des kantonalen
Stimm- und Wahlrechts für Ausländer und Ausländerinnen, die seit acht Jahren in der Schweiz wohnen. In Zürich legte nach langen Abklärungen und internen Diskussionen ein aus den Gewerkschaften, der SP, der GP und dem LdU sowie Einzelpersonen aus EVP und CVP gebildetes Komitee den Text einer kantonalen Volksinitiative für die fakultative Einführung des kommunalen Ausländerstimmrechts vor. Im Kanton Genf wurden gleich zwei Volksinitiativen lanciert: eine, in welcher sowohl das aktive als auch das passive Wahlrecht gefordert wird, und eine zweite von Gewerkschaftsseite, welche vorerst nur das aktive Wahlrecht einführen möchte
[19]. Im Kanton Neuenburg, wo niedergelassene Ausländer seit mehr als hundert Jahren über das aktive Stimm- und Wahlrecht auf Gemeindeebene verfügen, lehnten die Stimmberechtigten die von den SD mit dem Referendum bekämpfte Einführung der Wählbarkeit von Ausländern in kommunale Legislativen mit rund 56% Nein-Stimmen ab
[20].
Den vom Bundesrat beantragten Ausbau der politischen Rechte für schweizerische Staatsangehörige im Ausland behandeln wir an anderer Stelle
[21]..
[14] Presse vom 30.4.90 (Landsgemeinde); SGT, 14.5. und 8.6.90 (Initiative); TA, 12.11.90 (Regierung); vgl. SPJ 1989, S. 21.
[15] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2424 ff. (der NR überwies die Motionen in der Wintersession diskussionslos als Postulate).
[16] Presse vom 28.11.90; NZZ, 26.2.91 (Details zur Urteilsbegründung).
[17] BB1, 1990, 1, S. 1167 ff.; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 279 ff. und 1966; Amtl. Bull. StR, 1990, S. 651 f. und 858; BBI, 1990, III, S. 557. Vgl. SPJ 1989, S. 21. Eine Ende 1989 eingereichte Standesinitiative des Kantons Jura konnte als erledigt abgeschrieben werden.
[18] Siehe unten, Teil II, l b und
24 Heures, 19.9.90. Für einen Vergleich der Wahlrechtsalter in Europa siehe die befürwortende Stellungnahme des Bundesrates in
BBI, 1990, I, S. 1545 ff.
[19] SGB:
NZZ, 15.8.90; siehe auch
Lit. Marquis. Basel:
TA, 15.8.90. Zürich:
Vr, 6.7., 9.7. und 10.7.90. Genf:
JdG, 6.2., 25.8. und 5.9.90. Vgl. auch
SPJ 1988, S. 25 und 1989, S. 21 sowie
BaZ, 13.2.90; TA, 15.8.90;
TW, 15.9.90.
[20] Express, 7.4., 10.5., 15.9. und 24.9.90.
[21] Siehe unten, Teil 1, 2 (Suisses de l'étranger).
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